Efeu - Die Kulturrundschau

Überhaupt das Mikrodetail

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01.04.2019. Die SZ erlebt im Hotel House in Porto Recanati, wie der Traum der architektonischen Vernunft ein Ungeheuer gebar. Die FAZ entdeckt im katalonischen Nationalmuseum in Barcelona einen unbekannten Alten Meister: El Bermejo. Im Standard überlegen Johanna Adorjan und Feridun Zaimoglu, ob Karl Ove Knausgard eine Frau sein könnte. Und ZeitOnline hört aus Marvin Gayes erstmalig veröffentlichtem Album "You're the Man" die Koksreste herausrieseln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.04.2019 finden Sie hier

Bühne

Stefan Puchers "Leben des Vernon Subutex" an den Münchner Kammespielen. Foto: Arno Declair

Als Freundin von Virginie Despentes' Vernon-Subutex"-Trilogie zeigt sich Sabine Leucht in der taz enttäuscht von Stefan Puchers Inszenierung des Romans an den Münchner Kammerspielen: "Auf der Bühne ist Pucher allzu nüchtern und erspart den Zuschauern sogar die Irritationen, die die Begegnung mit Alkoholikern, bekennenden Rassisten oder zum Islam Konvertierten dem Leser zumuten, den Despentes in deren Lebensruinen hineinzieht, bis das eigene Weltbild wackelt. In den Kammerspielen stehen Thesen im Raum, von Brüchen weitgehend bereinigt, was zugegeben leicht passiert, wenn 1.200 Buchseiten in 220 Minuten Vorstellungsdauer hineinschrumpfen müssen. Vor allem aber überrascht, dass Pucher, früher selbst DJ und ein wandelndes Pop-Lexikon, so wenig auf die Magie der Musik einsteigt."

Besprochen werden außerdem Anne Lenks Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" mit Ulrich Matthes am Deutschen Theater (die Katrin Ullmann in der taz so klug wie unterhaltsam findet und die FAZ-Kritiker Simon Strauss zugolge sogar die Kanzlerin zum Lachen brachte, Berliner Zeitung, Tsp), Pinar Karabuluts Pop-Version von Tennesseee Williams schwülem Südstaatenklassiker "Endstation Sehnsucht" am Wiener Volkstheater (Standard, Nachtkritik) Sibylle Bergs starbesetzter "Hamlet" in Aarau (Nachtkritik), der Stuttgarter Ballettabend "Aufbruch" (SZ), der etwas voreilig angesetzte Brexit-Abend des deutsch-britischen Theaterkollektivs Gob Squad (Berliner Zeitung), Edward Albees Geschlechterschlacht "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Zürcher Theater Neumarkt (NZZ), Puccinis "Madame Butterfly" am Theater Basel (NZZ), Mei Hong Lins Marie-Antoinette-Ballett in LInz (Standard) und Eric de Vroedts Projekt "The Nation" am Schauspiel Frankfurt (FAZ, Nachtkritik).
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Architektur

Das Hotel House in Porto Recanati. Foto: Wikipedia/Beta 16, CC BY-SA 3.0

Thomas Steinfeld erzählt die traurige Geschichte des Hotel House in Porto Recanati, das sich vom Mittelschichtstraum an der Adria zur Stätte der Hilflosigkeit entwickelt hat. Keine Woche vergeht, ohne das Meldungen über gefundene Leichen oder gesuchte Terroristen aus dem hauptsächlich von Einwanderern bewohntem Haus dringen. Das Hotel House sei ein Ghetto, wie es in Italien viele gibt, in Scampia in Neapel etwa, oder im ehemaligen olympischen Dorf von Turin, erzählt Steinfeld, aber es liegt mitten in einem Badeort: "Es besteht nur aus einem Gebäude, eingeschlossen von der Autobahn, der Eisenbahntrasse und einer Staatsstraße.  Das 'Hotel House' ist wie ein Turmbau zu Babel, nur dass damit niemand herausgefordert werden soll: Eher schon handelt es sich um einen Fluchtort oder einen Versuch der Selbstorganisation in prekärer Lage. Die Autarkie eines großen architektonischen Komplexes, in der Le Corbusier und seine Nachahmer (die sich wiederum von Charles Fourier hatten inspirieren lassen) die Zukunft des Wohnens erkannt zu haben glaubten, verwandelte sich hier, mit großer Geschwindigkeit und Konsequenz, in ein Monstrum."
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Kunst

Bartolome Bermejo: Der Heilige Michael triumphiert über den Teufel, 1468. Bild: The National Gallery, London
FAZ-Kritiker Paul Ingendaay kann selbst kaum glauben, dass es noch unbekannte Alte Meister gibt, aber im Museu Nacional d'Art de Catalunya erlebte er die  Wiederentdeckung von Bartolomé de Cárdenas, genannt "El Bermejo". Religiöse Malerei auf höchstem Niveau, sei das: "Seine Marienfiguren kennen elfenbeinerne Zartheit und herzzerreißende Trauer. Seine Christusfiguren sind schrecklich leidende Menschen und obendrein skandalös nackt: Die hauchdünnen Gazeschleier verhüllen kaum die Geschlechtsteile, für die Zeit ein ungewöhnlicher Naturalismus. Überhaupt das Mikrodetail: Bermejo füllt seine Tafeln mit Ornamenten, Mustern, kostbaren Materialien, immer wieder Metallarbeiten und wundersamen Designkombinationen, als wollte er uns keine Sekunde vergessen lassen, dass er buchstäblich alles kann und jede Materie beherrscht."

Weiteres: Vor der Eröffnung der lang erwarteten Lotte-Laserstein-Retrospektive in der Berlinischen Galerie verfolgt John Quin im Tagesspiegel die Spuren zweier Bilder nach Schottland, zu John Crichton Stuart, dem sechsten Marquise of Bute. Im Standard blickt Stefan Weiss auf die Personalien der Wiener Albertina.
Archiv: Kunst

Literatur

Für den Standard haben sich Sabine Scholl und Bert Rebhandl zum großen Gespräch mit Johanna Adorján und Feridun Zaimoglu getroffen. Hintergrund: Beide haben mit "Männer" (Adjorán) und "Die Geschichte der Frau" (Zaimoglu) gerade jeweils ein Buch über das je andere Geschlecht veröffentlicht. Zaimoglu versteht sein Buch als Plädoyer für und Beitrag zu "einer Weltgeschichte aus weiblicher Perspektive", den er so kompromisslos wie möglich geschrieben habe, weil ihm "diese Harmoniesucht auf die Nerven geht". Dass Zaimoglu sein Buch aus Frauenperspektive geschrieben hat, stellt für Adjorán kein Problem dar: "Feminismus ist doch erst dann erfolgreich, wenn die Männer mitmachen." Zumal es im Betrieb - Überschuss der Männer bei Rezensionen und Rezensenten und Schieflagen in der Entlohnung - noch einiges zu stemmen gebe: "Wenn Knausgård eine Frau wäre, wäre er nie verlegt worden, oder? So eine verlaberte Tagebuchprosa und dann ohne Humor, ohne Selbstdistanz, einer Frau würde man das um die Ohren hauen, man würde es auf 200 Seiten herunterkürzen und dann sagen: Wen soll denn das interessieren? Wenn er nicht so gut aussähe ..."

Weitere Artikel: Für den Standard besuchte Ingeborg Sperl die unter dem Pseudonym Lars Kepler Krimis schreibenden Eheleute Ahndoril in Stockholm. Gregor Dotzauer gratuliert dem Schriftsteller Milan Kundera im Tagesspiegel zum 90. Geburtstag. Der Freitag spendiert ihm eine Ausgabe seines Wochenlexikons. Besprochen werden unter anderem Michaela Karls Biografie über Maeve Brennan (taz), Dmitri Mereschkowskis Roman "Leonardo da Vinci. Mensch und Mythos" (Freitag), Sonja Fincks Neuübersetzung von Annie Ernauxs Erzählung "Der Platz" (Jungle World), Attica Lockes Kriminalroman "Bluebird, Bluebird" (Presse), Niklas Natt och Dags Debüt"1793" (Presse), Doris Knechts "weg" (Tagesspiegel), Johan Harstads 1200-Seiten-Epos "Max, Mischa und die Tet-Offensive" (SZ), Alan Hollinghursts "Die Sparsholt-Affäre" (Zeit) und neue Krimis, darunter Dolores Redondos "Alles was ich Dir geben wilL" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Hans Magnus Enzensbergers "Kreubst du das Lerd (Neologismus)":

"Kreubst du das Lerd, wo die Zertissen breun,
Im dischen Lurb die Gonten-Schaffeln geun,
..."
Archiv: Literatur

Film

In der NZZ betrachtet Claudia Schwartz die Serie "Game of Thrones", deren letzte Staffel am 14. April beginnt, als popkulturelles Phänomen. Woraus speist sich dessen Faszinationskraft? Womöglich aus seiner Anschlussfähigkeit an feuilletonistische Diskurse, erfahren wir: "Es ist die Frage nach dem Zusammenhalt beziehungsweise Zerfall von Gesellschaften, die den Zuschauer involviert. Literaturwissenschaftler und Philosophen erkennen hier, wo Dynastien rivalisieren, Allianzen wechseln und Intrigen geschmiedet werden, wahlweise machiavellistische Machtpolitik oder einen populärwissenschaftlichen Herrschaftsdiskurs frei nach Max Weber. "

Weitere Artikel: Für das Cargo-Blog blättert sich Bert Rebhandl durch die März-Ausgabe der Filmkritik von 1969. Rüdiger Suchsland (Artechock) und die Tagesspiegel-Redakteure gratulieren Volker Schlöndorff zu seinem gestern gefeierten 80. Geburtstag. Für den Filmdienst hat Simon Hauck mit dem Jubilar gesprochen, Dlf Kultur hat zu diesem Anlass eine Lange Nacht über den Regisseur online gestellt.

Besprochen werden Harmony Korines "Beach Bum" (Standard, mehr dazu hier), der Prachtband "Das Star Wars Archiv" ("eine Art Filmhochschule in nuce", meint Thomas Groh im CulturMag), der Netflix-Film "The Highwaymen" mit Woody Harrelson und Kevin Costner (Standard, SZ, Welt), Tim Burtons "Dumbo" (From Beyond), Jan Hafts Dokumentarfilm "Die Wiese" (Jungle World), die Dokumentarfilme "Talking Money" von Sebastian Winkels und "Fair Traders" von Nino Jacusso (Freitag), die Netflix-Serie "Osmosis" (FAZ) und Robert Redfords Abschiedsfilm "Ein Gauner und Gentleman" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Die erstmalige Veröffentlichung von Marvin Gayes "You're the Man" ist zwar keine philologische Sensation - verstreut waren die zwischen "What's Going On?" und "Let's Get It On" entstandenen Aufnahmen oder Varianten davon zum großen Teil auch andernorts zu finden, auch mangelt es dem Album am verbindlichen Aufbau anderer Veröffentlichungen des Autorensoul-Pioniers -, doch bemerkenswert ist diese Zusammenstellung allemal, meint ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt: Sie "postuliert Fantasien eines grüneren, gesünderen Lebens, aus deren weitschweifigen Arrangements die Koksreste beinahe buchstäblich herausrieseln, und zementiert Gayes lebenslange Tendenz, Frauen entweder als Heiligenfiguren oder Teufelsanbeterinnen zu besingen. Es ist zu viel, zu krass, zu geil, zu gut, zu peinlich - die Art von erhellendem Selbstporträt, die den meisten Künstlern nur dann gelingt, wenn sie es gar nicht darauf angelegt hatten. Die Wirkung dieser Musik auf heutigen R 'n' B ist offensichtlich." Im Dlf spricht Jens Balzer über die Veröffentlichung, die in voller Länge auf Youtube Music steht:



Weitere Artikel: Max Annas und Annett Busch schreiben in der taz einen Nachruf auf den westafrikanischen Saxofonisten Issa Cissokho. Für Pitchfork hört sich Rich Juzwiak durch Janet Jacksons 2004 erschienenes Album "Damita Jo". Das österreichische Musikmagazin Skug trauert um seinen Mitbegründer, den Kritiker Hans Kulisch. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Kai Sina über "Julep" von den Punch Brothers:



Besprochen werden Bodo Mrozeks Studie "Jugend Pop Kultur - eine transnationale Geschichte" (Tagesspiegel, hier der Autor im Gespräch), eine Neuausgabe des Soundtracks zu William Friedkins Thriller "Cruising" (Pitchfork), Olga Neuwirths bei der Maerzmusik in Berlin aufgeführte Neuvertonung des Stummfilms "Stadt ohne Juden" (taz), ein Carl-Nielsen-Konzert des Tonhalle Orchesters unter Alan Gilbert (NZZ) und Michail Pletnjows Beethoven- und Liszt-Konzert in der Philharmonie Essen ("ein Abend der unbequemen Wahrheiten und schmerzhaften Erkenntnisse", so Isabel Herzfeld in der FAZ).
Archiv: Musik