Efeu - Die Kulturrundschau

Sonst hol' ich Jürgen Trittin

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28.08.2017. In der SZ kritisiert Philipp Ruch die Absage der Documenta-Performance "Auschwitz on the Beach" als Angriff auf die Kunstfreiheit und meint: Wir brauchen den Auschwitz-Vergleich! Die taz gähnt über einseitige Perspektiven im Palästinensischen Museum in Ramallah. Der Tagesspiegel wünscht sich mehr Actionheldinnen im Kino. Die Kritiker loben die Pop-Kultur Berlin und schauen ratlos auf Elfriede Jelineks Fukushima-Stück "Kein Licht". Und die NZZ schaut sich humanoide Roboter in Wien an und warnt vor einer leichfertigen Verwendung des Begriffs "Weltliteratur". Atualisiert: Mireille Darc ist gestorben - wir binden einen der berühmtesten Momente im Kino der Siebziger ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.08.2017 finden Sie hier

Kunst

Mit dem Ziel des kulturellen Widerstands gegen "Besatzung, Unterdrückung und Judaisierung" der Stadt ist die erste Ausstellung mit dem Titel "Jerusalem lives" im neueröffneten Palästinensischen Museum in Ramallah angetreten, erfährt taz-Kritikerin Susanne Knaul von Kuratorin Reed Fadda. Das palästinensische Publikum ist begeistert: "Die Palästinenser sind hier die einzigen Opfer. Hier gibt es keine Grautöne. Im Palästinensischen Museum ist die Welt schwarz-weiß, ganz ähnlich wie in manchen staatlichen israelischen Ausstellungen. Täter, das sind immer die anderen. Wenn es um die Dokumentation historischer Entwicklungen geht, bleibt das Narrativ einseitig. In dem von Stiftungen und Banken privat finanzierten Palästinensischen Museum soll es allerdings um Kunst gehen. Oder etwa doch nicht?"

Bild: Benny Andrews. Did the Bear Sit UNde a Tree. 1969. Emmanuel Collection. Estate of Benny Andrews/DACS, London/VAGA, NY

Für die SZ hat sich Alexander Menden Werke von afroamerikanischen Künstler der Sechziger- und Siebzigerjahre bei der Ausstellung "Soul of Nation. Art in the Age of Black Power" in der Tate Modern angesehen (Unser Resümee). Lange Zeit wurden die Werke, die sich auf unterschiedliche Weise der schwarzen Emanzipation widmen, marginalisert, weiß Menden und attestiert der Ausstellung gerade jetzt große Aktualität: "Kunst, die in einem anderen historischen Zusammenhang vielleicht geschmäcklerisch als zu unsubtil abgetan würde, entfaltet jetzt ihre bunte, oft auch aggressive Kraft."

"Wir leben im Zeitalter eines neuen Ressentiments gegen die Kunst", meint Philipp Ruch, Gründer des "Zentrums für Politische Schönheit" in der SZ und kritisiert die Absage der Performance "Auschwitz on the Beach" durch die Documenta als Angriff auf die Kunstfreiheit. Vor allem hätte die Performance auf die Zustände in Libyen aufmerksam gemacht, glaubt er: "Den Kritikern aller Holocaust-Vergleiche geht es darum, Auschwitz als singuläres Phänomen zu verteidigen. In ihrem Eifer haben sie dem Schwur allerdings ein Wort hinzugefügt: 'Nie wieder Auschwitz-Vergleiche!' Aber die Formel 'Nie wieder Auschwitz' braucht den Vergleich. Sie braucht ihn schon, um eine starre, schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Vieles von dem, was in Libyen geschieht - von der systematischen Abriegelung des Mittelmeeres bis zur Finanzierung, Bewaffnung und Ausbildung der dubiosen 'Küstenwache' -, wurde im Bundesinnenministerium und im Kanzleramt ersonnen und beschlossen."

Weiteres: Die taz gratuliert Ai Weiwei zum Sechzigsten.
Archiv: Kunst

Musik

Durchaus glücklich und zufrieden, aber auch spürbar melancholisch resümieren die Feuilletons die Pop-Kultur Berlin. "Wie unterschiedlich die Musik ist, die man hier in enger Taktung erleben kann, illustriert einmal mehr, wie fragmentiert und manchmal auch beliebig die Popkultur der Gegenwart ist", schreibt etwa Stephanie Grimm in der taz. Und folgert daraus: "Als Gesellschaftserzählung taugt sie nur noch bedingt." Markus Schneider sieht das in der Berliner Zeitung nicht unähnlich: "Die Zeiten, in denen man Popmusik mit Superlativen dingfest machen musste, sind ziemlich over." Charmant, aber letzten Endes gescheitert findet SZ-Kritiker Jan Kedves Andreas Doraus Idee, auf dem Festival eine Performance zu bieten, die aus nichts als Refrains bestand.

Weiteres: In Berlin hat Simon Rattle seine letzte Saison als Leiter der Berliner Philharmoniker eröffnet, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Ljubisa Tosic resümiert im Standard das Jazzfestival Saalfelden.

Besprochen werden ein Konzert von Robbie Williams (Standard), das neue Album "TFCF" der Liars (Tagesspiegel, Pitchfork), ein Konzert des Orchesters der Klangverwaltung unter Enoch zu Guttenberg beim Rheingau-Festival (FR), das Hamburger Konzert von Rufus Wainwright (SZ) und Anoushka Shankars Auftrit beim Rheingau Festival (FAZ).
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Bühne

Bild: Szene aus "Kein Licht". Caroline Seidel/Ruhrtriennale

Gespalten reagieren die Kritiker auf Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Fukushima-Stück "Kein Licht" bei der Ruhrtriennale. In der Nachtkritik meint Andreas Wilink: "Effektvoll illustrativ leiert das installative Tohuwabohu und geordnete Chaos mal kalauernd aus, findet sich buchstäblich zum Kugeln komisch, strampelt sich szenisch ab, leistet sich eine Couture-Modenschau mit roter und blauer Satelliten-Empfänger-Figurine namens Hans und Grete(l), mit Schutzanzügen, Trikots, Roben und addiert - charming - eins ums andere Bild. Katastrophen-touristische Impressionen fluten Schwarzweiß über die Monitore oder begleiten die Künstler bei Pariser Flair, wenn sie im französischen Autoverkehr Sprit und Energie vertun." Philippe Manourys Kompositionen findet er hingegen "klangschön" und "satt".

SZ-Kritiker Egbert Tholl erlebt mehr Kabarett als Erkenntnis: "Tatsächlich rinnt 'Kein Licht' ohne die Schärfe, die der Nobelpreisträgerin sonst innewohnt, an der Katastrophe bloß vorbei und umkreist den auch nicht bahnbrechenden Gedanken, dass wir, wenn wir alle Energie verbrauchen, uns über die Folgen von deren Herstellung nicht beschweren dürfen."

Und in der FAZ ist Jan Brachmann angesichts der vielen Insider-Gags ein wenig ratlos: "An die Stelle der Verweise auf eine verlorene Kultur des Dialogs mit der Natur treten nun Anspielungen auf die Tagespolitik und den eigenen Kulturbetrieb: Die sprechende Puppe 'Atomi' muss flugs in den Sarg, 'sonst hol' ich Jürgen Trittin'. Das Ende der Atomenergie in Deutschland wird verkündet: "Wir steigen aus. Wir schaffen das. Äh, quatsch, wir lassen das.'"

Bild: Newsha Tavakolian

Bei einer ihrer Premieren in Afghanistan sprengte sich ein Selbstmordattentäter in die Luft, lange durfte das afghanische "Azdar"-Ensemble nicht in Deutschland einreisen, berichtet Michael Laage in der Nachtkritik. Beim Kunstfest Weimar feierte "Malalai - die afghanische Jungfrau von Orleans" in der Inszenierung von Robert Schuster und Julie Paucker nun Premiere. Laage hätte zwar auf das Bemühen um Schiller verzichten können, aber: "Wann immer sich der afghanische Echoraum öffnet, gewinnt Schusters Inszenierung deutlich an Kraft. Besonders kurz vor der Pause, als alle Ensemblemitglieder aus den Rollen treten und aus afghanischem, französischem, israelischem und deutschem Blickwinkel über Kraft und Chance zur Vergebung diskutieren. Geht das? Nach so unermesslich vielen Opfern? Einer der Azdar-Männer nimmt die Rolle des Attentäters vom Dezember 2014 auf sich - wird ihm vergeben werden können, weil er ja in aller mörderischen Verblendung ein Mensch war? Hier gewinnt die Aufführung eine Tiefe wie sonst nirgends. Sie berührt ein Tabu. Was, wenn auch die Killer nicht nur Monstren sind?"

Besprochen werden Christoph Mehlers Inszenierung von Albert Camus' Stück"Caligula" in Darmstadt (Nachtkritik) und Richard Siegals Dante Trilogie "Three Stages: Model + In medias res + El Dorado" bei der Ruhrtriennale (SZ)
Archiv: Bühne

Film

Mireille Darc ist gestorben. Sie hat auch bei Godard gespielt. Aber weltberühmt wurde sie durch eine Drehung ihres Körpers, die so leicht war, dass Frankreich ihr bis heute nachtrauert.



Christiane Peitz wünscht sich im Tagesspiegel mehr Actionheldinnen im Kino: "Am Feminismus des 20. Jahrhunderts haben die Rote Zora, Pippi Langstrumpf und die Bezaubernde Jeannie einen beträchtlichen Anteil. ... Wer die Fantasie animiert, verändert die Wirklichkeit. Es kann gar nicht genug Wunderfrauen und Atomblondinen geben."

Weiteres: Außerdem wirft Peitz im Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Filmfestivals in Venedig. Patrick Schlereth verkündet, dass nun auch die FR eine Serienkolumne bringen wird. David Steinitz (SZ), Tobias Sedlmaier (NZZ) und Michael Pekler (Standard) schreiben zum Tod des Horrorregisseurs Tobe Hooper.

Besprochen werden Călin Peter Netzers "Ana, mon Amour" (Freitag) und die Autobiografie des Trashfilmers Uwe Boll (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Die "Landshut" wird vierzig Jahre nach dem Deutschen Herbst zum historischen Ausstellungsstück - Anlass für Friedrich Christian Delius, sich in der FAZ ausführlich daran zu erinnern, warum er sich in den Acthzigern für drei Romane mental in die Landshut versenkt hat: "Damals hat die stille Wut über die von den Terror-Idioten verursachte Sprachlosigkeit mich vorangetrieben zu dem Versuch, nach dem Medienspektakel wieder die Poesie der Subjektivität, die Sprache der Literatur zu finden." Ein bisschen wirkt der Text aber auch wie Pflege des eigenen literarischen Nachlasses: "Wer mich demnächst fragt, ob es sich lohnen werde, nach Friedrichshafen zu fahren und im Dornier-Luftfahrtmuseum die mythische 'Landshut' zu besichtigen, dem werde ich nicht abraten. Aber den bescheidenen Hinweis anfügen, dass man einen stärkeren, anschaulicheren Eindruck durch die Literatur haben kann."

Zum heutigen Goethe-Geburtstag befasst sich die NZZ mit dem vom Dichterfürsten geprägten Begriff der Weltliteratur. Jeremy Adler betreibt Ursachenforschung: Voraussetzung für Goethes Vorstellung und Begriff einer Weltliteratur seien demnach die Theoriebildungen im Bereich des Völkerrechts gewesen. Philipp Theisohn warnt indessen davor, den Begriff Weltliteratur heute allzu leichtfertig zu verwenden: "Die Ausdehnung des Blicks auf die 'Anderen' - die Marginalisierten, Kolonisierten, zum Schweigen Gebrachten - mag vordergründig als ein Akt der Anerkennung und Emanzipation erscheinen. Handkehrum wird daraus ein Blick, vor dem die Fremdheit nicht bestehen kann, aber dem sie unterworfen wird. Diese Ambivalenz charakterisiert im Übrigen bereits Goethes weltliterarisches Projekt, das in Wahrheit ein ganz und gar eurozentrisches ist und nicht einmal der indischen oder chinesischen Literatur auch nur annähernd die historische Geltung der griechischen, französischen oder deutschen zuerkennen will." Ralf Konersmann betrachtet unterdessen Goethes Faust im Lichte des Heldenbegriffs und kommt zu dem Schluss: "Faust ist eine ganz und gar postheroische, den Geist der modernen Zeiten verkörpernde Gestalt."

Im Perlentaucher liest Thekla Dannenberg Hari Kunzrus kraftvollen und todtraurigen Roman über den Blues "White Tears" und sieht in Zoë Becks "Lieferantin" den ersten Roman eines neoliberalen Feminismus.

Weiteres: Arno Frank berichtet auf ZeitOnline von seinen meditativen Autoreisen durch Frankreich. Marc-Oliver Frisch erinnert im Tagesspiegel an den Comiczeichner Jack Kirby, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Jochen Missfeldts "Sturm und Stille" (FR), der Comic "Homestories - Ein Comic über die koreanische Diaspora in Wien" von Vina Yun (Jungle World), Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar-Eisenachs "Das Tagebuch der Reise durch Nord-Amerika in den Jahren 1825 und 1826" (SZ) und Angie Thomas' Debüt "The Hate U Give" (FAZ).
Archiv: Literatur

Design

In der Ausstellung "Hello, Robot" der Vienna Biennale blickt Felix Philipp Ingold von der NZZ dem Roboter von Angesicht zu Angesicht ins Auge - Roboter werden in ihrer Gestaltung nämlich immer humanoider. Dieses Design "soll den Techno- bzw. Maschinencharakter des Automaten kaschieren", schlussfolgert er. "Dass man für analoge wie für digitale Automaten bisher fast ausnahmslos die Menschengestalt (...) zur Bemäntelung ihrer innern technischen Armaturen verwendet hat, ist - bei aller Fortschrittseuphorie - sicherlich auf eine konservative Grundhaltung zurückzuführen, die am Menschen weiterhin als dem Maß aller Dinge festhalten möchte, an seiner Physis ebenso wie an seiner Intellektualität und Sensibilität. Viel konsequenter wäre es, für die künftigen Roboterkohorten, denen es an solcher 'Menschlichkeit' fehlen wird, ein grundsätzlich neues Design zu entwickeln."
Archiv: Design

Architektur

Für die SZ hat sich Joseph Hanimann die von dem Fabrikanten Jean-Baptiste André Godin im 19. Jahrhundert gegründete Anlage "Familistère" im nordfranzösischen Guise angesehen, die als erster Sozialwohnungsbau der Moderne gilt. Arbeiter sollten hier wie Adelige und Bürger leben, zumindest sollten aber Licht, frische Luft und sauberes Wasser allen gleichermaßen zur Verfügung stehen, weiß Hanimann und bedauert, dass das Projekt im 20. Jahrhundert der kapitalistischen Privatlogik der Geschäftsführung zum Opfer fiel: "Alles in diesem Komplex ist sorgfältig durchdacht ... Zwischen dem 'Sozialpalast' und der Fabrik befand sich die Wäscherei mit angegliedertem Gemeinschaftsbad. Das Warmwasser kam direkt von den Heizkesseln der Gießerei. Hygiene war eine Priorität. Und da die Frauen nicht nur für die Familie da sein sollten, war auch für eine Kinderkrippe gesorgt. Wer die Kleinkinder dennoch lieber selbst aufziehen wollte, bekam eine ebenfalls von Godin entworfene Wiege ausgeliehen."
Archiv: Architektur