Efeu - Die Kulturrundschau

Das soll ich gewesen sein?

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06.12.2021. SZ und Nachtkritik lassen in München schuldbewusst Falk Richters strafende "Heldenplatz"-Inszenierung über sich ergehen. Die FAZ erwartet sich vom neuen, imposanten Moskauer Kulturhaus nicht unbedingt einen größeren Freiraum für die russische Kunst. Im Standard versucht Tex Rubinowitz die frisierten Bilanzen seines Lebens zu lesen. Und die taz lauscht mit den Musikethnologen von FLEE der Musik von Perlentauchern am Persischen Golf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2021 finden Sie hier

Bühne

Thomas Bernhards "Heldenplatz" Foto: Denis Kuhnert / Kammerspiele

An den Münchner Kammerspielen hat Falk Richter Thomas Bernhards durch und durch österreichisches Skandalstück "Heldenplatz" inszeniert. Nachtkritikerin Anna Landefeld genießt, wie sie hier gequält wird, und zwar nur anfangs mit scheinbar harmlosem Geplänkel: "Dazwischen immer wieder Videoprojektionen, als Störer, als Orientierungspunkte, damit keiner vergisst, worum es hier eigentlich geht. Dokumentarfilmer Lion Bischof hat die Aufnahmen zusammengesucht. Auf große Videoleinwände werden sie projiziert, eingefärbt in rot und schwarz, die NS-Aufmärsche, die BDM-Reigen, der Attentäter von Halle, die Hetzjagd von Chemnitz, Beate Zschäpes ausdrucksloses Porträt, aber auch die überlebensgroßen, überheblichen Gesichter von AfD- und CSU-Politiker:innen, aus deren Mündern Rassistisches und Antisemtisches schwallt über 'Volk', 'Vogelschiss' und den Tanz auf Gräbern. Es ist eine Collage des Widerwärtigen, die Richter und Bischof da erschaffen haben."

Richter holt für seine Generalangriff weit aus, befindet Christine Dössel in der SZ, die sich am Ende vor allem von Richters eigener Ergänzung erschlagen fühlt: "Eine Wutrede, im Duktus angelehnt an Bernhard, von drei Darstellern mit Mikros ins und im Parkett gebrüllt, weil wir alle gemeint sind in unserer wohlfeilen kritischen Aufgeklärtheit. Hanau, Chemnitz, Halle - von wegen 'nie wieder!'. Auch die Medien kriegen ihr Fett weg, vor allem die SZ, speziell ein Artikel, der in diesem Feuilleton über Igor Levit erschien. Es ist ein großer, tönender Aufwasch. Agitprop, Beschimpfung, Mahnung. Ein Angriff von links. Heftig, schäumend, ungerecht und berechtigt."

Besprochen werden die Wiedereröffnung der Prager Oper mit Arnold Schönbergs "Erwartung" und Kurt Weills "Sieben Todsünden" (SZ), Nis-Momme Stockmanns Kkapitalismus-Stück "Das Gesicht des Bösen" am Frankfurter Schauspiel (FR, FAZ), ein Abend des anarchischen Regietrios Studio Braun mit Kleists Novelle "Michael Kohlhaas" am Hamburger Schauspielhaus (taz-Kritiker Jan-Paul Koopmann hat etwas übrig für diese Art von Kiezrabaukentum, Nachtkritik), Constanza Macras' Inszenierung "The Future" an der Berliner Volksbühne ("hne falsches Pathos und doch voll symbolischer Bedeutung", findet Simone Kaempf in der Nachtkritik, "aufgeblasen und konfus, Sandra Luzina im Tsp), die Harry-Potter-Produktion im Theater am Hamburger Großmarkt (SZ), Trajal Harrells Parodie auf die Voguing-Szene "Monkey" im Zürcher Schiffbau (NZZ), Artur Molins David-Bowie-Hommage "Return of Ziggy Stardust" an der Frankfurter Volksbühne (FR) und Moritz Rinkes Komödie "Ein Mann, der sich Beethoven nannte" an der Neuköllner Oper (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Melancholische Nostlagie: Paolo Sorrentinos "Hand of God" (Netflix)

Mit "The Hand of God" wirft Paolo Sorrentino einen Blick zurück auf die Achtziger in Italien, als das Land - und ihn als jungen Mann - das Maradona-Fieber packte. Die im Kino ausgewertete Netflix-Produktion ist zwar nicht ganz so opulent wie Sorrentinos "La Grande Bellezza" von 2013, schreibt Urs Bühler in der NZZ, doch "umso feiner ist diesmal der Blick für die Details. Die Stimmung wechselt zwischen nostalgisch, melancholisch, morbid und ist gleichzeitig voll prallem Leben. ... Da sind fellineske Figuren wie eine beleibte adlige Alte im Pelzmantel, die unablässig mit bloßer Hand eine Burrata in sich hineinstopft, skurrile Szenen und viele schöne Frauen."
Hand Gottes? Finger der Göttin! Lady Gaga in "House of Gucci"

In Ridley Scotts "House of Gucci" hat vor allem Lady Gaga Robert Wagner völlig umgehauen, bekennt er auf critic.de: Als "prolliger Emporkömmling" ist sie dennoch "dezent genug, um nicht zur Witzfigur zu werden, aber so wuchtig, dass sie den Film trotzdem an sich reißt. Hüftschwung und Dekolleté, von der Kamera lechzend gesucht, nutzt sie als Waffen. In ihren Blicken steht ihre Impertinenz, die die Dialoge im Vergleich dazu umständlich ausarbeiten. Am deutlichsten steckt ihre Figur jedoch in ihren Fingern. Nicht wenn sie wie zu Beginn oft umschmeicheln, sondern wenn sie später ihre Wortgefechte zu Schwertkämpfen machen. Ihr Zeigefinger, kurz und fleischig, potent und doch unzureichend, deutet auf die Gegenüber, als gelte es, sie zu durchbohren. Während die Handkanten und Handflächen wie Schilde alles, auch die Selbsterkenntnis, von ihr abblocken wollen."

Außerdem: Andreas Busche empfiehlt im Tagesspiegel die Doppel-Retrospektive Dario Argento/David Lynch im Berliner Kino Arsenal. Nachrufe auf den TV-Komiker Mirco Nontschew schreiben Michael Hanfeld (FAZ) und Judith Liere (ZeitOnline). Besprochen wird Paul Verhoevens "Benedetta" (Freitag, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Literatur

Ziemlich ratlos steht der Schriftsteller Tex Rubinowitz im Standard vor der Tatsache seines 60. Geburtstags. "Man bekommt eine Chance und nutzt sie, die Chance des guten Lebens, die meisten stehen am Ende vor einem kleinen Haufen schlecht frisierter Bilanzen. Das soll ich gewesen sein? Das ist meine Spur, die ich hinterlassen habe? Dieses stumpfe Etwas, dieses ungelüftete Pathos, diese Reue? Mut antrinken mit Luftholen, betrunken von Ideen werden, die sich niemals realisieren lassen, Aneinandervorbeigehen in Städten, in denen der Kompass zittert. ... Wir entfernen uns von uns, in dem Moment unserer Geburt, damit wir wieder zu uns zurückkommen können, dieser wohlige Schauer der Rückkehr, nur ist dann ja nichts mehr da, wir finden uns nicht mehr wieder. Jeder versteht mich besser als ich, jede Interpretation meiner stimmt, die einzige, die nicht stimmt, ist meine eigene. Nähe ist nur in der Ferne wirklich nah, Distanz schafft Vertrauen, Nähe Stress und Sauerkraut."

Besprochen werden unter anderem die autobiografische Netflix-Serie "An der perforierten Linie abreißen" des Comiczeichners Zerocalcare (taz), Alfred Hübners Biografie über Paul Zech (Freitag) und die Neuausgabe von Peter Rühmkorfs "Auf Wiedersehen in Kenilworth" (online nachgereicht von der FAZ). Außerdem hatten wir letzte Woche übersehen: Es gibt eine neue Ausgabe des CrimeMag - hier das Editorial mit den Links zu allen Rezensionen, Essays und Notizen.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Angelika Overath über Cemal Süreyas "Die vier Jahreszeiten":

"Ins Grab des Frühlings soll man euch legen
Wie Blätter seid ihr euch begegnet
Wie Düfte habt ihr euch geliebt
..."
Archiv: Literatur
Stichwörter: Netflix, Overath, Angelika

Design

Sabine von Fischer spricht für die NZZ mit Daniel Grieder, der als Geschäftsführer von Tommy Hilfiger zu Hugo Boss gewechselt ist und die zuletzt stagnierende Marke re-aktivieren, verjüngen, dem Casual-Segment zuführen und auch für Frauen attraktiv machen will. Dafür setzt er auf Stretch und Nachhaltigkeit: "Ich trage casual, aber es sieht immer noch gut und gepflegt aus. Im Büro trage ich dann eher Anzug, aber mit Sneakers. Wenn Sie meinen Anzug heute anschauen, er sieht aus wie ein Anzug, nicht? Aber schauen Sie (er zieht am Stoff, der sich in etwa dreifache Länge dehnen lässt): total bequem, luftdurchlässig, knitterfrei, wasserabweisend - das ist der Anzug der Zukunft. Wir benutzen Stoffe aus der Sportbranche, deshalb können Sie mit diesem Anzug auch Rad fahren, bergsteigen, wandern, sogar schlafen. Darin können Sie alles machen, das ist der Anzug der Zukunft." Doch "wenn wir für den Planeten etwas Gutes tun wollen, brauchen wir eine Alternative zu Polyester. Das könnten Algen oder Pilze sein, jede Art von organischen Stoffen, an solchen Lösungen forschen wir."
Archiv: Design

Kunst

Das Kulturhaus im einstigen Kraftwerk. Foto: RPBW-Architects

Der russische Milliardär Leonid Michelson hat mit seiner VAC-Stiftung einen Kunstpalast in die Mitte Moskaus setzen und von Präsident Putin persönlich absegnen lassen. Von der Kunst erwartet Sonja Zekri in der SZ allenfalls, dass sie sich "in die Idiosynkrasien einer empfindlichen, konservativ-patriotischen Staatskultur" einfügt, doch der Bau imponiert ihr trotzdem: "Das neue Kulturhaus, das 'Dom Kultury', wie es altmodisch sowjetisch heißt, öffnet sich diesen belasteten Bezügen nicht nur, es lädt sie ein. Für eine Summe, die niemandem zu entlocken ist, hat der Architekt Renzo Piano das Areal in eine lichtdurchflutete Kathedrale der Kultur verwandelt. Auf dem Dach ragen blaue 70 Meter hohe Röhren in den Moskauer Himmel, die die gemauerten Schornsteine ersetzen und mit den Solarzellen auf dem Dach die Ökobilanz verbessern sollen: Ein Luxusliner der Kultur ist vor Anker gegangen." In der FAZ glaubt auch Friedrich Schmidt nicht unbedingt, dass hier die Freiräume der gegängelten Kunst in Russland größer werden: "V-A-C-Direktorin Mavica pariert Fragen nach möglichen Schwierigkeiten mit dem Repressionsapparat in der Manier Putins, der stets auf andere Länder verweist: 'Probleme gibt es überall', sagt sie, man handele 'im Rahmen des Gesetzes'."

Weiteres: Im Standard wirft Alfred Weidinger, der Direktor des Oberösterreichischen Landesmuseums, dem Kunstbetrieb vor, die Digitalisierung verschlafen zu haben (eine eigene Webseite wäre ein Anfang). Maria Wiener besucht für die FAZ die Schau mit Bildern von Sylvester Stallone im Osthaus Museum in Hagen. In der Welt gratuliert Marcus Woellner dem Video-, Performance- und Klangkünstler Bruce Nauman zum Achtzigsten, im Tagesspiegel Birgit Rieger. In der FAZ schreibt Georg Imdahl zum Tod des Konzeptkünstlers und Buchstabenarrangeurs Lawrence Weiner.
Archiv: Kunst

Musik

Lars Fleischmann stellt in der taz die musikethnologische Arbeit von Alan Marzo, Olivier Duport und Carl Åhnebrink vor. Unter dem Projektnamen FLEE leisten sie musikachäologische Hebungen, aktuell etwa in der Veröffentlichung "Nahma: A Gulf Polyphony", die "von der Musik von Perlentauchern aus der Region am Persischen Golf" handelt. "'Nahma zielt darauf ab, die Erinnerung an diese Freitaucher zu ehren, die monatelang in der Golfregion auf Expeditionen unter harten Bedingungen verbrachten' - um Perlen für den Westen zu sammeln. Hier steht ihre eigene Kultur und ihre Musik erstmalig im Fokus. 'Wir haben in Dänemark die allerersten Aufnahmen des Musikethnologen Poul Rovsing Olsen aufgespürt. ... Wir übergaben einige dieser Auszüge an zeitgenössische Künstler:innen. Wir forderten sie auf, nicht bloß Remixe zu produzieren, sondern beeinflusst von den Aufnahmen neue Originalmusik zu kreieren.' Das kontrovers diskutierte Thema kulturelle Aneignung spricht Duport im Interview mit der taz offen an: 'Wir denken immer mit, dass wir Fremde und Außenstehende im jeweiligen Forschungsfeld sind.'" Einen kleinen Eindruck verschafft dieser Trailer:



Außerdem: Melchior Poppe wirft für die NZZ einen Blick auf die Jahresbilanz von Spotify. Kurt Palm erinnert im Standard an die Feier zum 150. Todestag Mozarts im Jahr 1941. Johanna Adorján spricht für die SZ mit der Popmusikerin Natalie Imbruglia über den Durchbruch in den 90ern, das Älterwerden, das Kinderkriegen und sehr am Rande auch über das neue Album "Firebird".

Besprochen werden eine BBC-Performance von Sunn o))) mit Mary Anne Hobbs (The Quietus), Anna Netrebkos Kochbuch "Der Geschmack meines Lebens" (Standard), Dream Unendings Album "Tide Turns Eternal" (Pitchfork) und die auf Amazon gezeigte Bushido-Doku "Unzensiert" ("die inhaltlich sehr repetitive und glatte Dokumentation gibt nicht viel her", seufzt Tobias Sedlmaier in der NZZ). Und das Logbuch Suhrkamp präsentiert die 98. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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