Efeu - Die Kulturrundschau

Gigantische Entdifferenzierungsmaschinen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2020. Die NZZ blickt romantisch in die Wolken - auf Augenhöhe mit Gott. Die SZ fragt, ob eigentlich jemand mal die sexistischen Texte des gefeierten nigerianischen Musikers Burna Boy gelesen hat. Der Standard stellt sich in den harten Regen der Metalcombo Mr. Bungle. Die Theaterkritiker reagieren verhalten positiv auf die Berufung von Iris Laufenberg zur Intendantin des Deutschen Theaters Berlin ab 2023. In der Literarischen Welt propagiert die Entwicklerin Linda Rachel Erni die Vorzüge ihrer KI für die Manuskriptanalyse der Verlage. In der NZZ erklärt die legendäre Modekritikerin Suzy Menkes, warum man bei Modeschauen auch auf die Rückseite achten sollte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2020 finden Sie hier

Kunst

Johann Jakob Ulrich, Brennendes Dampfschiff auf stürmischer See, 1850-1853, Museum der bildenden Künste Leipzig


Die NZZ druckt einen Essay von Florian Illies aus dem Katalog zur Schau "Im Herzen wild. Die Romantik in der Schweiz", die nächsten Freitag im Kunsthaus Zürich eröffnet wird. Für Illies beginnt der große Epochenbruch der Romantik, mit dem Blick "von der Höhe" auf die Wolken - nicht mehr nach oben schauend, sondern auf einer Ebene mit ihnen: "Wer den Himmel nur noch als Bühne für ein Schauspiel von Sauerstoff und Wasserstoff sieht und nicht mehr als den Ort, an dem die Götter oder die Engel wohnen, der vollzieht malerisch einen Akt der Säkularisation. Als die Frau des romantischen Dresdner Malers Carl Gustav Carus mit ihrem Mann in den 1820er Jahren das Atelier von Johan Christian Dahl verlässt, da wird sie ihn schaudernd fragen: 'Warum malt er denn nur diese Wolken? Ist er nicht fromm?'"

Weitere Artikel: Ingo Arend berichtet in der SZ über die Vorbereitungen für die Dokumenta 15 in Kassel, die recht lässig von der indonesischen Künstlergruppe "Ruangrupa" geleitet werden. Ebenfalls in der SZ sprechen Ekaterina Degot und Henriette Gallus, die Leiterinnen des Kunstfestivals "Steirischer Herbst", im Interview über Corona, die "Rechtfertigungskrise" der zeitgenössischen Kunst und die Chancen, die die Digitalisierung mit sich bringt und die sie mit ihrem Paranoia TV nutzen wollen. In der taz resümieren Hans-Jürgen Hafner und Kito Nedo die Ära des Museumsmannes Udo Kittelmann in Berlin.

Besprochen werden die Skulpturen-Ausstellung in der Friedrichswerderschen Kirche in Berlin (taz), Ausstellungen von Anna Banana und Vincent Trasov in den Berliner Galerien Salon am Moritzplatz und ChertLüdde (taz), Luigi Toscanos Fotoporträts von Holocaust-Überlebenden, die die Deutsche Bahn in den zehn größten deutschen Bahnhöfen ausstellen wird (taz) und die Schau "In aller Munde" über "Zähne, Mundhöhle, Zunge, Lippen und alles, was damit ausgeübt werden kann" im Kunstmuseum Wolfsburg (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Der nigerianische Musiker Burna Boy wird in westlichen Medien gerade ziemlich abgefeiert. Musikalisch zwar sehr zurecht, findet Jan Kedves in der SZ, aber dass Burna Boys Stücke, wenn man deren Camouflage im Pidgin-English etwas lüftet, vor Misogynie, Trans- und Homophobie nur so strotzen, spricht kaum jemand an, ärgert er sich: Weder die New York Times, noch der Guardian bringen ein "nachdenkliches Wort zu besagten Reimen. Schaut man hingegen in die Twitter-Feeds und Online-Beiträge von Journalisten aus Nigeria, wird man dort durchaus Unwohlsein in Bezug auf 'Twice As Tall' herauslesen. 'In den nächsten Tagen, wenn der Hype und die Euphorie sich gelegt haben, werden wir Diskussionen über Burnas fragwürdige sexuelle und sexistische Lyrics führen. In beidem schneidet er nicht gut ab, also macht euch gefasst, Burna-Fans. Seine Klassen- und Rassen-Politik ist wesentlich besser', twittert Oris Aigbokhaevbolo, ein nigerianischer Autor, der als Westafrika-Redakteur für die pan-afrikanische Musik-Plattform Music In Africa schreibt."

Auf dem neu eingespielten 80er-Demo "The Raging Wrath of the Easter Bunny" bietet die Avantgarde-Experimental-Metalcombo Mr. Bungle rund um Mike Patton gängigen Exkremental- und Splatterhumor der alten Bubenschule, schreibt Karl Fluch im Standard: Viel "Gabba Gabba Grunz" also, was insgesamt jedoch die Eklektik, die die Band um 2000 herum so spannend machte, vermissen lässt: "Was heute vor der Metal-Innung als Thrash zertifiziert würde, war früher aufgebrochen mit abenteuerlichen Versatzstücken aus luluwarmen Easy-Listening-Etüden, die auf knüppelharten Funk trafen und der Gruppe die Zuschreibung des experimentellen Metals eintrug, was mitunter für Stirnrunzeln gesorgt hat." Aktuell nun aber ist die Musik wieder "ein harter Regen, ein Stahlbad der Gefühle. Patton ergeht sich genüsslich in adoleszentem Blödsinn." Immerhin macht es am frühen Samstagmorgen sehr wach:



Weitere Artikel: Ljubiša Tošic berichtet im Standard vom digitalen Auftakt der Wien Modern. Cornelius Pollmer geht in der SZ der großen Gundermann-Begeisterung der letzten Jahre auf den Grund. Jakob Biazza schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Uriah-Heep-Musiker Ken Hensley.

Besprochen werden neue Alben von Kylie Minogue (Berliner Zeitung, mehr dazu bereits hier), Ariana Grande (FR), und All diese Gewalt (Berliner Zeitung) sowie Sophy Roberts' "Sibiriens vergessene Klaviere" (Literarische Welt).
Archiv: Musik

Bühne

Iris Laufenberg, derzeit noch Intendantin in Graz, wird 2023 neue Intendantin des Deutschen Theaters in Berlin, wenn Ulrich Khuons Vertrag dort ausgelaufen ist. Endlich mal eine Frau, freut sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Er ist zufrieden mit der Entscheidung, erwartet sich aber auch noch was: "Mit Iris Laufenberg ist eine Lösung gefunden, die den Betrieb aufrechterhält und den noch immer scheuen neuen Geist am Deutschen Theater, den der Nachdenklichkeit und der Gegenwartsmoderation, der Einladung und des gepflegten Diskurses, weiter bedient. ... Aber es braucht vor allem auch die Kunst. Wenn das Theater seine Bedeutung verteidigen will in einer Zeit, in der es sich gerade mehr oder weniger als obsolet erleben muss, dann muss es sich auf der Bühne beweisen. Es ist die Chance für Iris Laufenberg."

Auch nachtkritiker Georg Kasch ist verhalten optimistisch: "Laufenberg ist Politikerin, Vermittlerin, Ermöglicherin, Entdeckerin von Talenten. Aber kann sie auch Glanz, Exzellenz, Überraschung, die beim notorisch anspruchsvollen Berliner Publikum unabdingbar sind? Werden wir sehen. Das, was auf den Dramen-Festivals in Heidelberg und Mülheim aus Bern und Graz zu sehen war, wirkte vielversprechend, ohne die ganz großen Akzente zu setzen. Beide Häuser haben allerdings auch ungleich geringere Mittel als die Hauptstadtbühne."

Im Tagesspiegel meint Patrick Wildermann: "So überraschend sie sein mag, auf dem Papier klingt diese Wahl, pardon, erstmal weniger aufregend. Das hat leider auch schon Tradition am DT. Aber wer weiß, vielleicht wird Iris Laufenberg alles auffahren, was in der Nische Graz nicht möglich war, und mit einem großen Aufschlag an der Schumannstraße verblüffen." Im Standard beglückwünscht Margarete Affenzeller die Berliner: Laufenberg "ist versiert und motivierend - der Idealfall einer Chefin", versichert sie.

Weiteres: Die neue musikzeitung gibt Streamingtipps für die kommende Woche. Die nachtkritik annonciert, dass sie ab 9. November Videos zur FAZ-Theaterserie "Spielplanänderung" streamen wird. Wiebke Hüster gratuliert in der FAZ dem Tänzer Ivan Liška zum Siebzigsten. Hubert Spiegel schreibt in der FAZ zum Tod des französischen Theaterregisseurs Jean-Pierre Vincent. Besprochen wird die Uraufführung von Anna-Sophie Mahlers dokumentarischem Theaterabend mit Musik von Richard Strauß "whistleblowerin / elektra" am Zürcher Theater Neumarkt (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit dem Roman "Homeland Elegien" erweist sich der US-Autor Ayad Akhtar als eine Art muslimisch geprägter Houellebecq, schreibt Felix Stephan in der SZ. Was der Westen integrierten Muslimen an Distanzierungsgesten abverlangt, werde hier im Tonfall der Resignation abgewiesen. "Wie um herauszufinden, wie viel das Publikum ihm zu vergeben bereit ist, verteidigt Akhtars Erzähler eine mit liberalen Normen unvereinbare muslimische Tradition nach der anderen." Dass dieser Roman "überhaupt geschrieben wurde, hat sehr wahrscheinlich mit den gigantischen Entdifferenzierungsmaschinen der sozialen Netzwerke zu tun. Immer wieder erwähnt der Erzähler, wie viel Zeit er damit verbringt, in den sozialen Netzwerken Kommentare über sich selbst zu lesen", schließlich "konnten Autoren nie zuvor ihren Lesern so genau beim Lesen ihrer Texte zuschauen. Und nie zuvor stand ihnen so unbarmherzig vor Augen, wie eklatant ihre Texte missverstanden werden."

Der Schriftsteller T.C. Boyle weiß, wo seine wichtigsten Absatzmärkte liegen und welche Bedürfnisse diese haben. Entsprechend macht er sich dieser Tage in deutschen Medien viel Luft über Donald Trump und die US-Wahl: Der amtierende Präsident ist "ein Gauner im Oval Office, der das Amt für immer beschädigt hat", sagt er dem Dlf Kultur. In der Literarischen Welt erinnert er sich an einen gemeinsamen Auftritt mit Trump vor vielen, vielen Jahren: "Er war in Ordnung. Ich wusste damals ehrlich gesagt gar nicht genau, wer er war. Irgendein Immobilienmakler, dachte ich. Ich konnte ja nicht ahnen, wie er sich viele Jahre später entwickeln würde. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn an dem Tag unter Einsatz meines Lebens zu Tode gewürgt und ihn gegessen."

Im Gespräch mit der Literarischen Welt schwärmt die Entwicklerin Linda Rachel Erni von den Vorzügen ihrer KI-Lösung, die den Verlagen die Arbeit mit Manuskripten erheblich erleichtern soll: Digital vorliegende Manuskripte wären binnen Sekunden analysiert und aufbereitet. Man erhalte Ergebnisse wie die "Textstatistik, die Satzlänge, Lesezeit, Zeichen und Kommasetzung oder die 'Wortwolke', die die Worte sammelt, die am relevantesten für den Text sind und am häufigsten im Zusammenhang mit dem Text vorkommen. Als Beispiel: Bei Harry Potter wären die Worte 'Besen, Professor, Zauberstab' in dieser Wortwolke." Die KI könne "Lesemotive bestimmen und die Emotionen, die hinter eben diesen stehen."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Eva Menasse rät in der SZ dazu, den wohl eher trüben Coronawinter für eine Zeit der inneren Einkehr zu nutzen. Gregor Dotzauer wirft für den Tagesspiegel einen Blick in die neue Ausgabe der Literaturzeitschrift Wespennest. Christian Blees widmet sich im Literaturfeature von Dlf Kultur der Annäherung von Büchern und Computerspielen. In einer "Langen Nacht" für den Dlf Kultur befasst sich Michael Reitz mit literarischen Putschisten. Harry Nutt (FR) und Paul Ingendaay (FAZ) gratulieren dem chilenischen Schriftsteller Antonio Skármeta zum 80. Geburtstag. Die FAZ dokumentiert Navid Kermanis Dankesrede zum Friedrich-Hölderlin-Preis.

Besprochen werden Brit Bennettas "Die verschwindende Hälfte" (taz, Tagesspiegel), Don DeLillos "Die Stille" (Tagesspiegel), Jan Koneffkes "Die Tsantsa-Memoiren" (Freitag), Tarjei Vesaas' "Die Vögel" (Dlf Kultur), Ralf Rothmanns "Hotel der Schlaflosen" (Tagesspiegel), Aravind Adigas Roman "Amnestie" (Tagesspiegel), Zsófia Báns neuer Erzählungsband "Weiter atmen" (FAZ) und die Werkausgabe Thomas Kling (Literarische Welt).
Archiv: Literatur

Film

Schlägt womöglich auf den Magen: Die Netflix-Romcom "Holidate"

"Je länger Netflix existiert, desto mehr wird der Streamindienst wie ein alter Küchenschrank, den man jahrelang nicht aufgeräumt hat." Mit dieser treffenden Beobachtung lässt Juliane Liebert ihre SZ-Rezension der romantischen Komödie "Holidate" beginnen, die auf Netflix gerade in den Charts weit vorne steht: "Solche Schränke sehen harmlos aus, aber in ihnen liegen grauenvolle Dinge verborgen." Das Bild hält sie in ihrer Besprechung des Films, der ihr schwer zu schaffen macht, bis zum Schluss aufrecht: "Zur Verzehrbarkeit der ganzen Angelegenheit: Im Zweifelsfall einfach mal ausprobieren. Wenn man sich hinterher übergeben muss, war's nicht mehr gut. Wenn man es ohne Schäden übersteht, ist man eventuell unsterblich. Wie die wahre Liebe. Würg."

Weitere Artikel: Andreas Bock erzählt auf ZeitOnline die Entstehungsgeschichte der von einem oberbayerischen Punk in Ghana gedrehten Trashgranate "African Kung-Fu Nazis", die nun auf Amazon Prime zu sehen ist. Anna Hoffmeister resümiert im Freitag das Festival DOK Leipzig.

Besprochen werden Kenneth Gyangs auf Netflix veröffentlichter, nigerianischer Frauenhandel-Thriller "Òlòtūré" (Tagesspiegel) und die Schweizer Serie "Frieden" (NZZ).
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Design

Mit 76 Jahren ist Suzy Menkes, die Grande Dame der Modekritik, auch heute noch interessiert, was die digitale Welt an Möglichkeiten hergibt: Podcast und Instagram gehören für sie dazu, verrät sie der NZZ. Allerdings hat die Verlagerung ins Digitale für ihren Berufsstand nicht nur Vorzüge: "Wenn ich in einer Show sitze, kann ich eben auch beschreiben, wie etwas von hinten aussieht, auch wenn die Designer uns lieber die Vorderseite präsentieren." Früher war es übrigens "nicht nur hart, sondern auch lustig. Im Internetzeitalter kann man sich das ja nicht mehr vorstellen, aber der Fotograf Chris Moore und ich mussten jedes Bild erst mal entwickeln lassen. Im einzigen schnellen Labor in Paris arbeitete ein Alkoholiker. Morgens war er okay, aber nach dem Mittagessen hatte er weder sich noch unsere Bilder mehr im Griff. Einer von uns musste dann immer bei ihm bleiben und insistieren, dass er ins Labor ging, statt zu trinken."
Archiv: Design