Efeu - Die Kulturrundschau

Jene wundersame Künstlichkeit

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19.10.2021. Antje Ravik Strubel erhält den Deutschen Buchpreis. Die FAZ feiert die Entscheidung auch als Auszeichnung für herausfordernde Literatur. In ihrer Dankesrede betont sie: "Rávik und ich sind Schriftstellerinnen, nicht Schriftsteller." Die SZ feiert die Wiederentdeckung der Surrealistin Toyen, der jede Anbiederung fremd war, was ihr die Kunstgeschichte wohl leider mit dem Vergessen heimzahlte. In der taz spricht die Band Kabul Dreams über die unerträgliche Lage in Afghanistan. FR und Standard trauern um die Sopranistin Edita Gruberova, die Königin der Koloraturen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2021 finden Sie hier

Literatur

Am Abend ist Antje Rávik Strubel mit dem Deutschen Buchpreis für ihren Roman "Blaue Frau" ausgezeichnet worden. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Autorin zu Auszeichnung und der Jury zu dieser glänzenden Entscheidung: "Strubel erzählt über einen ganzen Kontinent hinweg und auch quer über die Grenzen unserer Sicherheiten. Das ist voraussetzungsreich, und gerade das macht die Auszeichnung so erfreulich. Hier ist eine Lanze gebrochen worden für herausfordernde Literatur. Es gab schon bequemere Entscheidungen." SZ-Kritikerin Marie Schmidt sieht hier "eine formal und ästhetisch anspruchsvolle Erzählung gewürdigt, die in einer von der Metoo-Bewegung sensibilisierten Öffentlichkeit wahrscheinlich besser verstanden wird, obwohl sie der Selbstreflexivität ihres Schreibens wegen in jüngeren Debatten nicht aufgeht." Die Zeit hat Miryam Schellbachs Rezension des Romans online nachgereicht. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Dlf Kultur haben die Autorin für ein erstes Gespräch vors Mikrofon bekommen.

Thomas Hummitzsch von Intellectures findet Strubels Dankesrede sensationell: "Weil sie sich darin unmissverständlich und sprachgewandt gegen das 'Gezerre und Gezeter' wendet, das um die Sprache geführt wird. ... Sprache sei beweglicher und wandelbarer, als die Gesellschaften in ihren Gewohnheiten.'" Hier ihre Dankesrede in voller Länge:



Die deutsche Gegenwartsliteratur befasst sich wieder verstärkt mit der Elterngeneration, bemerkt Dirk Knipphals im taz-Essay zur Frankfurter Buchmesse. Insbesondere auf Sasha Marianna Salzmanns "Im Menschen muss alles herrlich sein" kommt er dabei ausführlich zu sprechen. Neu ist das natürlich an sich nicht, wohl aber, "dass viele der aktuellen Romane eine Begegnung mit den Eltern beschreiben, über alle Fremdheiten zwischen den Generationen hinweg. Es geht nicht mehr nur darum, das Leben der Eltern nachzuvollziehen. Zumindest unter ihrer Oberfläche inszenieren diese Romane vielmehr so etwas wie Gesprächsangebote an die Elterngeneration. Und sie beschreiben immer auch die Schwierigkeiten, dieses Gespräch dann aber tatsächlich auch ehrlich und offen zu führen."

Paul Jandl erinnert in der NZZ sehr kurzweilig an den Literaturbetrieb der Siebziger, als Rolf Dieter Brinkmann Mordfantasien ventilierte, auch ansonsten Radikalismen aller Art an der Tagesordnungen waren und Thomas Bernhard seinem Verlag schwer auf der Tasche lag: "Der literarische Kosmos flog in die Luft. ...  Weil es so nicht mehr weitergeht, geht in diesen Siebzigern alles."

Außerdem: In der taz bringt Simone Schlindwein dem deutschsprachigen Publikum die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga nahe, die kommenden Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird (siehe dazu auch unseren gestrigen Efeu oder Thekla Dannenbergs Kolumne "Wo wir nicht sind"). Im FR-Gespräch mit Judith von Sternburg macht sich die Schriftstellerin Dorothee Elmiger für eine politisch verstandene Sprachästhetik stark. Im Standard gratuliert Bert Rebhandl Elfriede Jelinek zum 75. Geburtstag, den die Schriftstellerin morgen feiert.

Besprochen werden unter anderem Te-Ping Chens Storyband "Ist es nicht schön hier" (SZ), Jenny Erpenbecks "Kairos" (taz), Richard Powers' "Erstaunen" (Tagesspiegel), Yukiko Motoyas Erzählband "Die einsame Bodybuilderin" (Freitag), Stephan Thomes "Pflaumenregen" (FR), John le Carrés postumer Thriller "Silverview (SZ) diverse Lyrikbände (Freitag) und John von Düffels "Die Wütenden und die Schuldigen" (FAZ).

Außerdem bringen SZ und taz heute ihre Literaturbeilagen zur Frankfurter Buchmesse, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten.
Archiv: Literatur

Kunst

Toyen: Eine Nacht in Ozeanien, 1931. Bild: Hamburger Kunsthalle

Die Frage, warum eine surrealistische Künstlerin ihres Ranges einfach von der Kunstwelt vergessen werden konnte, kann auch die Hamburger Kunsthalle nicht beantworten. Aber sie lässt es erahnen, meint SZ-Kritiker Till Briegleb: Toyen, geborene Marie Čermínová, war eine Künstlerin mit Hang zur Unabhängigkeit: "Hier bereits deutet sich an, warum Toyen in dem patriarchalen Club egomaner Männer, die den Surrealismus formten und Frauen eigentlich lieber als Musen hatten, immer als gleichberechtigte Künstlerin angesehen wurde. Anbiederung ist ihr fremd. Stilerfindungen prägender Persönlichkeiten jener Zeit erkennt sie in ihrer Originalität, verwandelt sie aber stets zu einer eigenen Bildsprache, um damit ihre Haltung zur Welt auszudrücken. Sie lässt sich von den chemischen Landschaften von Max Ernst inspirieren, von den leeren Ebenen Dalís, sie experimentiert mit den zerflossenen Welten von Yves Tanguy und den Rätseln eines Magritte. Aber in allen Dialogen mit anderen Künstlern, deren Anteil man in allem Respekt erkennt, steckt bei Toyen Revolte."

Zwei Ausstellungen zu Emil Nolde, in Hamburg, im Bucerius Forum und in der Kunsthalle, zeigen FAZ-Kritiker Wolfgang Krischke, dass der Künstler in seiner Malerei weniger von nationalsozialistischer Kunstauffassung geprägt war als von dänischer: "Was Nolde von seinen dänischen Kollegen lernt, sind neben der Bildsprache des Symbolismus vor allem die Lichtführung, der Blick für Stimmungen und eine romantisch-blaue Tonalität."

Weiteres: Beglückt meldet Andreas Platthaus in der FAZ, dass Dresden Grünes Gewölbe ein Zentrales Stück seiner Sammlung, das Goldene Ei, zurückkaufen konnte. Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn, dass die Alte Nationalgalerie Berlin Pissarros "Dorfplatz von La Roche-Guyon" restituiert, aber zugleich auch wieder zurückgekauft hat.

Besprochen werden die große Goya-Schau in der Fondation Beyeler (FR), die Filminstallationen von Gitte Villesen im Badischen Kunstverein in Karlsruhe (taz) und eine Ausstellung der Bildhauerin Louise Stomps in der Berlinischen Galerie (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Edita Gruberova ist tot, die Königin der Koloraturen, Virtuosin der hohen Töne, Inbegriff der Perfektion. In der FR erinnert sich Stefan Schickhaus: "Diese immer junge Stimme. Diese Beweglichkeit. Diese zeitlose Stilsicherheit. Presse und Publikum begannen sich irgendwann zu wundern, warum dieser Edita Gruberova, die 1970 als 23-Jährige gleich mit der Königin der Nacht an der Wiener Staatsoper debütiert hatte, die Zeit so rein gar nichts anzuhaben schien. Aber wann setzte das ein, das Wundern?" Vor allem hörte es nicht auch, versichert Ljubisa Tosic im Standard: "Jeder Ton, jeder quirlige Triller, jedes großzügige Glissando, all diese musikalischen Gesten wirkten als Ausdruck seelischer Zustände der Figuren. Das Ergebnis war eine paradoxe Glaubwürdigkeit in jener wundersamen Künstlichkeit, die Oper ja auch tatsächlich ausmacht." In der SZ hat Reinhard J. Brembeck vor allem Gruberovas Paraderolle als Elisabetta in Donizettis "Roberto Devereux" vor Augen: "Die Königin ist alt, sie will es sich lange nicht eingestehen, auch nicht, dass sie von ihrem jungen Lover Roberto Devereux mehr benutzt als geliebt wird. Zuletzt aber hat sie es kapiert. In diesem Moment aber, vor siebzehn Jahren auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters, wurde aus der grandiosen Superweltmeister-Koloratursopranistin Edita Gruberová eine ganz große Künstlerin. Dieser Moment wird jeder und jedem, der oder die dabei war, bis ans Lebensende in Erinnerung bleiben."

Hier ein Ausschnitt aus der Wahnsinnsarie von Donizettis "Lucia di Lammermoor":



Besprochen werden Bonn Parks und Ben Roesslers Highscool-Oper "Gymnasium" im neuen Münchner Volkstheater (deren künftigen Kult-Status SZ-Kritiker Egbert Tholl für ausgemacht hält), Stefan Herheims Inszenierung von Richard Wagners "Götterdämmerung" in Berlin (Tsp, FAZ), Adam Linder Choreografie "Loyalty" in Hamburg (FAZ) und Johan Siemons mit einer Ödipus-Überschreibung am Schauspielhaus Bochum (Nachtkritik).
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Film

Dave Chappelles Netflix-Comedyspecial "The Closer" wird erheblich kritisiert: Transfeindlichkeit lautet der Vorwurf, bei Netflix selbst drohten Mitarbeiter mit einem Streik, eine diesbezüglich besonders engagierte Person wurde bereits entlassen. Würde sie Chappelles Gags bloß auf dem Papier lesen, würden sie wohl auch auf sie verletztend wirken, glaubt die Schriftstellerin Nele Pollatschek in einem SZ-Gastbeitrag. Dennoch hat sie selbst Stunden nach der Sichtung "immer noch Tränen in den Augen (wirklich wahr, ich heule), nicht vor Verletzung, sondern vor Rührung, Befreiung, sowas Unaussprechlichem wie Menschenliebe?" Denn "auch wenn man Chapelle bei vielem Unrecht gibt, von Israel bis Geschlechteridentität, glaubt man ihm, dass er mit menschlichem Leid mitfühlt. ... In Chappelles Comedy leidet jeder, und jeder verdient Mitleid, und jeder verdient es, ob er will oder nicht, dass sein Leid zu Kunst sublimiert wird. Chappelles Kunst ist Comedy."

Außerdem: Fritz Göttler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Produzenten und Drehbuchautor Eberhard Hauff. Besprochen werden Clint Eastwoods "Cry Macho" (Tagesspiegel), die Joyn-Serie "Blackout" mit Moritz Bleibtreu (FAZ) und die auf Arte gezeigte, spanische Miniserie "Foodie Love" (NZZ).
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Design

Der weiße Sneaker ist eine "schuhgewordene Reinlichkeitsfantasie", glaubt Dirk Peitz in einer Glosse auf ZeitOnline, nachdem bei einem Treffen der Jungen Union demonstrativ weiße Turnschuhe getragen wurden. Außerdem denkt Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne für das ZeitMagazin über den anhaltenden Appeal des Punkstils in der Mode nach.
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Stichwörter: Sneaker

Musik

Jens Uthoff spricht in der taz mit der seit 2015 in den USA lebenden, afghanischen Band Kabul Dreams über die Lage in ihren Heimatland. Die Taliban "haben öffentlich erklärt, dass Musikmachen verboten ist, und sie haben auch öffentlich gesagt, dass Musiker andere Dinge tun sollen, um Geld zu verdienen", sagt Siddique Ahmed. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es wieder so sein wird wie in den 1990er-Jahren, als schon einmal Musikhören verboten war." Musikern vor Ort rät Bandkollege Sulyman Qardash: "Seid vorsichtig. Schützt euer Leben und das eurer Lieben, wenn eure Stimme in Zukunft gehört werden soll."

Die neue Isarphilharmonie klingt an sich sehr gut, nur sollte man nicht in den ersten Reihen Platz nehmen, rät Helmut Mauró in der SZ nach den ersten Konzerten. Die Klangkörper müssen sich auf die neuen Verhältnisse allerdings noch etwas einstellen. Den Münchner Philharmonikern "ist das - wenn auch nicht ganz ohne ein paar knirschende Scharnierstellen - gut möglich, meist sogar sehr gut. Bei einem klanglich weniger ausbalancierten Ensemble wie dem Mariinsky-Orchester gerät man da offenbar schnell an die Grenzen des Machbaren. Warum, fragte man sich etwa in Beethovens fünftem Klavierkonzert, glaubt das Fagott, hier oder dort ein Solo zu haben? Wo es doch nur den Bass farblich grundieren und etwas profiliert anschärfen soll? Solcherlei Überraschungen gab es immer wieder, und über weite Strecken zerfiel der Orchesterklang in seine Einzelteile, in oft metallisch scharfe Geigen und in sich disparate Bläser. Man spielte mit unhistorisch großer Besetzung, es gab allein 20 erste Geigen."

Weitere Artikel: Andreas Kolb resümiert in der NMZ die Donaueschinger Musiktage. Adrian Schräder porträtiert in der NZZ die Schweizer Musikerin Priya Ragu. Katja Schwemmers plaudert im Tagesspiegel mit Simon Le Bon von Duran Duran.

Besprochen werden das Debütalbum von Finneas, dem Produzenten und Bruder von Billie Eilish (Standard), neue Klassikveröffentlichungen, darunter Daniiel Trifonovs "Bach: The Art of Life" (Zeit), neue Popveröffentlichungen, darunter ein Album der Wiener Band Kahlenberg (Standard) und John Coltranes "A Love Supreme - Live in Seattle" mit einem Konzert vom Herbst 1965, bei dem SZ-Kritiker Andrian Kreye erfährt, "wie Coltrane von der spirituellen Tiefe von 'A Love Supreme' zur Entfesselung von 'Interstellar Space' und dem 'Concert in Japan' kam. Wir hören rein:

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