Efeu - Die Kulturrundschau

Mode-Frohsinn à la Gucci

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02.10.2019. Mit zitternden Knien stehen Guardian und SZ vor Kara Walkers Brunnenallegorie Fons Americanus, bei der einer afrokaribischen Venus das Blut aus der Kehle spritzt. Monopol beobachtet, wie sich der Boykott-Virus im Kunstbetrieb ausbreitet. Die Zeit bewundert die planen Flächen in der Mode des Künstlers Sterling Ruby. Die taz geht zur Post aufs Anti-Mietwucher-Festival. Außerdem trauern die Feuilletons um Jessye Norman, erinnern aber auch daran, dass sie erst 1983 an der New Yorker Met singen durfte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.10.2019 finden Sie hier

Kunst

Kara Walkers "Fons Americanus". Foto: Tate Modern.


Im Guardian feiert Adrian Searle den grandiosen Brunnen, den Kara Walker in der Turbinenhalle der Tate errichtet hat, um London daran zu erinnern, wie vordergründig angenehm und verspielt eine Gesellschaft daherkommen kann, die vom Sklavenhandel lebt: "Ihre allegorische Skulptur verdankt ihre Einprägsamkeit der Anlehnung an James Gillrays und Thomas Rowlandsons Karikaturen aus der Regency-Zeit, aber auch weiterem vielschichtigen Referenzen: William Turners abolitionistische Gemälde 'Das Sklavenschiff', dessen Originatitel 'Sklavenhändler werfen Tote und Sterbende über Bord - ein Taifun zieht auf' lautete, sehen wir hier als Badewannen-Fregatte wieder, die über Wellen aus Gips reitet. Walker verweist auf Damien Hirsts Hai in Formaldehyd, aber man muss auch an John Singleton Copleys Gemälde von 1778 'Watson and the Shark' denken. Der zwöljährige Brook Watson wurde nach einer Hai-Attacke im Hafen von Havanna gerettet, und Copleys Bild zeigt, wie er von einer Gruppe Männer gerettet, darunter auch ein Schwarzer. Watson wurde später Mitglied des Unterhaus und Lord Mayor von London. Er stimmte gegen die Abschaffung der Sklaverei."

In der SZ ahnt Catrin Lorch, dass der Brunnen ein gewaltiger Publikumsmagnet werden wird, trotz grausamer Details: "Walkers Version wird von einer wirbelnden, afro-karibisch-amerikanischen Priesterin bekrönt, aus deren Brüsten das Wasser in hohem Bogen spritzt. Allerdings ist dieser Venus die Kehle durchgeschnitten. Aus ihrer Wunde sprudelt die dritte Fontäne."

"Boykott ist ein hochansteckender Virus", stellt Elke Buhr auf Monopol fest, nachdem die Stadt Aachen entschieden hat, dem libanesischen Künstler Walid Raad doch nicht ihren Kunstpreis zu verleihen, weil er BDS unterstützt. Im Grunde könne man dann gleich alle KünstlerInnen aus der arabischen Welt ausschließen, gaubt sie: "Anders als der Musikbetrieb ist die Kunstszene in Deutschland bislang von BDS-Boykottaufrufen verschont geblieben. Biennalen und Museen sind Orte, an denen sich Künstler und Künstlerinnen begegnen können, die sonst von kulturellen und politischen Mauern getrennt werden - so wie Israelis und Palästinenser. Je härter die Konfliktlinien, desto wichtiger ist der alternative Raum der Kultur, der Gespräche noch möglich macht. Wir sollten alles tun, um diesen Raum zu erhalten."

Weiteres: Libération berichtet, dass der Präsident der Freunde des Palais de Tokyo, Bernard Chenebault, gehen musste, nachdem er auf Facebook seinen Aggressionen gegen Greta Thunberg freien Lauf gelassen hat. Standard und Presse melden, dass Eike Schmidt einen Monat vor Amtsantritt als neuer Leiter des Kuntshistorischen Museums absagt: Er bleibt jetzt doch lieber in Florenz an den Uffizien. Die Österreicher sind stinksauer. In der FAZ gratuliert Freddy Langer der Starfotografin Annie Leibovitz zum Siebzigsten, im Tagesspiegel schreibt Deike Diening: "Seit den siebziger Jahren ist Leibovitz immer dort, wo sich Macht und Einfluss konzentriert."

Besprochen werden die Ausstellung der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen in der Frankfurter Schirn (taz), die Ausstellung "Durch Mauern gehen" im Berliner Gropiusbau (FAZ) und eine Rembrandt-Schau in der Dulwich Picture Gallery London (Guardian).

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Design

Sterling Ruby, 2019
In der Zeit porträtiert Ingeborg Harms den Künstler und Designer Sterling Ruby, der seine Arbeitskleidung 2012 bei Dior herausbrachte und dem der New Yorker gerade in seiner Mode-Ausgabe den Ritterschlag versetzte: "Als Inspiration nannte Ruby die konservative Kleidung der Mennoniten und Amish im ländlichen Pennsylvania seiner Kindheit. Das verrät einiges über das Pathos, mit dem er seine Mode aufladen möchte. Dank des Einsatzes von Enzymen, Mineralien, Bleich- und Färbeprozessen verweist seine Kollektion auf einen weiteren Einfluss: die Popkulturen seiner Jugend. 'Es musste zerrissen oder abgetragen aussehen', sagt der Künstler. Die Farbgebung erinnert an individuelle Skateboard-Bemalung, die Batik-Anmutung an Hippiekleider, die Unordnung an Punk-Ideale - lauter Codes des Selbstgemachten, die sich mit der schlichten, ausdrücklich gegen die Moden gerichteten plain dress-Praxis der Mennoniten überschneiden. Dabei ist es Rubys ganz eigene Art der Camouflage, die ihn vom zeitgenössischen Mode-Frohsinn à la Gucci abhebt. Das Irreguläre und 'Handgemachte' beweist, dass hier einer auf Kunstniveau mit planen Flächen umgeht." (Siehe zu Ruby auch unsere Magazinrundschau vom 3.9.19)
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Film

Der Motor springt nicht an: Christian Schwochows "Deutschstunde"-Verfilmung

Christian Schwochow
hat Siegfried Lenz' Nachkriegsliteratur-Klassiker "Deutschstunde" verfilmt. Dass in der Vorlage der Maler Emil Nolde verklausuliert vom Nazi-Parteigänger zum Nazi-Opfer umgedeutet wird, gilt mittlerweile als Fakt. Unbekömmlich findet es FAZ-Kritiker Andreas Kilb daher, dass der Film sich um diesen Aspekt "in mal honigfarbenem, mal bläulich-kaltem Licht" ziemlich herumdrückt: "Wenn man will, kann man die Konsequenz, mit der dieser Film das Thema Nolde ausblendet, als Rettung des Romans vor seinen Lesern verstehen, und genau so redet es sich auch Schwochow zurecht. ... Schwochow und seine Produktionsdesigner haben aus den Gemälden, die sie zeigen, jeden greifbaren Bezug zu Nolde getilgt. Der Maler Nansen malt ein bisschen wie Kirchner und Beckmann, aber auf seinem Dachboden stehen auch neusachliche Porträts und Landschaften. Nansens ästhetisches Profil bleibt ebenso vage wie seine politische Haltung." Die Folge: Der Film läuft ab mit der "Zwangsläufigkeit eines Planspiels. Der Motor der Geschichte springt nie an."

Mit dieser "Deutschstunde" fühlt sich Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels tatsächlich wieder im Klassenzimmer angekommen: "Penetrant reiht Schwochow Metapher an Metapher. ... Die plakative Ästhetik dieser Verfilmung mag das eine sein. Das andere ist das Lehrbuchhafte." Martin Thomson von der Presse lobt hingegen, dass der Film immerhin versucht, Lenz' sinnliche Schilderungen der norddeutschen Landschaften ins Filmische zu übersetzen. Eine "visuell ambitionierte Literaturverfilmung" bezeugt auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, denn "Schwochow vermeidet alles Anheimelnde. Dass es ihm dennoch wenig gelingt, die Künstlerfigur zu beleuchten, wird so freilich noch sichtbarer."

Weiteres: Für SpOn spricht Hannah Pilarczyk mit Thomas Heise über dessen Essayfilm "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (mehr dazu hier). Torsten Wahl empfiehlt in der Berliner Zeitung eine Reihe mit DDR-Fernseharbeiten im Zeughauskino. Den Berliner taz-Lesern rät Fabian Tietke derweil zum Besuch einer der libanesischen Dokumentarfilmemacherin Jocelyne Saab gewidmeten Reihe im Kino Arsenal. Das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt hat ein Filmgespräch mit ihr online:



Besprochen werden Guy Nattivs Rassismusdrama "Skin" (SZ) und die in der Frankfurter Rapszene spielende Netflix-Serie "Skylines" (Welt, Presse),
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Literatur

Für ZeitOnline hat Khuê Phạm mit dem US-Schriftsteller Ocean Vuong gesprochen, dessen "Auf Erden sind wir kurz grandios" international als literarisches Debütwunder gefeiert wird. Unter anderem geht es in dem Gespräch um die Erfahrung, als kleiner Junge und vietnamesischer Migrant in einem entlegenen Ort in den USA aufzuwachsen: "Wir lebten mitten im Zentrum der Stadt, in einer Community von Schwarzen und Latinos. Weil wir kein Auto hatten, mussten wir überallhin laufen. Ich wusste nicht, dass Amerika mehrheitlich weiß ist, bis ich älter wurde und zur Mall fuhr. Da dachte ich: Moment, was ist denn hier los?! Der Mythos ist, dass Amerika ein Schmelztiegel ist, aber in Wahrheit ist nichts miteinander verschmolzen, alles ist voneinander getrennt. Wenn ich jetzt daran denke, glaube ich, dass ich durch diese unterschiedlichen sozialen Welten gelernt habe, ein Chamäleon zu sein: Ich kann mein Verhalten und meine Art zu reden an jeden Raum anpassen, in dem ich mich befinde. Für einen Schriftsteller ist es das Größte: Ich kann mich in jeden Charakter verwandeln, in jede Figur."

Besprochen werden unter anderem  Richard Wrights wiederaufgelegter Roman "Sohn dieses Landes" über die Segregationszeit in den USA (taz), Odd Klippenvågs "Ein liebenswerter Mensch" (Sissy), Kenneth Bonerts "Der Anfang einer Zukunft" (FR), Alain Ayroles' und Juanjo Guarnidos Abenteuercomic "Der große Indienschwindel" (Tagesspiegel), Nina LaCours "Alles okay" (NZZ) und Per Pettersons "Männer in meiner Lage" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Für die taz war Tom Mustroph beim Anti-Mietwucher-Festival "Berlin bleibt" im HAU, das mit der markigen Parole "It's a battlefield, baby!" auch den ehemaligen Postturm am Halleschen Ufer bespielte: "Die Forderung nach Rekommunalisierung wird selbstverständlich auch gestellt. Und ein Wandbild hat gar das Potential, die Hipster-Fraktion innerhalb des HAU-Publikums nachdenklicher zu stimmen. In zwei großen Sprechblasen wird gefragt: 'Wie viele Co-Working-Spaces & Start-ups braucht es, um eine Nachbarschaft abzufucken?'"

Weiteres: In der FAZ berichtet Anna Vollmer von Milo Raus "Revolta della Dignita" in Matera.
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Stichwörter: Matera, Rau, Milo, Hipster

Architektur

NZZ-Kritikerin Sabine von Fischer verfolgt in der Ausstellung "Swissness Applied" im Kulturgüterschuppen Glarus, wie die Bauordnung des amerikanischen Städtchen New Glarus in Wisconsin bis heute schweizerische Bautradition hochhält. Oder zumindest so gut wie: "Im realen New Glarus allerdings ist die Konstruktion teilweise handwerklich adaptiert: Einzelne Chalets sind auch mit Fotoprint auf Kunststoff realisiert und mit direktem Highway-Anschluss schließlich doch genauso amerikanisch wie schweizerisch."
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Musik



Die Feuilletons trauern um die Sopranistin Jessye Norman (mehr bereits hier). "Eine so unerschöpflich scheinende, geradezu ozeanisch flutende Stimme hat es in den letzten hundert Jahren nur wenige Male gegeben", schwärmt Jens Malte Fischer in der FAZ: "Ist das möglich, eine Stimme von solch prachtvoller Schönheit und solchem Volumen, und das aus einer einzigen Kehle? ... Es gibt von Jessye Norman keine schwachen oder auch nur schwächeren Aufnahmen. Selbst wenn sie Rollen im Studio sang, wie etwa Carmen oder Elsa aus Wagners 'Lohengrin', die mit ihrer sängerischen Signatur nicht wirklich harmonierten, war deren technische und musikalische Gestaltung frappierend."

Reinhard J. Brembeck erinnert sich in der SZ an persönliche Begegnungen und zeichnet Normans Werdegang nach. "Immer wieder gab sie jenen Heldinnen ihre Stimme, die von der Gesellschaft zerstört werden und am Leben scheitern. Die Opernliteratur ist voll solcher Verzweiflungsfrauen, deren Schicksale im Gegensatz zu denen der Operntenorhelden immer noch wie aus dem Leben gegriffen wirken. ... So wurde Jessye Norman in ihrer Kunst eine Kämpferin für die Frauen- und Menschenrechte, während ihr Ruhm als Sängerin ins schier Maßlose wuchs. Obwohl sie erst 1983 selbst an der Met singen durfte. Norman-Auftritte wurden zu Kultereignissen." Weitere Nachrufe schreiben Judith von Sternburg (FR), Frederik Hanssen (Tagesspiegel) und Christian Wildhagen (NZZ).

Weitere Artikel: Für die NZZ hat sich Christian Wildhagen mit Paavo Järvi getroffen, der jetzt auch offiziell seinen Posten als Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters antritt. Stefan Ender spricht im Standard mit Simone Young, die in Wien Brittens "A Midsummer Night's Dream" dirigieren wird. In der taz freut sich Karl Bruckmaier auf das heutige Kölner Konzert von Peter Blegvad und Anthony Moore.

Besprochen werden das neue Seeed-Album (Tagesspiegel, ZeitOnline) und neue Popveröffentlichungen, darunter Danny Browns neues Album "uknowwhatimsayin" (SZ).
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