Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Wachmacher, duftgewordenes Adrenalin

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18.12.2021. Der SZ fällt in Hamburg eine tonnenschwere Last von den Schultern, nachdem das Museum am Rothenbaum die Eigentumsrechte der Benin-Objekte an Nigeria übertragen hat. Der Tagesspiegel blickt im c/o Berlin in geimpfte Wolken. Der Standard feiert das Comeback des Filmmusicals und hält sich mit Bonnie Prince Billy und Bill Callahan am Christbaum fest. Die SZ erfährt von Oxana Tschernyschewa, wie russische Kampfjets riechen. Und die FAZ verabschiedet sich leise vom auf ungarische Literatur spezialisierten Wiener Nischenverlag.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Reliefplatte mit zwei Würdenträgern, Königreich Benin. Copyright: MARKK. Bild: Paul Schirnweg.

Am Donnerstag verkündete Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda, das Museum am Rothenbaum werde im nächsten Jahr das Eigentum an allen 179 Benin-Objekten der Sammlung an Nigeria übertragen. Wann und ob alle Objekte zurückverlangt werden, ist noch unklar, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ. Zunächst sind die Objekte erst noch einmal in der Ausstellung "Benin. Geraubte Geschichte" zu sehen, die laut Häntzschel so "befreit und beschwingt" wirke, als sei "von Kuratoren und Objekten einen tonnenschwere Last abgefallen": Die Macher zeigen "alle 179 von ihnen, als machten sie Inventur, von den kunstvollen Gedenkköpfen, mit denen verstorbene Könige geehrt wurden, über die Reliefplatten, die wie dreidimensionale Comics höfische Szenen darstellen, bis zu einer angeknacksten Schale und einem rostigen Schwert. Sie treten jetzt nicht nur einen Schritt von diesen Objekten zurück, für die sie nicht mehr verantwortlich sind, sie gehen auch auf Distanz zu ihren Vorgängern und deren 'Gier und Sammelwut', wie Plankensteiner es nennt."

Shinseungback Kimyonghung, Cloud Face, 2012 © the artists

Im Tagesspiegel verliert Gunda Bartels zunehmend den unschuldigen Blick in die Wolken beim Besuch der Ausstellung "Songs of the Sky. Photography & the Cloud" im c/o Berlin, die Wolkendarstellungen in der analogen Fotografie von Louis Vignes über Alfred Stieglitz bis hin zu Computer-Clouds nachzeichnet: "Die endgültige Entzauberung naiver Wolkenbetrachtung wartet im letzten Teil, in dem die klimatischen und geopolitischen Folgen der Clouds verhandelt werden. Etwa mit der Regen imitierenden, tröpfelnden Installation der Gruppe Fragmentin, die das 'Cloud Seeding' kritisch aufs Korn nimmt.  Also das Impfen von Wolken mit Silberjodid, um Regen zu vertreiben oder herbeizuführen. China hat diese Art der Wetterkontrolle vor den Olympischen Spielen in Peking eingesetzt und will sie ausbauen."

In der FAZ ist Andreas Platthaus schier überwältigt von den neunzehn neuen, großformatigen Gemälden Anselm Kiefers, die nun in der Ausstellung im Pariser Palais Ephemere gezeigt werden und die der Künstler Paul Celan gewidmet hat: "Eine Ausstellung wie diese hat es nie gegeben: vom Ausmaß einer Flughafenhalle in Grönland, wenn man aus teilweise hundert Meter Entfernung auf einzelne Bilder zugehen kann, und von der Intimität eines belauschten Zwiegesprächs, wenn man dann vor ihnen steht und die ihnen eingeschriebenen Celan-Verse liest - jeweils auch Selbstbefragungen Kiefers."

Besprochen werden die Ausstellung "Die Wiener Rothschilds - Ein Krimi" im Jüdischen Museum in Wien (Standard) und die Zanele-Muholi-Ausstellung im Berliner Gropius Bau (FAZ)
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Literatur

In der FAZ verabschiedet sich Christiane Pöhlmann vom Wiener Nischenverlag, der auf ungarische Literatur spezialisiert war und nach zehn Jahren den Betrieb einstellt. Die Devise der beiden Macher Zsóka und Paul Lendvai "lautete stets, ein Verlag koste Geld, aber 'wir müssen ja unsere Ersparnisse nicht in St. Tropez ausgeben. Wir können damit Honorare zahlen.' Nun ist nach zehn Jahren St. Tropez zwar nicht reicher geworden, die literarische Welt aber ärmer.  Das Paar "wollte zeigen, dass es in Ungarn neben längst etablierten Größen wie den beiden Péters - Esterházy und Nádas - literarisch weitere Entdeckungen zu machen gibt, aber sie wollten nie einen Tamisdat-Verlag aufbauen. Alle Werke sind auch in Ungarn erschienen. ... Das Nischen-Programm spiegelt damit auch die nicht ganz so glasklare Situation in Ungarn wider: Sind diese originalsprachlichen Veröffentlichungen Relikte? Hoffnungszeichen? Feigenblätter nackter Repression?" Unseren Schwerpunkt zur ungarischen Literatur finden Sie hier.

Weiteres: Frank Schäfer erzählt in der taz die bewegte Geschichte des legendären März Verlags, den die Verlegerin Barbara Kalender in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Matthes-&-Seitz-Lektor Richard Stoiber im kommenden Frühjahr nach über 30 Jahren mit einem "vielversprechenden" Programm wiederbeleben will: "Geplant ist eine Mischkalkulation aus drei neuen und drei Backlist-Titeln pro Saison." Mit reger Freude klickt sich Dirk Knipphals von der taz durch das historische Archiv der neuen Website des Büchnerpreises, die dieser sich zum 70. Jubiläum gegönnt hat: Hier erfahre man "einiges aus dem Maschinenraum des Literaturbetriebs und über die Rangeleien, die hinter der Produktion von literarischer Aura stehen." In einer "Langen Nacht" für Dlf Kultur widmet sich Nikolaus Scholz dem Schriftsteller Heimito von Doderer. Für die FAZ spricht Andreas Platthaus mit Cornelius Riese, dem Vorstandschef der DZ Bank, über dessen Gründe dafür, einen Erzählungsband herauszubringen: "Die Tätigkeit des Schreibens bereitet mir Spaß und Freude", erfahren wir.

Besprochen werden unter anderem der neue Gedichtband "Winterrezepte aus dem Kollektiv" der Nobelpreisträgerin Louise Glück (FR), Stefan Heyms Weltkriegsepos "Flammender Frieden" (SZ), Kirsten Fuchs' "Mädchenmeuterei" (taz), Angela Lehners "2001" (Standard), eine Neuausgabe von Henning Mankells erstem Roman "Der Verrückte" (Standard) und Asja Bakićs Erzählungsband "Mars" (FAZ).
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Bühne

Sehr bewegt erlebt Nachtkritiker Janis El-Bira Helgard Haugs fast wortloses Stück "All right. Good night" am Berliner Hebbel am Ufer, in dem die Rimini-Protokoll-Regisseurin das spurlose Verschwinden des Flugzeugs MH370 über dem Ozean mit der Demenz des Vaters kurzschließt: "Haug hat aus der Parallelität von dem Einen, der noch da ist, aber schon fort scheint, und den Vielen, die fort, aber allgegenwärtig sind, einen Text entworfen, der zu den schönsten und berührendsten, durchaus auch traurigsten dieses Theaterjahres zählen muss. Man wünscht ihm ein Nachleben in vielen Formen, als Buch oder Hörspiel, damit man sich festhalten kann an seinen Bildern, die so beredt gleichzeitig von der Katastrophe am Himmel und im Kopf zu sprechen verstehen: Die Batterien des Funkschreibers, die zu früh abgelaufen waren, die krakelige letzte Vater-Handschrift, 'krumm wie Moorstelzen', die 'Kontaktpunkte' und 'handshakes', mit denen die Familie versucht, dem Dementen einen Weg durch den Alltag zu bahnen."

Im Tagesspiegel schreibt Patrick Wildermann: "Über einen Zeitraum von acht Jahren verfolgt Helgard Haug in dieser großartigen Arbeit das langsame Verblassen. Sie lässt Hinterbliebene des Unglücksfluges zu Wort kommen, die Tag für Tag ohne Antworten leben müssen, auch damit, dass es ohne Leiche kein Begräbnis geben kann. Und sie erzählt von einer Krankheit ohne Chance auf Heilung, die ans Existenzielle rührt. Was ist das Selbst, was bedeutet Würde?"

Außerdem: Im taz-Interview mit Susanne Lange spricht der österreichische Kabarettist Joseph Hader über sein neues Bühnenprogramm "Hader on Ice", toxische Männlichkeit und Cancel Culture: "Das passiert ja meistens bei Kollegen, die das auch wirklich todernst meinen, was sie auf der Bühne sagen. Da finde ich es nicht ungerecht, dass man sie beim Wort nimmt und sie Widerspruch erhalten. Das ist Demokratie." In der SZ geht Egbert Tholl Erfolg und Zauber von Weihnachtsmärchen auf den Bühnen nach.

Besprochen werden Robin Hawdons "Wochenend-Affären" in der Komödie Frankfurt (FR).
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Design

Die russische Parfümeurin Oxana Tschernyschewa hat mit "Checkmate" ein Parfüm zu Ehren eines neuen russischen Kampffliegers kreiert. Düfte zu Waffen und Fluggeräten haben in Russland Tradition, erinnert Sonja Zekri in der SZ. Der Werbespot zu "Checkmate" scheint ihr "bedrohlich", "mehr wie eine Putin-Rede zur Ukraine-Krise". Vom Duft ist Zekri dann aber offenbar ganz hingerissen: "Die Eröffnung ist grell, zitrisch, ein Feuerwerk aus Grapefruit und Vetiver. Nach einer Weile folgen Wacholder und eine Spur Koriander, alles sehr hell, sehr grün. Dieses Parfüm ist ein Wachmacher, duftgewordenes Adrenalin. Zwei Stunden später, die Unruhe hält an. Die Basisnote ist krautig-vital, was irgendwann anstrengend wird." Auch bleibe der versprochene "technogene Aspekt" aus. "'Glas allein hat natürlich keinen Geruch', gibt Tschernyschewa zu: 'Die Mischung der Komponenten lässt eine Vorstellung von Kälte, Transparenz, Zerbrechlichkeit entstehen, also von Glas.' Also doch noch mal hinriechen? Nein, immer noch kein Cockpit. Nicht mal ein kleines Seitenfenster."
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Film

Das Filmmusical erfährt gerade ein großes Comeback, ist Dominik Kamalzadeh vom Standard aufgefallen: Zwar könnten Leos Carax' "Annette" (unsere Kritik) und Steven Spielbergs "West Side Story" (unsere Kritik) "kaum unterschiedlicher sein, aber beide zeugen von einer verblüffenden Gegenwärtigkeit des Musicals." Spielberg schärft seinen Stoff mit Blick auf "auf kulturelle Sensibilitäten" nach, inszeniert Tanz und Gesang aber mit "klassizistischer Verve. ... Die Verhärtungen des letzten Jahrzehnts, den Rassismus und die Spaltung der US-Gesellschaft findet man dennoch wieder. Die Jugend agiert orientierungsloser, gewalttätiger, der romantische Nimbus ist dahin. Carax' 'Annette' geht da noch weiter und gleicht doch einem Irrlicht. Unschuld findet man darin keine mehr, der Spielraum zwischen Leben und Kunst - und da ist der Film auf der Höhe der Zeit - wird immer enger. ... Wahrscheinlich ist 'Annette' mit seiner unauflöslichen Masche aus Ernst und Unernst auch ein Film über unseren trübe gewordenen, einseitigen Blick - mithin eine notwendige Irritation." Eine weitere Besprechung von "Annette" findet sich im neuen österreichischen Filmmagazin Filmfilter.

Außerdem: Andreas Scheiner gratuliert in der NZZ Steven Spielberg zum 75. Geburtstag. Für die SZ wirft David Pfeifer einen Blick nach Thailand, wo man derzeit sehr neidisch, aber von einer unproduktiven Kulturbürokratie gelähmt auf das seit frühen Nullerjahren allmählich aufgebaute Filmwunder Südkoreas blickt. Und der Filmdienst verkündet die besten Filme des Jahres - die drei besten Filme sind demnach Kelly Reichardts "First Cow", Dominik Grafs "Fabian" und Julia Ducournaus "Titane".

Besprochen werden der auf Apple+ gezeigte SF-Film "Schwanengesang" (SZ, FAZ), Paolo Sorrentinos "Die Hand Gottes" (Freitag), Maggie Gyllenhaals Elena-Ferrante-Adaption "Frau im Dunkeln" (FAZ), die neue Staffel von "Sex and the City" (Freitag), Christian Ulmens neue Comedyserie "Die Discounter" (FAZ), die RTL-Serie "Faking Hitler" (Jungle World) und der neue Spider-Man-Film (Presse).
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Musik

Lilith Schädlich erinnert in der Jungle World an die im April dieses Jahres verstorbene Musikerin Anita Lane, deren zweites Album "Sex O'Clock" von 2001 gerade erstmals auf Vinyl wiederveröffentlicht wurde. Viele Jahre zuvor war sie eine Wegbegleiterin Nick Caves gewesen, dessen erste Band The Birthday Party sie maßgeblich prägte. "Lane war das Mädchen, das die Jungs in der Kunst des Bösen unterrichtet. Und sie zeigte den schüchternen Mädchen, wie man furchterregend auftritt. Sie selbst beherrschte dieses Auftreten perfekt - was sich vor allem in ihrem spöttischen Lächeln zeigte. ... Die teils unheimlichen und morbiden Texte sind immer explizit: explizit sexuell, explizit traurig, explizit wütend und explizit auf Messers Schneide. Lane trägt hier eine innere Zerrissenheit vor sich her, eine Verletzlichkeit, all die Facetten menschlicher Emotionen, die gern verneint und gemieden werden."



Christian Schachinger vom Standard legt seinen Lieben das neue, gemeinsame Doppelalbum von Bonnie "Prince" Billy und Bill Callahan unter den Baum - ein Gipfeltreffen des US-Folks mit Indie-Credibility. Die beiden gestandenen Songschreiber haben sich einen Strauß Coverversionen erarbeitet und das ist in dieser "Ausführung ideal für die stille Zeit, wenn man sich aufgrund von zu viel Punsch kurz einmal am Christbaum festhalten muss, damit die Welt nicht so wackelt. Angenehm grummelig, die Gitarren kratzend, das Schlagzeug besenrein kehrend und manchmal mit herzhaft auseinanderstiebendem Duogesang nimmt man sich unbekannterer Songs von Leonard Cohen an, etwa 'The Night of Santiago' aus dem Spätwerk." Aber auch über Songs von Lou Reed, Robert Wyatt und sogar Billie Eilish haben die beiden sich gebeugt.



Weitere Artikel: Dass derzeit viele namhafte alte Recken der Pop- und Rockmusik ihre Rechtekataloge für schwindelerregende Summen verkaufen, dürfte auch damit zu tun haben, dass sie für ihre Erben und den Nachlass die Lage schon einmal vorsorglich regeln wollen, mutmaßt Melchior Poppe in der NZZ.

Besprochen werden die konzertante Uraufführung von Adrian Gaspars Kammeroper "Romano Kidipe" im Frankfurter Gallus-Theater (FR), die Ausstellung "Electro: Von Kraftwerk bis Techno" im Museum Kunstpalast in Düsseldorf (FAZ, WamS) und das Debüt des Züricher Postpunk-Trios OneTwoThree, hinter dem sich gestandene Veteraninnnen der Züricher Punkszene befinden (taz).
Archiv: Musik