Efeu - Die Kulturrundschau

Die erkaltete Lava der bizarren Gefühlsformen

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26.11.2018. Die Feuilletons trauern um den britischen Filmemacher Nicolas Roeg, in der FAZ schreibt Dominik Graf den Nachruf auf den "Cutter unserer Gehirnströme". Der Standard erkundet mit  Lois Weinberger die Natur der poetischen Möglichkeiten. Ebenfalls im Standard pocht A.L. Kennedy auf die existenzielle Macht der Sprache. Die SZ erlebt in München die Goldene Hochzeit von Otello und Desdemona. Und in der FR fürchtet Shermin Langhoff, dass die Politik dem Theater die Emotionen stiehlt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.11.2018 finden Sie hier

Film

Filmstill aus Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln trauern tragen"


Nicolas Roeg war der "Cutter unserer Gehirnströme", schreibt Regisseur Dominik Graf in seinem FAZ-Nachruf auf den am Samstag verstorbenen britischen Filmemacher, dem die Filmgeschichte Klassiker wie "Performance", "Wenn die Gondeln Trauer tragen" und "Der Mann, der vom Himmel fiel" verdankt. Roegs flirrend-assoziative Art des Filmgestaltens hat Graf nachhaltig gebannt: "Man könnte von einer Roegianischen Kino-Vulkanologie ohne jede Bedienungsanleitung sprechen, die die erkaltete Lava der bizarren Gefühlsformen seiner Figuren und die brodelnde Magma der Bilderkaskaden, mit denen seine Inszenierungen Raum und Zeit spielerisch überwinden, miteinander in vibrierende Verhältnisse setzt." Und Fritz Göttler pflichtet in der SZ bei: Mit seiner kühnen Montage habe Roeg "alle narrativen Zusammenhänge zerrissen, die Wirklichkeit fast ins Unerträgliche komprimiert." Roegs "psychologische Thriller nahmen die Skepsis gegenüber der sichtbaren Dingwelt, wie sie die drogen-bewegten Sechziger geweckt hatten, auf, um sie in irritierenden Gesamtkunstwerken zu vermitteln", würdigt Daniel Kothenschulte in der FR den Verstorbenen. Weitere Nachrufe im Standard, Tagesspiegel, Welt und Berliner Zeitung. Mehr zu Roegs visuellem Stil in diesem Videoessay:



Und die SZ meldet gerade, dass auch Bernardo Bertolucci gestorben ist, Regisseur des grandiosen Jahrhundertepos "1900" und des brutalen "Letzten Tango in Paris". Für Liberation hatte er einst die Schlüsseldaten seines Lebens notiert.

Weitere Artikel: Lilli Hembold empfiehlt in der Jungle World eine Herbert Achternbusch gewidmete Werkschau in Leipzig. Besprochen werden Hu Bos "An Elephant Sitting Still" (Zeit), Kornél Mundruczós "Jupiter's Moon" (Tagesspiegel), Panos Cosmatos' Horrorfilm "Mandy" mit Nicolas Cage (SZ) und die Serie "Please like me" (Freitag).

Archiv: Film

Bühne

Vor der Goldenen Hochzeit: Jonas Kaufmann als Otello und Anje Herteros als Desdemona. Foto: Bayerische Staatsoper 

Große Premiere in München  mit Verdis "Otello" an der Bayerischen Staatsoper und große Enttäuschung bei SZ-Kritiker Reinhard Brembeck, auch wenn Anja Harteros und Jonas Kaufmann auf der Bühne stehen und Kirill Petrenko am Regiepult. Doch in der Inszenierung von Amélie Niermeyer erlebte er weder Glühen noch Rasen: "Niermeyer macht beide zum älteren Paar, sie eine Upper-Class-Lady ohne Aufgaben im Leben, er ein vom Job frustrierter weißer Militärstratege. Weil beide Teil des Systems sind und nicht Außenseiter wie im Original, erzählt diese Beziehung nichts über die Gesellschaft und ihre Machtmechanismen. Weil die Beziehung von Anfang an gestört ist, weil da kein hemmungslos verliebtes Paar in der Hochzeitsnacht, sondern eine gediegene Goldene Hochzeit gezeigt wird, fehlt die Fallhöhe zwischen Liebesparadies und Beziehungsmord. Hier wird ein belangloses Ehedrama verhandelt, das Gerichte, nicht Opernhäuser beschäftigen sollte." Für Welt-Kritiker Manuel Brug spricht es für die beiden Gesangsstars, dass sie sich in den Dienst dieser Inszenierung stellen. In der NZZ bemerkt Marco Frei, dass unter Petrenkos "brillanter" Leitung Gerald Finleys Jago zum eigentlichen Hauptdarsteller des Dramas werde. In der FAZ kann sich auch Stefan Mösch mit Desdemona "als starker Frau" nicht anfreunden.

Im FR-Interview mit Arno Widmann weigert sich Shermin Langhoff, Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, Aussagen über die Zukunft zu machen. Oder gar Panik zu schieben: "Draußen wird uns ein bisschen die Show gestohlen. Es geht jetzt dort um die großen Emotionen. Umso wichtiger ist, dass wir im Theater nicht uns hinreißen lassen, sondern uns Zeit nehmen, nachdenken und zurückblicken... Schon um der Schwarzmalerei unserer Gegenwart und Zukunft zu entgehen. Sie verdirbt uns den Blick auf die Realitäten. Wer etwa auf 1918 zurückblickt, auf die Millionen Toten des Ersten Weltkriegs, auf die Krüppel, die Barrikadenkämpfe, die Armut, dem wird schnell klar, wie gut es uns geht. Die Frauen waren nicht alleinerziehend, sondern Witwen. Die Zukunft ist offen. Wir müssen sie machen."

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ödön von Horvaths Volksstück "Italienische Nacht" an der Berliner Schaubühne (Nachtkritik, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Welt, FAZ), Oliver Frljićs Inszenierung von Shakespeares "Romeo und Julia" als "exaltiertes, eklektisches, von Kunstwillen regiertes Bildertheater" in Stuttgart (Nachtkritik), Barrie Koskys Inszenierung von Leonard Bernsteins "Candide" an der Komischen Oper (Tagesspiegel), Jan-Christoph Gockels Stück "Die Revolution frisst ihre Kinder!" im Schauspielhaus Graz (Standard), Oskar Aichingers Kammeroper "Das Totenschiff" in Wien (Standard), Teresa Präauers Coming-of-Age-Geschichte "Oh Schimmi" im Schauspielhaus Wien (Nachtkritik) und die Polit-Show "Hulla di Bulla" am Zürcher Theater am Neumarkt (NZZ).
Archiv: Bühne

Kunst

lois weinberger: "Baumfest", 1997, Galerie Krinzinger
Im Standard porträtiert Anne Katrin Feßler den Tiroler Künstler Lois Weinberger als großen Schutzpatron des Wildwuchs und der Ruderalpflanzen: "Beim selbsterklärten 'Feldarbeiter' mischt sich der ethnologische Blick mit jenem eines poetischen Philosophen. 40 Jahre auf einem Bauernhof lebend, hatte er anfangs einen sehr praktischen, unromantischen Zugang zur Natur. Aber umso mehr er sich mit Kunst beschäftigte, umso undefinierbarer wurde ihm die gesellschaftliche Vorstellung von Natur, erzählt Weinberger, der nach einer Lehre zum Schlosser und Kunstschmied an die Wiener Kunstschule ging. Für ihn ging es 'weg von dem ganzen Grünzeug, hin zur unsichtbaren Natur - zur Natur unseres Geistes, zur Natur unseres Entstehens und zur Natur der poetischen Möglichkeiten'."

Mit offenen Augen geht Michael Kohler in der FR durch die Ausstellung "Es war einmal in Amerika" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum: "Überall gibt es etwas oder einen Maler zu entdecken, der das Selbstbild der Amerikaner prägte, dessen Ruf aber nicht bis nach Europa drang.
Archiv: Kunst

Literatur

Schriftstellerin A.L. Kennedy ärgert sich im Standard-Gespräch über den Paternalismus, mit dem man dem Schreiben literaturbetriebsferner Menschen in der Sozialarbeit begegnet, wo sie selbst jahrelang gearbeitet hat. Dabei liege im Gebrauch von Sprache, um sich ins Verhältnis zur Welt und den eigenen Erfahrungen zu setzen, ein existenzieller Akt: "Dieses Gerede von: Meint Sprache wirklich etwas? Das ist unmoralisch, unpraktikabel und politisch gefährlich. Solches Gerede ist dumm, und dumm zu sein ist nicht hilfreich, weder für andere noch für einen selbst. Wenn du keine Freiheit hast, dann weißt du ganz genau, was das Wort 'Freiheit' bedeutet. Als Autorin formst du Wörter zu Sätzen, du gibst ihnen Bedeutung. Darum geht es. Kunst kommt entweder von einem universellen Ort oder von einem narzisstischen. Was ich über das Schreiben gelernt habe: Es ist das Machtvollste und Stärkste, das du jemandem geben kannst. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. Entweder du existierst, oder du lebst. Und mit Worten, mit einer Stimme bist du am Leben."

Sanfte Skepsis äußert Frank-Michael Kirsch im Tagesspiegel, ob die ersten Umstrukturierungsmaßnahmen, die dafür Sorge tragen sollen, dass die Schwedische Akademie ab 2019 wieder handlungsfähig wird, wirklich fruchten werden - etwa, ob es einem äußeren Beratergremium aus Kritikern und Übersetzern gelingen wird, "gewissermaßen den Urzustand wiederherzustellen. Sie hatte durchaus ihre Vorzüge, die Schwedische Akademie. Ihre Unabhängigkeit machte die Institution immun gegen Trends und staatliche Willkür. Der Status verschaffte ihr unwiederbringliche Freiheiten."

Weitere Artikel: Verdammt genervt über die Art, wie Feuilleton und Universität Science Fiction diskutieren, zeigt sich Dietmar Dath in seiner vom Standard online dokumentierten Eröffnungsrede zur Wiener Tagung "Anderswelten - über Dystopien und Utopien". Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns geht im Freitag der Konjunktur der Geister und Untoten in der Gegenwartsliteratur nach. Der Standard bringt Ralph Dutlis Dankesrede zum Erich-Fried-Preis. In Berlin diskutierten Durs Grünbein und Katja Petrowskaja mit der Autorin Maria Stepanowa über deren Buch "Nach der Erinnerung", berichtet Kerstin Holm in der FAZ.

Besprochen werden unter anderem Sarah Paretskys "Critical Mass" und Cloé Mehdis "Nichts ist verloren (Perlentaucher), Erich Hackls "Am Seil" (taz), Karoline Menges Debüt "Warten auf Schnee" (Tagesspiegel), Elias Canettis "Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe 1932 - 1994" (SZ), Jeffrey Eugenides' Storyband "Das große Experiment" (NZZ), Wolfgang Herrndorfs Textsammlung "Stimmen" aus dem Nachlass (Zeit), Rainer Moritz' "Mein Vater, die Dinge und der Tod" (online nachgereicht von der FAZ), Naoki Urasawas und Takashi Nagasakis Manga-Epos "Billy Bat" (Tagesspiegel), neue Kinderbücher, darunter J.K. Rowlings und Lisbeth Zwergers "Die Märchen von Beedle dem Barden" (FAZ) und neue Krimi-Veröffentlichungen, darunter die Neuauflage von Ross Thomas' "Dann sei wenigstens vorsichtig" (Freitag) und Carol O'Connells "Blind Sight" (Freitag).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt  Dirk von Petersdorff über Theodor Storms "O bleibe treu den Toten":

"O bleibe treu den Toten,
Die lebend du betrübt;
O bleibe treu den Toten,
Die lebend dich geliebt!
..."
Archiv: Literatur

Musik

William E. Badgleys Dokumentarfilm "Here to be Heard" über die Frauenpunk-Pioniere The Slits ist zwar konventionell gestaltet, aber "ein ergiebiges Zeitdokument", schreibt Klaus Walter in der Jungle World: "Hier kommt nicht das Manchester-Heldengefühl auf, oder das, was Jello Biafra mal 'Nostalgia for an age that never existed' nannte - eher Wehmut. Was hätte sein können und was ist jetzt?"

Weitere Artikel: Jan Kedves porträtiert in der SZ den Soulsänger JP Bimeni aus Burundi. Markus Schneider schreibt in der Berliner Zeitung einen Nachruf auf die Spex. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Martin Andris über "C.R.E.A.M." von Wu-Tang Clan:



Besprochen werden neue Alben von Meg Baird und Mary Lattimore (Pitchfork), The Prodigy (taz), Art Brut (Pitchfork), und den 17 Hippies (Berliner Zeitung) sowie Van Morrisons "Moondance" von 1970 (Pitchfork), ein Auftritt von Der Plan (Tagesspiegel), ein Monteverdi-Abend des Schweizer Ensembles Voces Suaves (Tagesspiegel) und die Autobiografie des Rappers Gucci Mane (Zeit).
Archiv: Musik