Efeu - Die Kulturrundschau

Das Ich will likes

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12.04.2019. Die staunende SZ erlebt in Basel, wie Picasso und Braque den Kubismus schufen. Die taz lernt in Berlin, wie sehr Emil Nolde versuchte, von den Nazis akzeptiert zu werden. Die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig stellt sich in der NZZ schaudernd eine neue Literaturkultur des Ichs vor. Die SZ versinkt auf der Mailänder Möbelmesse in vulgärer Retro-Postmoderne. Die FAZ hört eine perfide Manon.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2019 finden Sie hier

Kunst

Pablo Picasso, Mädchenbildnis, 1914. © Centre Pompidou, Mnam - CCI/Jean Claude Planchet/Dist. RMN-GP © Succession Picasso / 2019, ProLitteris, Zurich


Fahren Sie in die Schweiz, empfiehlt Gottfried Knapp in der SZ. "Wohl noch nie ist der Pariser Teil der Entwicklungsgeschichte der Moderne so umfassend dargestellt worden" wie derzeit in Basel. Dort kann man außer der Ausstellung über den jungen Picasso in der Fondation Beyeler jetzt auch eine Ausstellung im Kunstmuseum Basel über den "Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger" sehen. "Im ersten Raum - er trägt den Titel "Primitivismus" - ist zu erleben, wie radikal Picasso, Georges Braque oder André Derain um 1907 auf die irritierend fremdartigen Werke außereuropäischer Kulturen reagiert haben. Archaische Kultobjekte treffen hier auf moderne Bilder. ... Wie diese beiden Männer in den folgenden Monaten auf das allmähliche Verholzen der von ihnen gemalten Figuren mit immer präziseren Spaltungen antworteten und so gemeinsam den Kubismus entwickelten, wird in den folgenden Räumen zum Ereignis. Besonders eindrucksvoll lässt sich der Einfluss von Paul Cézanne nachvollziehen."

Jack Whitten, Apps for Obama, Detail, 2011, Privatbesitz, courtesy Zeno X Gallery © Jack Whitten, courtesy Zeno X Gallery, Antwerp / John Berens


Im Hamburger Bahnhof in Berlin kann man derweil einen ganz anderen Zugang zu afrikanischer Kunst erleben, nämlich mit einer Ausstellung des afroamerikanischen Malers Jack Whitten, schreibt Simone Reber im Tagesspiegel: Hier "lassen vor allem die reliefartigen Mosaikbilder aus den letzten Jahrzehnten des Schaffens ihren Charme spielen. In ihnen verbinden sich Malerei und plastisches Arbeiten. Als Jack Whitten mit der Holzschnitzerei begann, beschäftigte er sich intensiv mit afrikanischen Artefakten. Anders als die Expressionisten und Kubisten wollte er jedoch den spirituellen Gehalt der afrikanischen Figuren und Masken ergründen, er wollte, wie er später schrieb, über Picasso hinausgehen. Seine Suche nach dem afrikanischen Spirit übertrug sich in die Malerei."

Emil Nolde, Herrin und Fremdling, o. D. (wahrscheinlich Vorlage für das Gemälde Nordische Menschen, 1938), © Nolde Stiftung Seebüll / Dirk Dunkelberg


In der neuen Nolde-Ausstellung im Hamburger Bahnhof kann man jetzt gut nachvollziehen, welche Mühe Emil Nolde sich gab, von den Nazis anerkannt zu werden, lernt taz-Kritiker Wolfgang Ruppert: "Er distanzierte sich vom Christentum, weil dieses jüdischen Ursprungs sei, und fand im Nationalsozialismus seinen Glauben. Er malte bis in die fünfziger Jahre keine christlichen Themen mehr. Als zahlreiche seiner Werke 1937 in der Ausstellung 'Entartete Kunst' in München gezeigt wurden, erhielt dies die Wirkungsmacht einer offiziellen Ausgrenzung. Nach seiner Intervention mit Verweis auf seine Parteimitgliedschaft bei Goebbels wurden seine Bilder bei den weiteren Stationen der Ausstellung nicht mehr gezeigt. Nolde malte nun Heldengestalten der Wikinger und mythische Kultszenen mit 'heiligem Feuer'." Es nützte nichts: "1940 sprach der Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, Adolf Ziegler, ein Berufsverbot gegen ihn aus." (Eine weitere Ausstellungsbesprechung gibts im Tagesspiegel)

In seinem Blog (und in der Welt) schreibt auch Thomas Schmid: "Die Kunstkritik übersieht gerne, dass der deutsche Expressionismus, zu dem man Nolde zählen muss, von Anfang an auch eine deutsch-völkische Unterströmung hatte. Es geht um das Echte gegen das Gekünstelte, das Wuchtige gegen das Zierliche, das Dramatische gegen das Gefällige, das Nordische gegen das Südliche, vor allem gegen das Französische, das Deutsche gegen das Jüdische. In diesem Kampf steht Nolde in erster Reihe, für einen 'nordischen Expressionismus'."

Dass Emil Nolde nicht der einzige deutsche Maler mit Sympathien für die Nazis war, erzählen auch Christiane Meixner, Christiane Peitz, Birgit Rieger und Georg Ismar im Tagesspiegel: "Eine Ausstellung im Brücke Museum zeigt ab 14. April die schwierige Gemengelage anhand ehemaliger Brücke-Künstler: Maler wie Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner hegten um 1933 und in den Jahren danach noch die Hoffnung, mit ihrer Kunst Anerkennung unter den Nationalsozialisten zu finden. Auch der Architekt Mies van der Rohe versuchte zunächst mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten, bevor er verfolgt und vertrieben wurde. Genauso wie der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer, der ebenfalls aus seinem Lehramt gejagt wurde. Der geläufige Gegensatz von hier 'entarteter Kunst' und dort 'Nazi-Kunst' wurde in letzter Zeit vielfach angezweifelt und widerlegt."

Weitere Artikel: Gropius-Bau-Chefin Stephanie Rosenthal wird die nächste Biennale-Jury in Venedig leiten, meldet der Tagesspiegel. Im New Yorker stellt Peter Schjeldahl den Maler T.C. Cannon vor, dem die New Yorker Abteilung des Smithsonian's National Museum of the American Indian gerade eine große Retrospektive widmet.

Besprochen werden außerdem Roger Melis' Fotoretrospektive "Die Ostdeutschen" in den Berliner Reinbeckhallen (Berliner Zeitung), "Christo - Walking on Water", Andrey Paounov Filmdoku zu Jeanne-Claudes und Christos Projekt "The Floating Piers" (taz), die Ausstellung "Van Gogh and Britain" in der Londoner Tate Britain (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit finnischer Kunst in der Kieler Stadtgalerie (taz) und die Ausstellung "Botticelli. Heroines and Heroes" im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig malt sich in der NZZ ihren persönlichen Albtraum aus, dass künftig alle irgendwie Literatur aus der ersten Person Singular schreiben könnten - von Bots geschult, von literarischen Plattformen mit Aussicht auf eine Veröffentlichung angelockt. "Das Veröffentlichen von Betroffenheitsliteratur wird uns nicht erspart bleiben, ungefilterte Privaterfahrungen im Sud aus Meinungen. Es wird eine neue Literaturkultur entstehen. ... Hier wird das Ich gefeiert. Und alle anderen Ichs aus der teilnehmenden Community können als Iche mitreden. Man kann sich anmelden, und schon ist man als Ratgeber und Kritiker oder Autor in einer Community, die Text produziert und konsumiert. Das Ich will likes, Anerkennung für seine Publizitätswünsche. Der voyeuristische Heißhunger auf die sogenannte Wirklichkeit wird gestillt, denn nur aus ihr wird berichtet."

Weitere Artikel: Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von den Auflageproblemen, die ein kleiner Verlag - in diesem Fall der Verbrecher Verlag mit Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" - nach einer großen Auszeichnung kriegen kann. In der NZZ meditiert Thomas Ribi über das Verhältnis zwischen Dichtern, Wahrheit, Fiktion und Fake News.

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (Tagesspiegel, Dlf Kultur hat mit der Autorin gesprochen), neue Buchveröffentlichungen von Siri Hustvedt (Berliner Zeitung, Stefan Michalzik hat für die FR einen Lesung besucht), Gioacchino Criacos Krimi "Die Söhne der Winde" (Freitag), Claudia Rikls Krimi "Der stumme Bruder" (Freitag), Elke Erbs "Gedichtverdacht" (NZZ) und Éric Vuillards "14. Juli" (SZ).
Archiv: Literatur

Film

Die Grenzen des Humanoiden: Ali Abbasis "Border"

Dem in Schweden lebenden Regisseur Ali Abbasi ist mit "Border" ein Glanzstück des modernen phantastischen Kinos geglückt, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR: Die Geschichte einer verunstaltet wirkenden, von Eva Melander gespielten Polizistin mit einer besonderen Begabung als buchstäbliche Schnüfflerin wandelt sich von einem Cop-Procedural zu einem Körperfilm a la Cronenberg, "mit Sexszenen, die die Grenzen des Humanoiden ein Stück weit überwinden. Wenn die beiden Liebenden nackt durch die Wälder trollen, überhöht dies der bildkräftige Filmemacher Ali Abbasi zu einem Sommernachtstraum von irrealer Schönheit." Artechock würdigt den Film mit einem vier Kritiken umfassenden Dossier, darunter eine weit weniger begeisterte von Rüdiger Suchsland, der mit dem Film arge Probleme hat: "Einmal mehr wird hier das elfte Gebot unserer Gegenwart exekutiert: Du musst deine Identität finden. Und du musst deiner Identität folgen. Aber ist 'Identität', die ja, wenn von ihr die Rede ist, immer als kollektive gedacht und gemeint ist, eigentlich etwas anderes, als ein schöneres Wort für 'Gott' und 'Tradition', Volk und Blut und Boden?" Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und beim Perlentaucher.

Netflix
kauft das Kino auf. Genauer gesagt: Der Streamer will das altehrwürdige Grauman's Egyptian Theatre am Hollywood Boulevard von der American Cinematheque abkaufen. Was steckt hinter dem Plan? "Offenbar geht es darum, einen Ort für Netflix-Produktionen zu schaffen, von denen sich die Firma erhofft, dass sie Preise gewinnen, Oscars möglichst. Preise, die bis auf weiteres an die Bedingung einer Kinoauswertung geknüpft sind", mutmaßt Verena Lueken in der FAZ. Denn "der Fall 'Roma' zeigte, dass nicht alle Kinobetreiber bereit sind, ihre Säle für einen kurzen Netflix-Auftritt zur Verfügung zu stellen." Dies scheint aber nicht der Hauptzweck des ungewöhnlich anmutenden Anschaffunsgplans zu sein, wie Variety herausgefunden will: Demnach suche Netflix in erster Linie lediglich einen angemessenen Veranstaltungsraum.

Weitere Artikel: Dunja Bialas berichtet auf Artechock vom ersten Arbeitstreffen des Hauptverbands Cinephilie, das vor kurzem in Berlin stattgefunden hat und wo darüber diskutiert wurde, wie das Kinopublikum wieder mehr Hunger auf Bilder jenseits der Konfektionsware von Blockbuster und Arthouse kriegen kann. In der Presse stellt Katrin Nussmayr Kelly Copper und Pavol Liska vor, die als Nature Theater of Oklahoma Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" als experimentellen Super8-Alpen-Horrorfilm adaptiert haben. Auf critic.de empfiehlt Robert Wagner die Bo-Widerberg-Retrospektive im Berliner Kino Arsenal.

Besprochen werden Neil Marshalls Comicadaption "Hellboy - Call of Darkness", dem die Kritik insbesondere nach Guillermo del Toros ersten beiden "Hellboy"-Filmen wenig abgewinnen kann (epdFilm, ND, Standard, Tagesspiegel), Andrey Paounovs Dokumentarfilm "Christo - Walking on Water" (taz, Standard, SZ, die Welt hat mit Christo gesprochen) und Paul Danos Regiedebüt "Wildlife" (Presse).
Archiv: Film

Bühne

Szenen aus "Manon", Foto: Foto: T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf


Lotte Thaler sah für die FAZ in Zürich Jules Massenets Oper "Manon" mit dem "Traumtenor" Piotr Beczała als Chevalier und einer perfiden Elsa Dreisig als Manon, die den Engel gab, während sie ganz anderes im Sinn hatte: "Die derzeit hoch gehandelte Elsa Dreisig, noch keine dreißig, feiert in ihrem Rollendebüt mit stimmlicher Hingabe die Wiederauferstehung der im feministischen Zeitalter aus der Mode gekommenen femme fragile und verkörpert eine Manon von unendlicher Wehmut. Ihre extrem leise begleitete Arie 'Adieu, notre petite table' ist von madonnenhafter Heiligkeit, löst aber beim Publikum eine ganz unangemessene Rührung aus, denn der beklagte Abschied vom Tisch des Chevaliers überdeckt nur ihre selbstsüchtigen Absichten: Sie will Schönheitskönigin von Paris werden."

Weitere Artikel: Julia Spinola unterhält sich für die SZ mit Dmitri Tcherniakov, der gerade in Berlin Prokofjews komische Oper "Verlobung im Kloster" inszeniert, über dessen Werdegang. Shirin Sojitrawalla stellt in der nachtkritik das Europa-Ensemble von Oliver Frljić vor, das derzeit mit "Imaginary Europe" an den Kammerspielen Stuttgart zu sehen ist. In der taz berichtet Katja Kollmann vom "Festival der internationalen neuen Dramatik" an der Schaubühne

Besprochen werden die John-Adams-Opern "Nixon in China" und "Girls of the Golden West" an der Staatsoper Stuttgart und beim Opera Forward Festival in Amsterdam (NZZ), Hofesh Shechters Choreografie "Mega Israel" mit der Stuttgarter Gauthier Dance Company im Haus der Berliner Festspiele (Berliner Zeitung) sowie Johan Simons Inszenierung von Büchners "Woyzeck" am Wiener Akademietheater ("Man sieht eine Inszenierung, die vielleicht ein bisschen zu viel von Fellini geträumt hat. Mit ihrem Bühnenbild erbringt sie ihrer Koproduktionsstätte Bochum allerdings einen schönen Traditionsbeweis, denn hier hatte 1980 Matthias Langhoff den 'Woyzeck' ebenfalls im Zirkuszelt spielen lassen", schreibt Simon Strauß in der FAZ, nachtkritik, Standard).
Archiv: Bühne

Design

Das Möbeldesign verabschiedet sich vom funktionalien Minimalismus - es wird wieder geprotzt und exzessive Retro-Nostalgie bedient, lautet Max Scharniggs Fazit in der SZ nach seinem Besuch der Mailänder Möbelmesse. "In vulgärer Trägheit breiten sich die neuen Sofalandschaften vor einem aus, wie Gletscherzungen in hellem Woll-/Polyamidgemisch oder Kalbsleder. Eigentlich erlebt man in diesen Wohnvisionen die häusliche Entsprechung der SUV-Kultur. ... Selbst ein zuverlässig minimalistischer Hersteller wie das italienische Avantgarde-Label Plank, stellt seine furiose Origami-Sitzskulptur 'Land' von Altmeister Naoto Fukasawa in Farben aus, die an eine DDR-Kindertagesstätte erinnern. 2019 gilt: Farben und Muster sind besser, wenn die Betrachter dabei sentimental werden. Ein Ende der Retro-Postmoderne ist nicht absehbar."
Archiv: Design

Musik

Jonathan Fischer hat für die SZ diverse Vinyl-Liebhaber-Labels besucht, darunter das Label Tramp Records, das sich auf die Wiederveröffentlichung übersehener und in Vergessenheit geratener Musik spezialisiert hat. Ihn interessieren die Geschichten gescheiterter Musiker, erklärt Labelbetreiber Tobias Kirmayer. Etwa die des Soulmusikers Jesse Morgan, dessen einziges Album sich 1978 als wahres Senkblei erwies. "Der Sänger war längst nicht mehr im Geschäft. Doch Kirmeyer machte ihn wie so viele andere vergessene Soulhelden ausfindig. Telefonbücher, soziale Netzwerke und Hinweise auf Studios, Produzenten, Labels, Schrifttypen, die er den Originalplatten entnimmt, halfen ihm dabei. Manchmal schreibt Kirmeyer sogar Briefe. Weil die Musiker noch zu den Generationen ohne Internet-Anschluss gehören." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Teeniestar Billie Eilish ist keineswegs so authentisch zerschlissen, wie ihr Image nahelegt, schreibt Johann Voigt in der taz: Sie "ist, trotz all der zur Schau gestellten Unangepasstheit, trotz der trashigen Fotos, vor allem Produkt, Teil eines Unternehmens, in das ihre ganze Familie involviert ist." Für die NZZ wirft Thomas Schacher einen ersten Blick auf Paavo Järvis Pläne für seine erste offizielle Saison als Chefdirigent der Tonhalle-Gesellschaft Zürich.

Besprochen werden das neue Album "Life Metal" der Drone-Mönche Sunn o))) (The Quietus), das Debüt des Jazzquartetts 4 Wheel Drive, dem auch Michael Wollny angehört (NZZ), ein Berliner Abend mit Grigory Sokolov (Tagesspiegel), Chupame El Dedos neues Album "No te metas con Satan" (taz), eine von Simon Rattle dirigierte Johannespassion (FR), Bodo Mrozeks Studie "Jugend - Pop - Kultur" (FAZ) und Jan Jelineks und Asunas kollaboratives Album "Signals Bulletin" (Pitchfork).


Archiv: Musik