Efeu - Die Kulturrundschau

Von Siebenbürgen bis zum Mond

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2016. Die NZZ beklagt die Flut öder Handybilder und plädiert für die Imaginationskraft der Sprache. Das Monopol-Magazin staunt, was Andreas Slominski in den Deichtorhallen alles aus Dixi-Klos herausholt. Die FAZ bewundert in Marbach Sibylle Lewitscharoffs kunstvoll inszenierte Notizbücher. Die SZ ergründet die Verbindungen zwischen John Coltrane und  drastischem Metal. Die taz lauscht Sharon Dodua Otoos Klagenfurt-Text und verabschiedet den Begriff "Migrantenliteratur". taz und critic.de sprechen mit Maren Ade über Cannes. Ganz beglückt sind die Feuilletons von Frank Gehrys Barenboim-Said-Akademie in Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2016 finden Sie hier

Bühne

(Bild: Christophe Raynaud de Lage. "Les Damnés". Festival d'Avignon.)

Mit Ivo van Hoves Visconti-Adaption von "Les Damnés" kehrt die Comedie Francaise nach 23 Jahren erstmalig zum Festival d'Avignon zurück - nach all dem Hype ist die Enttäuschung bei Marc Zitzmann in der NZZ zumindest "relativ". Die Schauspieler agieren mit viel Temperament - Christoph Montenez etwa, der als pädophiler Martin eine "perverse Sogkraft" ausübt - und doch zu "konventionell", findet Zitzmann, der auch mit dem Spielort im Papstpalast unglücklich ist: "Der Blick des Zuschauers springt ständig zwischen den Schauspielern auf der Bühne und den Filmbildern auf der Leinwand hin und her, zwischen konkreten Ameisen-Körpern und virtuellen Riesen-Gesichtern. Die Fokussierung fällt schwer, zumal allerlei Nebenaktionen vom Hauptgeschehen ablenken: Auftritte des Blindman-Saxofonquartetts, Handreichungen von Ankleiderinnen an der Garderobe hinten links."

An der zuletzt von einigen Krisen gebeutelten English National Opera in London hat der neue künstlerische Leiter des Hauses, Daniel Kramer, rund um ein von Anish Kapoor gestaltetes, aus einer golden strahlenden Pyramide bestehendes Bühnenbild Richard Wagners "Tristan und Isolde" inszeniert, schreibt Gina Thomas in der FAZ. Die allerdings berichtet von einem gründlich durchwachsenen Erlebnis, bei dem die Albernheit überhand nehme, "wenn die Liebestollen, nachdem sie ertappt worden sind, sich selbst blutig schneiden, von Sanitätern auf Krankenliegen geschnallt und mit Riesenspritzen verarztet werden, während Matthew Roses greiser König Marke seinen wohltönend-wehmutsvollen Monolog an das Publikum richtet. Noch schlimmer wird es im letzten Akt, in dem Craig Colclough als Kurwenal wie ein verlotterter Clown in der Manier von Samuel Beckett eine Art 'Warten-auf-Isolde'-Posse abziehen muss, die im Widerspruch steht zur Musik und zu Kapoors Bühnenbild, den Ausschnitt des Kraters, der mit Hilfe von Videoprojektionen aussieht wie eine vulvaähnliche, blutströmende Wunde."

Ganz hingerissen berichtet Uwe Schmitt in der Welt von den Proben zu Julien Salemkours überwiegend mit Flüchtlingen inszenierten "Fidelio", der am Sonntag, kurz vor dem EM-Finale, im Großen Sendesaal des RBB aufgeführt wird. Beethovens Oper habe "mit ihrem Appell gegen Willkür und für Menschlichkeit im zeitgenössischen Europa der Flüchtlingskrise an Dringlichkeit gewonnen. Dieser 'Fidelio' moderiert Europas größtes Fußballdrama, er passt zu ihm wie die Appelle der Spieler wider Rassismus. Kunst und Kommerz verbrüdern sich spielerisch in Paris und Berlin für einen Abend. Es gibt lauter Gewinner."

Besprochen werden Carlos Sauras Tanz-Dokumentarfilm "Argentina" (FR) und eine Aufführung von Aribert Reimanns Oper "Melusine" in der UdK Berlin (Berliner Zeitung).
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Design

Für den Tagesspiegel liest Christian Schröder Anja Meyerrose Studie zur Geschichte des Herrenanzugs.
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Film

Tim Caspar Boehme (taz) und Lukas Stern (critic.de) sprechen mit Maren Ade über ihren Cannes-Erfolg "Toni Erdmann", der kommende Woche im Kino startet. Für die SZ unterhält sich David Steinitz mit Roland Emmerich über dessen neuen "Independence Day"-Film. Im Berliner Zeughauskino hat gestern Abend die große Douglas-Sirk-Retrospektive begonnen, die Nicolai Bühnemann (Filmgazette) und Michael Kienzl (critic.de) mit Essays empfehlen.

Besprochen werden Sean Bakers "Tangerine LA" (Freitag, Jungle World, siehe auch unser gestriges Resümee) und Assad Fouladkars romantische Beirut-Komödie "Liebe Halal" (Tagesspiegel).

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Literatur

Bevor im September Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman "Das Pfingstwunder" erscheint, für den sich die Autorin tief in Dantes "Inferno" versenkt hat, zeigt das Literaturmuseum der Moderne in Marbach die Notizbücher und Bastelarbeiten, die bei Lewitscharoffs Auseinandersetzung mit Dante entstanden sind. Ein sehenswertes Vergnügen, betont Andreas Platthaus in der FAZ, denn tatsächlich habe die Schriftstellerin ihre Journale "in veritable Künstlerbücher verwandelt", die "wie etwas höchst Bedeutungsvolles inszeniert" sind. Auch der der literarische Prozess lasse sich darin nachvollziehen: Die Figur "Elsheimer etwa hieß zunächst Ellwanger, doch der Name eines berühmten Frankfurter Malers schien Sibylle Lewitscharoff passender als ein weiterer Verweis auf die schwäbische Kindheit des Protagonisten. Der Verweis auf die Feinmalerei Adam Elsheimers ist zudem bezeichnend für Lewitscharoffs eigenes Verfahren: Unendlich detailliert sind die Ausschmückungen und Herrichtungen der Miniaturbühnen und Notizhefte ... Es gibt ausgeschnittene Aussparungen in den Heften, die den Blick auf erst später folgende zentrale Begriffe freigeben, oder eingearbeitete Elemente in den Papiertheatern wie etwa die Fingerabdrücke von Adolf Eichmann, die neben dem Tor zur Hölle wie blinde Augen auf uns starren."

Marc Reichwein spricht in der Welt mit dem Literaturwissenschaftler und derzeitigen Dorfschreiber von Katzendorf, Elmar Schenkel, darüber, wie man von Siebenbürgen zum Mond reist, weshalb gerade der Weltraum und Transsilvanien immer wieder als Projektionsflächen für literarische Fantasien dienen und was das alles mit dem Brexit zu tun hat: "Den Briten passiert gerade, was in 'Gullivers Reisen' die fliegende Insel ist: Laputa war eine Satire auf die Herrschaft Englands über Irland. Nun scheint Laputa die EU. In diesem Sinne verhalten sich alle Inseln, die dem Festland vorgelagert sind, immer ein bisschen wie der Mond zur Erde, sie sind Satelliten auf ihrer eigenen Umlaufbahn. Da darf man sie nicht stören."

Sehr beglückt schwebt taz-Literaturkritiker Dirk Knipphals durch die "hoch seltsame Eigenwelt" der Erzählung "Herr Gröt­trup setzt sich hin", mit der Sharon Dodua Otoo den Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gewonnen hat: "Sehr einleuchtend" findet er es, "dass der Begriff 'Migrantenliteratur', mit dem [die Erzählung] noch vor wenigen Jahren belegt worden wäre, inzwischen nicht mehr so häufig zu hören ist. Er hat doch zu sehr festgeschrieben, was das vermeintlich Eigene und das vermeintlich Fremde ist. Dabei sind doch gerade die Mischungen zwischen beidem so interessant, und jede dieser Mischungen liest sich anders." Hier kann man die Erzählung herunterladen.

Weiteres: In der FAZ schlägt der Literaturwissenschaftler Mathias Mayer nach, wie sich der Isenheimer Altar in der Literatur niedergeschlagen hat. Für die SZ ist Michaela Metz nach Brasilien zum Literaturfestival Flip gereist. ." Der Historiker und Romancier Per Leo reist für die Welt durch Amsterdam.

Besprochen werden unter anderem Marian De Smets "French Summer" (Tagesspiegel), Bücher der Rapperin Kate Tempest (taz und Julya Rabinowichs "Krötenliebe" (FAZ).
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Musik

In der SZ umkreist Andrian Kreye nicht nur die Frage, was die Musik von John Coltrane mit drastischem Metal (und überhaupt der Geschichte der Rockmusik) angestellt hat, sondern er erklärt auch, warum ein neues, wertiges Vinyl-Boxset, das Coltranes "so irrsinnig produktiven Jahre" bei Atlantic bündelt, begrüßenswerterweise in Mono erschienen ist - und was das eine mit dem anderen zu tun hat: "Ganz einfach: Weil Stereo damals nur ein Verkaufstrick der Plattenfirmen war. Weil Jazzbands in Mono dachten. Und weil die Wucht, mit der Coltranes Musik ohne Stereoeffekt aus den Boxen drückt, heute noch klarmacht, warum Rockstars damals versuchten, sich über Coltrane neue Wege zu suchen. Und warum sie es immer noch tun." Eine weitere Besprechung bringt The Vinyl District. Und in diesem Forum tauschen sich einige Experten in aller Ausführlichkeit über die Veröffentlichung aus.

Weiteres: Für die Jungle World porträtiert Johann Voigt die Rapperin Awakhiwe Sibande aus Zimbabwe.

Besprochen werden das neue Avalanches-Album (Pitchfork), das neue Album von Deerhoof (The Quietus), Gert Möbius' Buch "Halt dich an deiner Liebe fest" über Rio Reiser (taz) und eine Compilation, auf der junge Künstler Grateful Dead covern (taz).
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Kunst

Warum muss jedes noch so öde Ereignis mit dem Handy fotografiert - und schlimmer noch - mit der Welt geteilt werden, klagt Claudia Mäder in der NZZ. "Im Bild sein heißt in der Welt sein" - das glaubt man spätestens seit Erfindung der Postkarte, erklärt Mäder. Aber: "Was sind materielle Bilder in unserem Kontext anderes als Eindringlinge in die Sphäre der mentalen Imagination? Als Begleiter noch des banalsten Texts verhindern sie, dass sich der Leser das Geschriebene selber ausmalt: Die Fotografie gibt vor, wie man die Dinge der anderen zu sehen hat, und zwar vom kleinsten Kraut bis zum größten Berg. Wie furchtbar langweilig! Wie unsäglich spannungslos wird ein Leben, wenn ein Apparat es festhält, anstatt dass ein Geist es entwickelt. - Die Präsenz der Bilder, sagt der Kopf, ist nicht als Bedrohung für die Sprache zu fürchten, wohl aber, so fühlt das Herz, als Beschränkung der Freiheit zu bedauern."

(Foto: Henning Rogge. Deichtorhallen)

Für das Monopol-Magazin hat Jens Hinrichsen sich Andreas Slominskis Dixi-Toiletten-Ausstellung "Das Ü des Türhüters" in den Hamburger Deichtorhallen angesehen: "Slominski holt aus dem Klo-Komplex heraus, was herauszuholen ist, seine Lust am Umdenken, Umformen, Neu-Zusammensetzen grenzt ans Manische. Eines der Häuschen hat Slominski am oberen Ende einer Hallenwand angebracht und mit einem Motor versehen, der es wie einen Sekundenzeiger um die eigene Achse kreisen lässt. Zweimal pro Minute meldet sich das Objekt 'Big Ben' akustisch."

Besprochen werden die Ausstellung "Das Kapital: Schuld - Territorium - Utopie" im Hamburger Bahnhof in Berlin (taz, mehr dazu in unserem Resümee), die Ausstellung "Kunst & Glaube - Ottheinrichs Prachtbibel und die Schlosskapelle Neuburg" im Schloss Neuburg (FAZ) und eine Ausstellung über die Modefotografin Regina Relang in der Ludwiggalerie im Schloss Oberhausen (online nachgereicht von der FAZ).
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Architektur

Gestern konnten Abgesandte der Feuilletons die von Frank Gehry entworfene Barenboim-Said-Akademie in Berlin besichtigen. Frederik Hanssen berichtet im Tagesspiegel beglückt von diesem neuen, als Begegnungsstätte für junge Musiker aus Israel und den arabischen Ländern konzipierten Konzertsaal: Ein "Prunkstück" sei der nach Pierre Boulez benannte Konzertsaal: "Bis zu 620 Personen werden hier sitzen können, die meisten im vielfach variablen Parkett, die übrigen auf dem Doppelring des Ranges, der 320 Tonnen wiegt, aber federleicht wirkt, da er nur an fünf Stellen mit den Wänden des quaderförmigen Saals verankert ist. Die bereits vollständig montierte Vertäfelung aus hellem Holz schafft eine angenehm intime Atmosphäre. Möglichst nahe ans Geschehen will Frank Gehry die Zuhörer bringen, kein Platz ist weiter als 14 Meter vom Dirigenten entfernt." Auch Eleonore Büning von der FAZ ist guter Dinge: So einen vielseitig verwendbaren Saal gibt es in Berlin noch nicht "und da Yasuhisa Toyota (...) das Akustikkonzept entwarf, wird er sicher sehr gut klingen." In der taz berichtet Rolf Lautenschläger von der Begehung.

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