Efeu - Die Kulturrundschau

Kraft für zwei

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12.12.2015. Im Standard gibt Peter Stein Leos Janáceks Heldin Emilia Marty den dringend benötigten Schuss. Die Welt druckt eine Erzählung von Amos Oz. Die FAZ hört und sieht eine von Daniil Trifonov verursachte Rachmaninow-Explosion. Ist der politische Aktivismus im Theater nur eitle Pose oder Marketing? Auf diese Frage antworten Michael Thalheimer im Freitag und Reinhard J. Brembeck in der SZ. Außerdem feiert die SZ den Erfolg von Frauen im Kunstbetrieb. Die Welt wünschte, sie würden jetzt auch noch gleichwertig bezahlt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2015 finden Sie hier

Bühne


("Die Sache Makropulos", Bild: Wiener Staatsoper)

Im Interview mit dem Standard spricht Peter Stein über seine Inszenierung von Leos Janáceks Oper "Sache Makropulos", die am Sonntag an der Staatsoper Wien Premiere hat. Janácek, sagt er, konzentrierte sich hier ganz "auf das Thema des Todes: dass eine Figur, die hunderte Jahre lebt, am Ende sagt: Das war ein großer Fehler. Dem Publikum wird gesagt, sie sollen glücklich sein, dass sie sterben dürfen - nicht müssen, sondern dürfen. Das ist natürlich auf die Spitze getrieben. Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, dass ständig Momente kommen, in denen die Figur der Emilia Marty drauf und dran ist zusammenzubrechen. Sie braucht dringend einen Schuss, der sie weitere 300 Jahre leben lässt, sonst ist sie tot. Das versuche ich so deutlich zu machen, wie es geht."

Im Interview mit dem Freitag bekräftigt Regisseur Michael Thalheimer seine Ablehnung des angesagten politischen Aktivismus im Theater: "Was aber komplett vergessen wird: Es handelt sich um ein Theater. Diese Kollegen biedern sich einerseits dem Zeitgeist an und ignorieren andererseits die Aufgaben des Theaters. Dahinter verbirgt sich eine große Lüge. Es wird niemandem geholfen, es wird nur so getan. Und Theater verliebt sich dann in diese sozialen Projekte, die nichts anderes sind als eitle Pose."

Womit er in Reinhard J. Brembeck vielleicht einen Fürsprecher findet. Der hält die, wie aktuell im Fall Hermanis zu beobachten, Fokussierung auf die politische Haltung von Künstlern für ein Niedergangssymptom, wie er im SZ-Kommentar schreibt: "In den letzten Jahrzehnten sind die Ansichten von Künstlern zunehmend zum Inhalt ihres Marketings geworden, weil ästhetische Fragen zunehmend verpönt sind. ... Bei Gergiev und Hermanis bleibt Meinung nichts als Meinung, die so fragwürdig oder erhellend ist wie die anderer Menschen auch."

Weitere Artikel: Da zahlt man hunderte von Euro für eine Karte in Bayreuth, und dann sitzt man da und schwitzt wie ein Schwein. Lucas Wiegelmann studiert für die Welt eine Studie, die die Temperaturen im Festspielhaus überprüft hat: "Die jeweilige Höchsttemperatur, die meist am Ende eines Abends im Festspielhaus erreicht wurde, variierte im Laufe der Saison von 26 bis etwas mehr als 30 Grad." Im Interview mit dem Standard erklärt Cornelius Meister, Chefdirigent des RSO Wien, was ihn an Benjamin Britten so begeistert, dessen "Peter Grimes" er gerade am Theater an der Wien produziert.

Besprochen werden Barrie Koskys Inszenierung von Prokofjews "Der feurige Engel" in München (Tagesspiegel), Ueli Jäggis Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" am Luzerner Theater (NZZ), eine Performance von Ivan Blagajčević im Tanzhaus Zürich (NZZ), Mette Ingvartsens am Berliner Hebbel am Ufer gezeigte Choreografie "7 Pleasures" (Tagesspiegel, mehr dazu hier) und Christian Stückls Inszenierung von Dostojewskis "Schuld und Sühne" am Münchner Volkstheater (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

FAZ-Musikkritikerin Eleonore Büning hat das Nobelpreiskonzert in Stockholm sichtlich genossen. Insbesondere bei Daniil Trifonovs Darbietung als Rachmaninow-Solist gab es dramatische Szenen zu beobachten: "Eine hoffmanneske Gespenstererscheinung! ... Trifonov ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt, er hat Kraft für zwei. Er explodiert in die Tastatur hinein, kämpft, wütet und setzt alle, die mit ihm spielen, agogisch unter Strom. Taucht keineswegs ordentlich collaparte mit den anderen Musikinstrumenten ein in die Dialoge, will gebeten, überredet, verfolgt und gezwungen werden. Man sieht dem Rücken von [Dirigent] Welser-Möst an, wie groß die Anspannung ist. Ja, ein- oder zweimal wird das Energiefeld, das die beiden umgibt, funkensprühend sichtbar."

Bei Chopins Etuden kann man sich auch ein schönes Hörbild dieser Kunst machen!



Taylor Swift hat im Laufe ihrer Konzerttour immer wieder prominente Musikerinnen und Models zu sich auf die Bühne geholt, sogenannte "Girl squads". Dafür muss sie sich jetzt im Hollywood Reporter von Camille Paglia als "Nazi Barbie" beschimpfen lassen: "Girl squads ought to be about mentoring, exchanging advice and experience and launching exciting and innovative joint projects. Women need to study the immensely productive dynamic of male bonding in history. With their results-oriented teamwork, men largely have escaped the sexual jealousy, emotionalism and spiteful turf wars that sometimes dog women." Seufz.
 
Weitere Artikel: In seinem Blog gibt der Popkritiker Simon Reynolds hauntologische Musiktipps zum Jahresausklang. Zum 100. Geburtstag von Frank Sinatra schreiben Jenni Zylka (taz), Claus Lochbihler (NZZ), Samir H. Köck (Presse) und Andreas Platthaus (FAZ).

Besprochen werden ein Konzert im Wiener Musikverein zum 50. Geburtstag des Ensembles Kontrapunkte (Standard), Archy Marshalls "A New Place 2 Drown" (Pitchfork), die Diskografie der Krautrock-Pioniere Harmonia (Pitchfork), die CD-Edition "Complete Recitals 1952-1974" von Elisabeth Schwarzkopf (SZ) und diverse neue Popveröffentlichungen, darunter eine Wiederveröffentlichung des Impro-Experimentalalbums "Polish Night Music" von Marek Zebrowski und David Lynch (ZeitOnline). Daraus hier eine Hörprobe:

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Kunst

In ihrem Rückblick auf das Ausstellungsjahr 2015 staunt Catrin Lorch in der SZ darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit flächendeckend Künstlerinnen ausgestellt und wiederentdeckt wurden: "In diesem Jahr ist etwas unübersehbar geworden im Ausstellungsbetrieb: die Frauen. Die notorische Ignoranz, mit der die Kunst den Künstlerinnen begegnete, muss man womöglich als historisch erledigt betrachten. Hat also die feministische Kunstgeschichte gewonnen? ... Berufungskommissionen an den Kunstakademien tarieren den Frauenanteil genauso aus wie Jurys, die über Ankäufe entscheiden, über Stipendien, Fördermittel, Kunst-am-Bau. Die Frage, ob die Quote funktioniert, ist vor allem in Deutschland und England schwer zu stellen: Es gibt keine. Aber sie funktioniert."

Hm, nur halb. In der Welt legt Peter Dittmar mit vielen Beispielen dar, wie viel niedrigere Preise Werke von Frauen immer noch erzielen.

Weitere Artikel: Für das Freitext-Blog auf ZeitOnline hat sich Thomas von Steinaecker mit Martina Abramovic über deren Performancekunst unterhalten. Der Kunsthistoriker Tristan Weddigen würdigt in der NZZ mit Heinrich Wölfflins vor 100 Jahren erschienenen "Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen" eines der einflussreichsten Werken der Kunstgeschichte.

Besprochen werden eine Ausstellung über Ernst Ludwig Kirchners fotografisches Werk im Kirchner Museum in Davos (Welt), der Fotoband "Ukraine Series" von Johanna Diehl (taz), die Ausstellung "Bart - zwischen Natur und Rasur" im Neuen Museum in Berlin (Berliner Zeitung) und der Fotoband "Das Leben der Mächtigen" von Zora del Buono (FR).
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Literatur

Trotz der Steine, die ihm der Erbe Peter Fabjan in den Weg legte, ist Manfred Mittermayer eine beachtliche Thomas-Bernhard-Biografie gelungen, lobt Karl Markus Gauß in der NZZ. "Mittermayer schafft es leichthin, eine wissenschaftlich fundierte Studie zu verfassen, die nirgendwo mit Fachjargon einzuschüchtern versucht; er bringt es zuwege, das Selbstbild des Autors mit den überprüfbaren Fakten in eine erhellende, oft unerwartete, manchmal geradezu komische Beziehung zu setzen".

Bei der Lektüre von Tilmann Lahmes großem Buch über die Familie Mann fasziniert Dirk Knipphals mit Blick auf die Kinder Thomas Manns besonders eine Erkenntnis, wie er im taz-Essay schreibt: "Dass es eine große gesellschaftliche Errungenschaft darstellt, das Kinderkriegen von Normalität und Pflichterfüllung auf Selbstverwirklichung umzustellen", wofür Lahmes Darstellung "vielfältiges Anschauungsmaterial" bereit halte.

Reichlich Lesestoff gibt's in der Literarischen Welt: eine Erzählung von Amos Oz, die Dankrede von Clemens J. Setz zum Wilhelm-Raabe-Preis und eine Suada des österreichischen Autors Manfred Rebhandl, der droht, wieder mit dem Saufen anzufangen. Außerdem hat die Zeit Ijoma Mangolds Gespräch mit Karl Ove Knausgard aus der letzten Oktoberausgabe online nachgereicht. Sandra Kegel porträtiert in der FAZ die Autorin Petra Reski. Außerdem jetzt neu bei Hundertvierzehn: Die neue Folge von Thomas von Steinaeckers und Barbara Yelins Webcomic "Der Sommer ihres Lebens".

Besprochen werden der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman "Boussole" von Mathias Énard (Presse), Bov Bjergs "Auerhaus" (taz), Boris Sawinkows "Das fahle Pferd" (Jungle World), die Neuübersetzung von Evelyn Waughs "Tod in Hollywood" (SZ), Andrea Sawatzkis Psychothriller "Der Blick fremder Augen" (taz) und Peter Handkes "Tage und Werke" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben in unserem fortlaufend aktualisierten Metablog Lit21.
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Architektur

Für die taz durchstreifen Anna Bordel und Anna Maria Graefe die brachliegenden Kasernen und Wohnhäuser der abgezogenen Alliierten in Berlin. Laurent Stalder, Professor für Architekturtheorie in Zürich, blickt in der NZZ zurück auf die Schweizer Architektur seit den 70er Jahren.
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Film

Jacques Audiards Flüchtlingsfilm "Dämonen und Wunder" wurde vor den Attentaten in Paris gedreht, aber er ist so aktuell, wie er nur sein könnte, lobt Hanns-Georg Rodek in der Welt: "Was uns dieser scheinbar überholte Film sagt, ist dies: Es ist nicht so, dass die Flüchtlinge die Probleme mitbringen, zumindest nicht die Hauptprobleme. Die Hauptprobleme sind bereits da. Sie haben sich in die französische Gesellschaft eingenistet, Unwillkommene aus den früheren Kolonien, die 50 Jahre unwillkommen geblieben sind und sich in Bandenkriegen erst selbst dezimierten und nun zunehmend in Glaubenskriegen auch die Eingeborenen. Das Verstörendste an 'Dämonen und Wunder' ist dieser verständnislose Blick, den Dheepan und seine Familie aus ihrer Wohnung nach draußen werfen."

Weitere Artikel: Der österreichische Kameramann Christian Berger spricht im Interview mit dem Standard über seine Zusammenarbeit mit Angelina Jolie für deren jüngsten Film "By the sea" und neue Techniken im Film. Anlässlich der neuen Star-Wars-Episode schreibt Heiko Christians in der Welt eine kleine Geschichte des Trailers. Für die SZ trifft sich Sacha Batthyany mit Michael Moore.

Besprochen wird Noah Baumbachs neue Komödie "Mistress America" (Presse, FAZ, unsere Kritik hier).
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