Efeu - Die Kulturrundschau

Kreative Bipolarität

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2020. Der Standard erinnert an die kulturbolschewistische Bombe, die Bertolt Brecht vor siebzig Jahren über Österreich zündete. Die SZ wagt den Ausbruch aus dem Videostream und spaziert mit Elfriede Jelinek im Ohr durch Oberhausen. Die NZZ vermisst die aus der Kunstgeschichte gekickten Surrealistinnen. Der Freitag blickt auf Berlins vor dem Abgrund taumelnden Clubs. Und in der Deutschen Welle fordert Kurzfilmtage-Leiter Lars Henrik Gass schon mal eine geregelte Musealisierung des Kinos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2020 finden Sie hier

Bühne

Elfriede Jelineks "Schneewittchen". Foto: Isabel Machado Rios / Theater Oberhausen

Dass sich Oberhausen mal nach Freiheit anfühlen könnte, hätte SZ-Kritikerin Cornelia Fiedler nicht geglaubt und ist sehr dankbar, dass Paulina Neukampf und Romi Domkowsky Elfriede Jelineks "Prinzessinnendramen" nicht als hundertste Videokonferenz inszenieren, sondern als Audio-Spaziergang: "So kommt es, dass das Publikum nun in Zweierteams auf Abstand durch die Stadt stromert. Dazu hört man kurze Jelinek-Hörspiele: Schneewittchen sucht die Wahrheit und findet den Tod; Dornröschen lebt nur für den männlichen Blick; Rosamunde steuert in eine Zwangsehe. Einer der Wege führt vom leeren Kino, das die renommierten Kurzfilmtage absagen musste, vorbei an leeren Restaurants und dem früheren Wohnhaus von Christoph Schlingensief bis zum besagten Marktplatz. Dort hängen Menschen herum, die die Gesellschaft genauso abgeschrieben hat, wie derzeit die Kulturschaffenden: als angeblich nicht systemrelevant."

Im Standard erinnert Kurt Palm daran, dass Bertolt Brecht vor siebzig Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft bekam. Riesenskandal! Die Salzburger Nachrichten meldeten damals: "Kulturbolschewistische Atombombe auf Österreich abgeworfen", weit Palm: "Brecht gehörte bekanntlich zu denen, die - wie es Thomas Mann bereits 1944 formulierte - im 'Antikommunismus die Grundtorheit unserer Epoche' sahen. Die Gedankengänge derer, die damals im österreichischen Kulturbetrieb das Sagen hatten, sind heute in vielen Fällen schwer nachvollziehbar. So schrieb der Schriftsteller Friedrich Torberg, einer der größten Brecht-Hasser seiner Zeit, 'dass selbst Hänschen klein kommunistische Propaganda wäre, wenn Brecht als Verfasser zeichnete'. Diese Äußerung wurde 1961 zu einem Zeitpunkt gemacht, als es in Österreich bereits einen seit acht Jahre fast lückenlos durchgehaltenen Brecht-Boykott gab."

Die Coronakrise offenbart die soziale Unwucht zwischen institutionalisiertem Theater und freier Szene, die ihre flexiblen Struktur vielleicht zu positiv gedeutet hat, wie der Theatermanager Stefan Rosinski in der FAZ schreibt. Kein Grund sie hängen zu lassen: "Wer die kreative Bipolarität schätzt, sollte sich sorgen: Bei knappen Töpfen kann es ideologisch werden. Denn während der Kipppunkt für die freie Szene schnell erreicht ist, haben die Institutionen aufgrund ihrer Masse mehr Spielraum und damit höhere Resilienz gegen Krisenzeiten. Fatal wäre es, wenn die 142 öffentlichen Stadt- und Staatstheater sich im Selbstschutz reflexhaft einbunkerten, bange um das eigene Überleben, das - wem wollte man es verdenken - zunächst eine Sicherung des eigenen Status quo bedeutete."

Weiteres: Frank Castorfs Rumgemoser im Spiegel beziehungsweise das Händewasch-Zitat aus der Überschrift hat gestern für die erwartbare Aufgeregtheit gesorgt, auf RadioEins kommentiert unter anderem Jens Balzer. Daniele Muscionico freut sich aufs virtuelle Theatertreffen, das am Freitag beginnt und das Publikum online zum Mitdiskutieren einlädt. Dorion Weickmann beobachtet in der SZ, wie Choreografen und Pop-Artisten in die Zoom-Sphäre wandern. Im Tagesspiegel sorgt sich Ulrich Amling um die erkrankte Bayreuth-Chefin Katharina Wagner, belässt es jedoch bei Andeutungen. Jürgen Kesting unternimmt in der FAZ zum 150. Geburtstag des Operettenkomponisten Franz Lehár einen Rettungsversuch. Und in ihrem Theaterstream zeigt die Nachtkritik heute den "Prinz von Hombung" in der Inszenierung von Philipp Preuss.
Archiv: Bühne

Film

Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, tadelt in der Medienkorrespondenz den Kultursender 3sat erheblich für den Rückzug aus dem Kurzfilm, dem auch im Onlinebereich trotz vage in Aussicht gestellter Angebote bislang kein neuer Raum geschaffen wurde. Zu beobachten sei die Abwicklung des Kulturauftrags - und das nicht einmal aus Kosten-, sondern mutmaßlich allein aus Quotengründen: Aus dem Rundfunkstaatsvertrag "ergibt sich zwangsläufig ein klarer, nämlich gegenüber gewerblichen Anbietern gegenläufiger, subsidiärer Programmauftrag hinsichtlich der Vielfalt des filmischen Angebots. Dazu muss kein Bundesverfassungsgericht zur Interpretation bemüht werden. Verteidigen und fordern muss man den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf Grundlage seines Auftrags. ... Die 3sat-Filmredaktion, die durch die Programmarbeit ihrer inzwischen verstorbenen Leiterin Inge Classen mindestens ein ebenso hohes Ansehen besessen hatte wie einst die Filmredaktion des WDR, wurde per ZDF-Verwaltungsanordnung zum 1. Dezember 2019 aufgelöst. Seitdem ist der Lizenzankauf von Filmen für 3sat plattform-organisiert mit dem ZDF verbunden."

Im Interview mit der Deutschen Welle prognostiziert Gass zudem einen coronabedingten Niedergang des kommerziellen Kinos: "Umso wichtiger ist jetzt zu klären, was uns Kino als kulturelle Praxis wert ist, wie wir schnellstmöglich eine geregelte Musealisierung des Kinos einleiten können, mit anderen Worten: Wir müssen auf Orten bestehen, die der Filmkunst und der mediengeschichtlichen Besonderheit des Kinos gleichermaßen gerecht werden, und zwar ohne faule Kompromisse mit wirtschaftlichen Überlegungen."

Eine bittere Nachricht aus den USA: Der altehrwürdige Film Comment stellt bis auf weiteres sein Erscheinen ein, stellt aber zumindest sehr vorsichtig eine Wiederaufnahme der Geschäfte in Aussicht.

Außerdem: Die österreichische Filmbranche fordert von ihrer Regierung eine Exit-Strategie aus der Coronakrise, berichtet Dominik Kamalzadeh im Standard. Einen Dammbruch meldet die SZ: Die Academy lässt 2021 erstmals reine Streamingfilme für die Oscarverleihung zu. Besprochen wird eine BluRay-Box von Kinji Fukasakus "Battle Royale"-Filmen (Intellectures).
Archiv: Film

Kunst

Meret Oppenheim: Le Déjeuner en fourrure. Foto: WikiArt

Nur wenige surrealistische Künstlerinnen wie Frida Kahlo, Meret Oppenheim oder Leonora Carrington konnten sich einen Namen mache, die meisten von ihnen wurden vergessen, bedauert Christian Saehrendt in der NZZ: "Die Bewegung des Surrealismus war damals für junge künstlerisch orientierte Frauen durchaus attraktiv gewesen: international, liberal, experimentell, progressiv. Und Paris war noch immer der Nabel der Kunstwelt. Erst mit der Nachkriegszeit und dem Kalten Krieg setzte eine reaktionäre Wende ein, die die Frauen wieder in angestammte Rollenbilder zurückdrängte und ihren Beitrag zu Kunst und Kultur kleinredete. Die surrealistische Bewegung galt mit dem Krieg, mit der deutschen Besetzung von Paris, als erledigt. Nach dem Krieg dominierte im Ostblock monumentale Propagandakunst mit starken Arbeitern und folgsamen Traktoristinnen, im Westen promoteten die USA einen ebenso monumentalen Abstrakten Expressionismus, der von männlichen Maler-Berserkern wie Jackson Pollock zelebriert wurde. So wurden die Frauen regelrecht aus der Kunstgeschichte hinausgekickt, sie schienen im Surrealismus keine Rolle gespielt zu haben."
Archiv: Kunst

Design

In der NZZ erzählt Daniele Muscionico die Firmengeschichte von Adidas, die ein neuer, ausgiebig aus den Archiven schöpfender Band aus dem Taschen Verlag bündelt. Die Einblicke sind dabei sagenhaft - auch was die Vorgeschichte des Konzerns im Nationalsozialismus betrifft: Die Brüder Adolf und Rudolf Dassler "traten 1933 der NSDAP bei. Während Rudolf schon vor Beginn des Kriegs eingezogen wurde, hielt Adi die Stellung in der Fabrik, beschäftigte Zwangsarbeiter, verlegte sich auf die Produktion von Schuhen für die Wehrmacht, später auf berüchtigte Panzerabwehrwaffen - und betreute bis Kriegsende die Hitlerjugend."
Archiv: Design

Literatur

Tell gibt Lektüretipps für Coronazeiten, darunter Laura Spinneys "1918 - Die Welt im Fieber".

Besprochen werden unter anderem Paula Irmschlers "Superbusen" (Standard), François Schuitens Comic "Die Abenteuer von Blake und Mortimer: Der letzte Pharao" (taz), Franziska Füchsls "Tagwan" (NZZ), Hari Kunzrus "Götter ohne Menschen" (Tagesspiegel), neue Gedichtbände von Uwe Kolbe und Emmy Hennings (Berliner Zeitung) und Anne Webers "Annette, ein Heldenepos" (SZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Weber, Anne, Emmys

Musik

In den USA sind zahlreiche betagte Jazz-Altmeister Covid-19 erlegen: In der SZ-Popkolumne verweist Jens-Christian Rabe auf einen Artikel im Chicago Tribune, der einige Hintergründe erörtert. "Das hohe Alter der Toten ist für die Chicago Tribune nicht die ganze Arbeit, als Berufsgruppe seien Jazzmusiker seit jeher im Stich gelassen worden. Abgesehen von den wenigen ganz großen Stars der Szene, so die amerikanische Tageszeitung, hätten Jazzmusiker in der Regel von Auftritt zu Auftritt gelebt und jahrelang - wenn nicht jahrzehntelang - keine vernünftige medizinische Grundversorgung genossen, und dafür müssten sie nun mit ihrem Leben bezahlen: 'Die Gig-Ökonomie, die sich heute in den USA ausbreitet, kennen Jazzmusiker seit den ersten Tagen ihrer Musik. Sie haben sie gelebt, unter ihr gelitten und sind an ihr gestorben - seit mehr als hundert Jahren.'"

Der Freitag spricht mit der Berliner Clubbetreiberin Pamela Schobeß, zugleich Vorsitzende der Clubcommision Berlin, über die Lage in der Szene: Angesichts sich türmender Formulare, Anträge und Stornierungen hat sie derzeit eher mehr als weniger Arbeit. Auch die seitens der Regierung gewährten Hilfsangebote nutzen nicht recht viel: "Es gibt Kreditprogramme vom Land Berlin, die kommen für uns aber definitiv nicht infrage, weil wir die nie zurückbezahlen werden können. Musikspielstätten und Clubs haben im Schnitt eine Umsatzrendite von einem Prozent, was sowieso recht wenig ist. Bei uns liegt sie allerdings bei 0,03 Prozent. Viele Clubs fallen total durch das Raster. Mittlerweile gibt es auch Zuschüsse für die Kulturbranche - das hilft uns mehr. Zunächst haben wir 15.000 Euro bekommen. Das hilft uns bis in den Mai, weit kommt man damit nicht."

Besprochen werden Hans-Joachim Roedelius' "Selbstportrait Wahre Liebe" (Pitchfork), Pisses Album "LP" (Jungle World), Lorenzo Sennis "Scacco Matto" (taz), eine Box mit Arbeiten des Jazzposaunisten Nils Wogram (NZZ, FR), Ed O'Briens Solodebüt "Earth" (Tagesspiegel) und eine von Jazzhistoriker Alan Dein zusammengestellte Compilation mit jüdischen Jazz- und Folksongs aus dem London der 20er- bis 50er-Jahre, auf der es laut laut taz-Kritiker Robert Mießner "Klezmer, Swing und Folk mit Karacho und Kondition, hochgradige Tanzmusik zumeist" zu hören gibt. Auf Bandcamp hören wir rein:

Archiv: Musik