Efeu - Die Kulturrundschau

Entschlossen horizontal

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2020. In der FAZ lässt die Schriftstellerin Helga Schubert kein gutes Haar an Christa Wolf und Sarah Kirsch, die ihr beide zu SED-treu waren. Die FR bewundert die rot-gelb-blauen Collagen Marion Eichmanns. Epd-Film erklärt, was Virtual Production ist. Die SZ stellt das Architekturbüro Barkow Leibinger vor, das auch in Berlin ohne Sandstein baut. Die NZZ hüpft sich auf einem pinkfarbenen Trampolin ins Eiscremeglück.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.08.2020 finden Sie hier

Literatur

Jan Wiele besucht für die FAZ die diesjährige Bachmannpreisträgerin Helga Schubert, 80 Jahre alt, in Neu Meteln, einem Dorf in Mecklenburg, in dem in den Siebzigern auch Christa Wolf und Sarah Kirsch den Sommer verbrachten. Anders als diese beiden findet Schubert allerdings überhaupt nichts künstlerisch oder romantisch in Neu Meteln. Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns zerbrachen auch dort Freundschaften: "Helga Schubert ist damals geblieben, wenn auch unter Wut und Zweifeln, und sie wird nun konkreter: Ihre früheren Freundinnen Christa Wolf und Sarah Kirsch nennt sie jetzt 'SED-Schriftstellerinnen und auch -Funktionärinnen'. Und sie spricht einmal, als es aus ihr herausbricht, auch von 'Staatssicherheitsscheiße'. ... Beim Blick zum Nachbarhaus, in dem früher Christa Wolf lebte, denkt Helga Schubert heute an ein 'halbgebildetes SED-Kleinbürger-Milieu mit mystischem Geschwätz, was ich ja nur sporadisch wahrnahm, weil mein Mann und ich in Berlin arbeiteten'."

Weitere Artikel: Marlen Hobrack unterhält sich für die Welt mit Thomas Page McBee, der in seinem Buch "Amateur. Mein neues Leben als Mann" die Geschichte seiner Geschlechtsumwandlung erzählt. In der taz möchte Stefan Hochgesand von einem äußerst höflichen antwortenden André Aciman, Autor des Romans "Call me by your name", wissen, warum er nicht auch lesbische und Transgender-Charaktere in seinen Roman eingebaut hat und Personen die nicht "weiß und privilegiert" sind. Paul Ingendaay schreibt in der FAZ eine Hommage an die Krimiautorin P.D. James, die am Montag 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Michael Connellys Krimi "Late Show. Renée Ballard - ihr erster Fall" (taz), die "Reiseberichte" Siegfried Unselds (taz), Werner Bätzings Buch über "Das Landleben" (taz), Emanuel Richters "Seniorendemokratie" (taz), Walter Schüblers Chronik über "Komtess Mizzi" (NZZ), Peter Handkes "Zdenek Adamec" (FR), Robert Seethalers Roman "Der letzte Satz" (SZ, Welt), Toni Morrisons Essayband "Selbstachtung" (Welt). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.

In der Frankfurter Anthologie schreibt Christian Metz über ein Gedicht von Elke Erb: "Seltsam"

"Ich las Korrekturen nachts, fand:
Ein munteres Auf und Ab.
Als begleite ein Lachen wie Licht
den Report
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Marion Eichmann, Istanbul TRAFIKZABITA, 2009


In der FR stellt Ingeborg Ruthe die Künstlerin Marion Eichmann vor, die riesige Assemblagen aus Papier, Karton und Farbe schafft. Sie hat das Berliner Merkezi-Mietshaus nachgebaut. Aber an den Wänden der Berliner Galerie Tammen "hängen weitere Motive - von Tankstellen, vom New Yorker Times Square, von Stadtszenen aus Istanbul und Tokio, von Spielotheken, Automaten und Blumenauslagen, von Mülltonnen und Waschmaschinen, Caféhäusern und Mc Donald-Läden, von Stadttunneln und Verkehrszeichen. All das Alltägliche, Unscheinbare tritt hervor, entstanden aus der Großstadt-Faszination Eichmanns heraus. Oft sind die Motive durchsetzt mit den Leitfarben Rot, Gelb, Blau. Als würde sie mit diesem Color, oft hinterlegt mit Schwarz oder Weiß, dauernd die Avantgarde der Moderne befragen: Mondrian, Bart van der Leck, Barnett Newman. Und Malewitsch."

Weitere Artikel: Dem kanadischen Künstler Jon Rafman wurde auf Instagram von mehreren Frauen sexualisierter Machtmissbrauch vorgeworfen. In der taz ist Radek Krolczyk empört, dass der Kunstverein Hannover diese Vorwürfe erst überprüfen will, bevor er eine geplante Ausstellung mit Rafman absagt. Henrike Koch stellt in der taz die bei Hamburg lebende koreanische Künstlerin Hyun-Sook Song vor.

Besprochen werden außerdem die Soloschau des amerikanischen Fotografen Darrel Ellis in der Berliner Galerie Crone (Tsp), die Ausstellung "Campo" des Bildhauers Martin Kähler im goeben berlin (taz) und eine Ausstellung von Anish Kapoor im Landschloss Houghton Hall in der englischen Grafschaft Norfolk (FAZ)
Archiv: Kunst

Architektur

Barkow Leibinger - Revolutions of Choice, Ausstellungsansicht Haus am Waldsee, 2020 Foto: Roman März


In der SZ stellt Peter Richter das Architekturbüro Barkow Leibinger vor, die demnächst in Berlin "das höchste Haus der Stadt bauen werden, den 175 Meter hohen Estrel Tower in Neukölln, dessen Fassade von dem Legespiel Tangram inspiriert ist". Ganz ohne den in Berlin so beliebten Sandstein, übrigens. Mehr von ihnen kann man derzeit in der Ausstellung "Barkow Leibinger - Revolutions of Choice" im Berliner Haus am Waldsee sehen, wo ihre Vorarbeiten und Experimente in Regalen liegen: "Im Kleinen könnten es auch freie Kunstwerke sein mit Bezug zu den seriellen Arbeiten europäischer Op- Art oder den Setzungen der amerikanischen Land-Art. Es ist regelrecht faszinierend, zuzuschauen, wie sich auf diese Weise Strukturen und Fassaden entwickeln, die dann, ähnlich wie ein Spiel seinen Regeln, der ihnen jeweils innewohnenden Logik so konsequent folgen, dass daraus zwangsläufig Eleganz entsteht. Manchmal so entschlossen horizontal, dass sie beinahe an die Projekte Frank Lloyd Wrights für die amerikanischen Prärien denken lassen, dann wieder in getakteter Vertikalität, geradezu schraffiert, wie nadelnder Regen oder der Aufmarsch einer Armee von Giacometti-Skulpturen."

Weitere Artikel: Der Architekturhistoriker André Bideau denkt in der NZZ über die "tradierten Unterschiede von Stadt und Land" nach. In der taz berichtet Marielle Kreienborg über das "Projekt 2038" (mehr hier und hier), mit dem der Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig auf das Jahr 2020 zurückblickt: "Wird alles gut?". Nina Böckmann wünscht sich in der taz mehr Beton in der Architektur - vorausgesetzt, er ist "mehr ... als gemein und hässlich".
Archiv: Architektur

Bühne

Sylvia Staude unterhält sich für die FR mit dem Choreografen Marco Goecke über Tanz in Zeiten von Corona. Dabei stellt sich heraus, dass Corona nicht das einzige Problem des Tanzes ist: "Wenn ich meine eigene Arbeit betrachte, denke ich: Die dreht sich in Stille um sich selber, wen interessiert das? ... im Moment plätschert der Tanz sehr lieblich dahin. Ich glaube, wir sind aus der Zeit heraus, in der man sich das getraut hat, was man sich trauen musste. Weil Geld da war und Intendanten da waren, die gesagt haben: Lasst mal die Sau raus. Ich bin gerade bei jungen Choreographen oft überrascht, wie geschliffen und belanglos das ist. Wo ich kein Anzeichen sehe, dass der Tanz benutzt wird für gewisse Nöte, einen gewissen Schmerz, den man empfindet."

Kein Abstand nötig in dieser "Cosi fan tutte"-Aufführung in Salzburg. Foto: Monika Rittershaus


In der SZ beglückwünscht Michael Stallknecht die Salzburger Festspiele zu ihrem Mut, die Festspiele stattfinden zu lassen. Die Orchester werden sogar wie im Vor-Coronaleben eng zusammenspielen. Dafür lassen sich auch alle vor und während der Festspiele testen. Felix Austria? "Ob auch deutsche Politiker die Bedeutung von Opernhäusern und Orchestern für die kulturelle Identität und Integrität ihres Landes verstehen, daran äußern dagegen viele Musiker nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand Zweifel. Die Kontrolle 'gerade im Klassikbetrieb' sei 'wahnsinnig hoch', sagt Marcus Bosch, der Vorsitzende der deutschen Generalmusikdirektorenkonferenz, obwohl theoretisch ein ganzes Orchester samt seinem Publikum ohne Abstände fliegen oder Zug fahren könnte."

Daneben erzählt die Mezzosopranistin Marianne Crebassa von den Proben zur neuen neuen Salzburger "Così fan tutte"-Inszenierung in Coronazeiten: "Wir Sänger mussten keine Maske tragen, wurden aber jede Woche getestet. Das Orchester wurde übrigens auch getestet. Die Festspiele haben ein gutes System von Gruppen erfunden, die eine bestimmte Farbe auf ihrem Festivalausweis haben. Sänger sind die rote Gruppe, und wenn jemand den roten Punkt auf dem Ausweis sieht, muss er Abstand halten. Das hat gut funktioniert."

Weiteres: Regine Müller besucht für die nmz das Pärnu Music Festival, das "unter fast normalen Bedingungen" stattfinden konnte, weil die Coronainfektionen in Estland so niedrig sind.
Archiv: Bühne

Design

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Experience the applause and CANDY BLAST inside our NEW Piñata installation! 📸: @annaalexia

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Das Museum of Ice Cream in New York "ist ein Hit", versichert Sarah Pines in der NZZ, leicht verwirrt von der quietschbunten Fröhlichkeit, die sie dort überfällt. Ein Ort, "in dem Menschen mit Eiswaffelhut in Badewannen mit künstlichem Sorbet baden und sich mit French Vanilla und Coconut-Swirl anreden? Der Ort ist innen und außen rosa. Die Gänge sind rosa, Decken und Böden sind rosa. Und in allen nur möglichen Schattierungen von Rosa gekleidete junge Menschen mit himbeerfarbenem Käppchen und frohen Gesichtern heissen die Besucher willkommen. ... Das Museum ist ein Hybrid aus Erlebnisort, Hashtag und Freizeitpark. Jeder Raum hat ein Motto, das irgendwie lose mit Eis verknüpft ist: pinkfarbenes Trampolin, mit Streuseln ausgelegte kleine Zelle, Tisch mit glitzrigen Porzellankuchen - 'O mein Gott, sind die echt?'. Im ersten Raum tanzt eine dünne Frau mit Eiswaffelhut und singt mit wackeliger Kabarettstimme 'Dreams of Ice-cre-ee-am'."
Archiv: Design

Film

Wurde auf einer LED-Bühne gedreht, als eine moderne Form der Rückprojektion: Jon Favreaus "The Mandalorian"


Alexander Matzkeit erzählt in epd-Film mit vielen technischen Details, wie Filmen im Zeitalter der Digitalisierung funktioniert: als Virtual Production. "Statt wie in einem Pixar-Film jedes Bild individuell, aber eben immer nur mit den Mitteln des Computers zu gestalten, erschafft man einfach die gesamte zu drehende Szene in einer virtuellen, dreidimensionalen Landschaft und transportiert die Crew dort hinein - mit Hilfe von Virtual-Reality-Brillen." Klingt schrecklich? Das finden die Beteiligten offenbar nicht: "Was all diese Automatisierungen, egal ob simulierte Umgebungen, automatischer Gesichtsaustausch oder virtuelle Kamerabewegungen, gemeinsam haben, ist ironischerweise, dass sie die Zusammenarbeit der Gewerke anscheinend wieder unmittelbarer werden lassen. ... Wenn die Illusion vor Ort greifbar ist und nicht im Nachhinein erzeugt werden muss, entstehen, so die Botschaft, wieder mehr spontane Momente. Und das bedeutet ironischerweise oft auch eine Rückkehr zu traditionellerem Filmemachen. 'Nur weil man ein Licht überall setzen könnte', so Favreau, 'heißt das schließlich noch lange nicht, dass man es auch tun sollte.'"

Weitere Artikel: Claus Löser sah für die Berliner Zeitung im Berliner Arsenal-Kino einen Dokumentarfilm der georgischen DAAD-Stipendiatin Salomé Jashi, die in der "allertiefsten Provinz" ihres Landes "ein etwas heruntergekommenes, dreistöckiges Gebäude [fand], und darin einen Mikrokosmos, dessen Faszination sie mit ihrer präzise beobachtenden Kamera für uns konserviert hat". In der FR schreibt Harry Nutt einen Nachruf auf den amerikanischen Filmregisseur Alan Parker.

Besprochen werden Judd Apatows Komödie "The King of Staten Island" (FAZ), Beyoncés Musikfilm "Black is King" (Zeit online, Berliner Zeitung, SZ)
Archiv: Film

Musik

Nadja Dilger trifft sich für die Berliner Zeitung mit dem Musiker Aime Simone, der wegen Essstörungen immer wieder in psychiatrichen Einrichtungen gelandet war. Jetzt ist er glücklich mit neuer Freundin und Kind in Berlin. Das hört man nicht gleich, macht aber nichts, meint Dilger: "Wenn er mit seiner leidtragenden Stimme in Stücken wie 'Don't Be Sad' oder 'Strange Inside' über das bittersüße Leben singt, klingt nicht gleich Hoffnung raus. Aber das muss es in dem Fall vielleicht auch nicht. Simone hat genug zu erzählen, das sich zu hören lohnt".

Wir hören mit:



Weiteres: In der FAZ überlegt "Jungwagnerianer" Thomas A. Herrig, wie man heute Wagner und überhaupt klassische Musik an die Jugend bringen kann.

Besprochen werden Billie Eilishes neuer Song "My Future" (Tagesspiegel)



und Jon Savages Buch über Joy Division "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere" (taz).
Archiv: Musik