Efeu - Die Kulturrundschau

Aus Läusen gewonnen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2020. Die SZ verabschiedet nach Corona das Tier aus der Kunst. Die Welt reist mit den Farben Vermeers einmal um den Globus. Die Musikkritiker sitzen mit feuchten Augen vor dem Bildschirm und lauschen dem traditionellen Mai-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko. Niemand konnte so wunderbar verreißen wie Marcel Reich-Ranicki, erinnert sich die Literarische Welt in einem bislang unveröffentlichten Interview. Und die Film- und Kinobranche fordert eine Abgabe von den Streamingdiensten, meldet Artechock.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2020 finden Sie hier

Literatur

Die Literarische Welt bringt ein 1986 geführtes, bislang unveröffentlichtes Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki, der darin ausführlich auf seine Getto-Erfahrungen zu sprechen kommt, die er später in seiner Autobiografie (die zu schreiben er sich in diesem Gespräch noch nicht in der Lage sah) verarbeitete. Auch um die Literaturkritik geht es und zu der gehört notwendig auch der Verriss: "Man zeigt das, was man will, indem man über das spricht, was misslungen ist in der Literatur, über das Schlechte und über das Gute. Natürlich ist die Darstellung des Guten noch wichtiger als die des Schlechten, aber jedermann weiß, dass von hundert Büchern, die erscheinen, neunundneunzig schlecht sind, und das hundertste ist halb schlecht. Das wirklich Gute ist in der Literatur wie in der Musik: sehr selten."

Jetzt ist die Zeit gekommen für die ganz dicken Wälzer der Literaturgeschichte, die man immer schon mal lesen wollte. Solchen plakativen Ansagen begegnet Dirk Knipphals in der taz auch wegen ihrer Entschleunigungs- und Kanonversessenheitsrhetorik eher skeptisch. "Krieg und Frieden" liest er dennoch gerade mit Gewinn, unter Anleitung von Joshua Rothman, der sich "kürzlich" (naja, vor fünf Jahren) im New Yorker mit Deirdre Lynch Gedanken über die Liebe zum Lesen machte: "Ein literarischer Kanon kommt bei ihnen vor, bildet aber keinen festen Felsen, um darauf Identitäten zu bauen. Stattdessen wäre es besser, von variablen Gravitationspunkten auszugehen, um die Praxis literarischer Kulte zu ermöglichen. ... Hinwendung zur Weite der Welt und der Geschichte statt Entschleunigung, Literaturkulte statt Kanon als 'eine feste Burg ist unsere Kultur' - mir kommen die Rahmenerzählungen von Rothman und Lynch viel attraktiver und auch realistischer vor als die hierzulande derzeit üblichen."

Weitere Artikel: Die taz liefert lyrische Reportagen aus Athen, unter anderem von Plateia Viktorias und Kato Patissia. Die Schriftstellerin Madame Nielsen schreibt in der SZ darüber, in Berlin festzusitzen, während ihr Vater in Odense im Sterben liegt. Im Literarischen Leben der FAZ schreibt die Schriftstellerin Olga Martynova Moskau-Tagebuch mit Walter Benjamin zur Hand. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Angela Krauß zum 70. Geburtstag. Sylvia Staude (FR), Harry Nutt (Berliner Zeitung) und Thomas Steinfeld (SZ) schreiben Nachrufe auf die schwedische Schriftstellerin Maj Sjöwall, deren gemeinsam mit Per Wahlöö verfassten, politisch grundierten Kriminalromane in den 70ern in jede linke Studenten-WG gehörten, auch wenn sich in der WG gar keine Krimifans befanden. Thomas Steinfeld schreibt in der SZ zudem einen knappen Nachruf auf den mit gerade mal 24 Jahren verstorbenen dänischen Dichter Yahya Hassan, der vor einigen Jahren mit einem Gedichtband für erhebliches Aufsehen sorgte - hier einige seiner Gedichte beim Perlentaucher. Außerdem bringt die Literarische Welt eine Geschichte von Teju Cole.

Besprochen werden unter anderem Jean Staffords "Die Berglöwin" (taz), Maya Lasker-Wallfischs "Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen" (Freitag), Shahriar Mandanipurs "Augenstern" (NZZ), Lars Gustafssons "Dr. Weiss' letzter Auftrag" (Berliner Zeitung), der letzte Band aus Lewis Trondheims Fantasy-Comic-Saga "Ralph Azham" (taz), Benjamin Quaderers "Für immer die Alpen" (online nachgereicht von der FAZ), neue Krimis von Liz Moore und Michelle Winters (Berliner Zeitung), Téa Obrehts Western "Herzland" (Literarische Welt) und Matthias Polityckis "Das kann uns keiner nehmen" (FAZ).
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Kunst

Zoonosen nennt man die Übertragung von Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen, weiß Catrin Lorch in der SZ und glaubt mit Blick auf das Coronavirus, "dass sich Tier und Mensch nach Jahrtausenden des Miteinanders voneinander entfernen werden". Die Trennung werde sich auch in neuen Bildwelten abzeichnen, meint Lorch und blickt zurück: "Die Verbindung zwischen Mensch und Tier (war) nicht nur ausgehend von der Populärkultur Thema für die zeitgenössische Kunst. Schon im Jahr 1997 richteten Carsten Höller und Rosemarie Trockel auf der zehnten Documenta ihr 'Haus für Schweine und Menschen' ein, einen modernistisch schlichten Bau aus Glas und Beton, in dem man den Alltag einer Schweinefamilie durch einen Spiegel hindurch verfolgen konnte. Die Schweine schienen das Kunstpublikum ebenso ungerührt zu betrachten, so wie die Foxterrier, die Rosemarie Trockel später als klassische Brustporträts fotografierte."

Jan Vermeer: Das Mädchen mit dem Perlenohrring

Wer Jan Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring" war, wissen wir bis heute nicht. Aber die aufwändige Untersuchung durch internationale Forensiker und Kunsttechnologen hat andere Geheimnisse ans Licht gebracht, freut sich Marcus Woeller in der Welt, etwa welche Pigmente Vermeer nutzte und woher sie stammen: "Malerei in der Qualität eines Vermeer bedeutete nämlich im 17. Jahrhundert nicht nur handwerkliches Können in den verschiedensten Bereichen, sondern auch Zugang zum Welthandel. Die Kaufmannsnation der Niederlande war damals im Vorteil, da schon früh globalisiert: Auf der Leinwand fanden die Forscher nicht nur Pigmente vom europäischen Kontinent, sondern auch Bleiweiß aus Nordengland etwa für das Strahlen in den Augen des Mädchens, schwarz-blaues Indigo aus Südasien für den verschwundenen Vorhang, den aus Läusen gewonnen Farbstoff Cochenillerot aus Mexiko für die Lippen und für den Kopfputz leuchtendes Ultramarinblau aus afghanischem Lapislazuli, ein Edelstein, der teurer als Gold war."

Weiteres: Die Museen scharren mit den Hufen und sind bestens gerüstet für die Wiedereröffnung, erzählt Agnes Striegan in der SZ: In einigen Bundesländern öffnen die ersten Häuser ab Montag, andere folgen in den nächsten Tagen, nur in Bayern bleiben die Museen vorerst geschlossen. Die Brandenburgischen Landesmuseen in Cottbus und Frankfurt Oder haben bereits seit dem 01. Mai wieder geöffnet, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung und hat sich sofort auf den Weg gemacht. Das Berliner Gallery Weekend wurde auf den Herbst verschoben, aber eine zaghafte Variante findet dieses Wochenende dennoch statt, freut sich Christiane Meixner im Tagesspiegel. Nachrufe zum Tod des italienischen Kurators und Arte-Povera-Vorreiters Germano Celant bringen Standard und Tagespiegel.

Besprochen wird die Volker-Stelzmann-Ausstellung in der Berliner Galerie Poll (Tagesspiegel) und die Thomas-Schütte Ausstellung in der Berliner Konrad-Fischer-Galerie (Berliner Zeitung).
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Film

Dunja Bialas berichtet auf Artechock von einer Initiative aus einem breiten Bündnis der hiesigen Kino- und Filmbranche, die von Monika Grütters die Einrichtung einer Abgabe der Krisengewinner aus dem Streamingbereich fordern. Denn: "Eine Reinvestition der Gewinne geschieht im Falle von Netflix und Amazon in der Form eigener Produktionen. Wohingegen die Kinos über die Hälfte ihrer Einnahmen den Verleihern überlassen und ebenfalls die FFA-Filmabgabe bezahlen. Netflix überspringt diesen Punkt der Produktions-und Verwertungskette, womit das Geld dann, bis auf die FFA-Abgabe, ganz in die eigene Tasche fließen kann. Festivals, sofern sie dazu bereits sind, nimmt Netflix hingegen gerne mit: schließlich verschaffen Preise Prestige und später entsprechende Einschaltquoten - die jedoch nicht offengelegt werden."

Besprochen werden Roland Klicks per VoD angebotener Hamburgfilm-Klassiker "Supermarkt" von 1974 sowie Yoon Sung-hyuns auf Netflix stehender koreanischer Actionfilm "Time to Hunt" (Perlentaucher), die Hulu-Serie "Mrs. America" mit Cate Blanchett (Welt) und ein vom Ersten online gestellter Dokumentarfilm über Hannelore Kohl (online nachgereicht von der FAZ).
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Bühne

Das Staatstheater Braunschweig hat sein Theaterfestival "Anders schreiben" kurzerhand ins Netz verlegt  - und das gelingt gar nicht so schlecht, findet Jens Fischer in der taz. Die hauseigenen Erstaufführungen von vier AutorInnen wurden als Live-Lesungen inszeniert oder per Videokonferenz dargeboten. Fischer lernt dabei, dass Stücke heute meist nicht mehr von einem individuellen Autor, sondern gemeinsam generiert werden: "Dass ein fertiger Text zu Probenbeginn da ist und nur bebildert werden soll, gelte ja schon nicht mehr für Klassiker. Dementsprechend liefern zeitgenössische Autoren auch lieber eine Textfläche zur freien Verfügung. Oder Schauspieler, Experten des Alltags und Schriftsteller teilen sich die Autorenschaft, arbeiten zusammen. Wer da sprachschöpferisch oder redigierend tätig ist, lässt sich im Nachhinein nicht mehr genau beantworten. Der verpflichtete Autor fungiert in dem Prozess eher als Kurator des gesammelten Textmaterials."

Von einer ziemlich traurigen Veranstaltung zum ersten Mai vor der Volksbühne berichtet Simon Strauss in der FAZ: "Am Nachmittag des eigentlichen Maifeiertags (…) versammeln sich einige hundert Demonstranten. Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz selbst sind nur zwanzig von ihnen zugelassen. Ein versprengtes Grüppchen singt 'Die Gedanken sind frei'. Hinten am Bühnenhaus steht ein Plastikdinosaurier im Wind und hört sich antikapitalistische Parolen an. Jemand hat mit Kreide auf den Boden geschrieben: 'Rosa würde sich im Grab umdrehen'."

Weiteres: Sechs der zehn ausgewählten Inszenierungen des Berliner Theatertreffens werden auf den Websites der Nachtktitik und der Berliner Festspiele gestreamt. Man kann sich daran gewöhnen, findet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Mehrere Kameras kommen hier zum Einsatz, die Perspektive wechselt nach den Konventionen des Fernsehens, statt auf seinem Theatersessel gefangen zu sein, springt man als Zuschauer auf der Bühne umher, kann sich zwischen die Spieler stellen, ihnen tief ins Gesicht blicken, ohne selbst anwesend zu sein."
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Musik

Unter erheblichen Sicherheitsbedingungen - eine Kammermusik-Besetzung von maximal 15 Musikern auf der Bühne, Sicherheitsabstand, Vorab-Tests - haben die Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko gestern ihr traditionelles Mai-Konzert absolviert. Der Abend und die Übertragung (einen Mitschnitt gibt es in der ARD-Mediathek) sind geglückt: "Wenn die Kamera zu Arvo Pärts 'Fratres' über die verwaisten Sitzreihen der Philharmonie schweift, löst die meditative Musik Schübe der Trauer und des Vermissens aus", schreibt ein melancholischer Frederik Hanssen im Tagesspiegel. "Ligetis 'Ramifications' berühren die akustische Grenze dessen, was am Bildschirm noch zu vermitteln ist; eine Raum-, eine Traummusik, wie sie sich nur im Konzertsaal ganz entfalten kann. Samuel Barbers tränenumflortes 'Adagio for Strings' entkleidet Petrenko dann aller Filmmusik-Gefühligkeit." SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck sah "das bisher wichtigste Konzert im Leben Petrenkos, weil es zu einem Fanal der Hoffnung gegen den zunehmenden Seuchenfrust wurde und weil es einen Weg aufzeigte, wie klassische Konzerte die nächste Zeit aussehen könnten." Bei Barbers Adagio "ist das Gesicht des Dirigenten Kirill Petrenko von Schmerz gezeichnet. Beim Abbruch wendet er seinen Blick, Petrenko gleicht da den Büßern auf Barockgemälden, in der Berliner Philharmonie nach oben, wie zu einem stummen Gott, der selbst in der größten Not nicht helfen mag."

Zwar fließen jetzt doch noch ein paar überschaubare Millionen Stützgelder in Richtung freier Musiker, doch erweisen sich diese "bei näherer Betrachtung aber vor allem als ein Förderprogramm für neue Präsentationsformen von Musik in Zeiten der Pandemie", meint Helmut Mauró im SZ-Kommentar. Hinzu komme "eine Tendenz, die sich während der Coronakrise maximal verstärkt hat: Künstler verschenken ihre Arbeit kostenlos im Netz. Das verstärkt den Eindruck, dass es sich hier um ein Hobby handelt. ... Wohin das führt, kann man den inzwischen üblichen Plattenverträgen entnehmen, bei denen das Label mehr als je an der Arbeit der Künstler verdient, ohne sich selber etwa mit Marketing-Investitionen an der geleisteten Arbeit zu beteiligen."

Weitere Artikel: Bereits vor 130 Jahren wurden Konzerte - damals noch via Telefon - live gestreamt, erinnert Corina Kolbe in der NZZ. Julia Spinola porträtiert in der SZ den Organisten Cameron Carpenter, der in Berlin vor Alten- und Pflegeheimen auftritt. Torsten Wahl (Berliner Zeitung), Wolfgang Sandner (FAZ) und Max Dax (SZ) gratulieren dem Berliner Liedermacher Manfred Maurenbrecher zum 70. Geburtstag. Markus Schneider (Berliner Zeitung), Christoph Wagner (NZZ), Jörg Wunder (Tagesspiegel), Reinhard Köchl (ZeitOnline) und Jonathan Fischer (SZ) schreiben Nachrufe auf den nigerianischen Schlagzeuger und Afrobeat-Pionier Tony Allen. Arte hat aus diesem Anlass ein Konzert wieder online gestellt:


Besprochen werden das Comeback-Album von Fiona Apple (Berliner Zeitung), The Great Harry Hillmans neues Album "Live at Donau115" (FR) und das neue Album des Berliner Rappers Ufo361 (Tagesspiegel).
Archiv: Musik