Efeu - Die Kulturrundschau

Der Verlust an Weite

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29.12.2021. Die Welt holt einmal tief Luft und taucht ein in die betörende Tierwelt der Marseiller Cosquer-Grotte. Die NZZ erinnert daran, dass der Waffenfabrikant und Kunstsammler Emil Bührle der eitlen Kunstwelt römische Härte entgegensetzen wollte. In der FAZ zeigt sich der Lektor Wolfgang Matz unbeeindruckt von skandalisierenden Enthüllungsgesten gegenüber W.G. Sebald. Und auf ZeitOnline erklärt Georg Seeßlen, wie der Realismus im digitalen Kino unsere Art des Sehens verändert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Pinguine? Im Mittelmeer? Die Cosquer-Grotte bei Marseille. Foto: Musée d'Archéologie Nationale

In der Welt erzählt Martina Meister die Geschichte der Cosquer-Grotte, die der Berufstaucher Henri Cosquer aus Cassis 1985 durch Zufall entdeckt hatte und die jetzt in Marseille nachgebaut werden soll: Ihr Eingang liegt 37 Meter tief unter Wasser und um zu ihr gelangen, muss man durch einen 116 Meter tiefen Gang tauchen: Ihre Zeichnungen zeigen Pferde, Bisons, Auerochsen, sehr viele Hände, vielleicht sogar den ersten Mord der Geschichte. Einige wollen auch drei Pinguine erkannt haben: "Eine prähistorische Höhle im Mittelmeer, rechts der Rhône, wo man bislang nicht fündig geworden war, mit Pinguinen? Selbst Experten hielten das für Fakenews und Cosquer für einen Spinner. Das französische Kulturministerium beauftragte damals den einzigen taucherfahrenen Prähistoriker, Jean Courtin, die Sache zu überprüfen. Als Courtin begleitet von Tauchern der französischen Marine nach mehreren Stunden wieder auftauchte, war er fassungslos. 'Wir standen vor Zeichnungen, die so perfekt wie die in Lascaux waren, aber doppelt so alt', erinnert sich der Forscher heute. Durch Radio-Carbon-Datierung wurde das Alter nachgewiesen. Offensichtlich war die Höhle zweimal bewohnt - 33.000 und 19.000 vor unserer Zeitrechnung."

In der NZZ zeichnet ein kurzes Thomas Ribi des Waffenfabrikanten Emil Bührle, dessen Kunstsammlung die Schweizer Kultur spaltet - obwohl er doch mit dem "eitlen Getue" von "Literaten, Künstlern und Wissenschaftlern" nie etwas anfangen konnte, wie ihn Ribi zitiert: "Gegen deren 'kunstgewerbliche Weltanschauung' bringt er den Untergangsphilosophen Oswald Spengler in Stellung. Im 'Rückblick' zitiert er eine längere Passage aus einem Essay von Spengler: 'Diese Ideale soll man in Scherben schlagen; je lauter es klirrt, desto besser. Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt.'"

Besprochen werden die Schau "Poussin und der Tanz" in der National Gallery in London (SZ), die Ausstellung "Produktive Bildstörung" in der Düsseldorfer Kunsthalle über Sigmar Polkes Einfluss auf die Kunstwelt (FAZ), eine Schau zu den Künstlerfreunden Édouard Manet und Zacharie Astruc in der Kunsthalle Bremen (Tsp) und die Sammlung der Kunsthalle Rostock zu Gast in den Berliner Reinbeckhallen (Tsp)
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Film

In einem großen, historische wie prognostische Haken schlagenden Essay für ZeitOnline begibt sich Georg Seeßlen auf die Spur des Realismus im digitalen Kino. Digitale Spezialeffekte etwa sind nicht nur Sache des Blockbusters, sondern werden auch gerne in realistischen Filmen verwendet - gerade um den realistischen Eindruck zu erhöhen: Gottesperspektiven etwa fallen heute quasi kinderleicht. So werde "nicht allein das Gesehene verändert, sondern fast deutlicher noch die Art des Sehens. Die Perspektiven lösen sich von der Imitation eines subjektiven, menschlichen Blicks und werden zum panoramatischen Rundblick eines imaginären Feldherren." Dies "verwandelt den Raum in eine gewaltige Schnittstelle." Doch dies "bedeutet nur eine scheinbare Ermächtigung des Blicks. Letztlich spiegelt sich darin eine allseitig kontrollierte Welt wider (und eine ganze Reihe eindrucksvoller Thriller spielt mit der Raumdeutung durch Überwachungskameras). Das hat für den Film eine bemerkenswerte Konsequenz: den Verlust an Weite."

Welchen Weltliteraten haben wir noch nicht erwähnt? Woody Allens "Rifkin's Festival"

Mit "Rifkin's Festival" (in Deutschland derzeit noch ohne Starttermin) schreitet Woody Allens Karriere eine Stufe tiefer hinab auf der "Treppe in die Vorhölle der Bedeutungslosigkeit", stöhnt Tobias Sedlmaier in der NZZ. Schon wieder legt der New Yorker Filmemacher einen "sanft in den Gewässern der Gleichgültigkeit treibenden Film" vor. Völlig unverständlich ist es dem Kritiker daher, dass Allen auch für seinen späten Filme immer wieder Lob erhält, waren diese doch bloß "überlange Folgen einer Soap-Opera, in der jemand wahllos die Namen von Weltliteraten ruft. So manchem Künstler glückt in seinem Alterswerk noch eine überraschende Geste", doch Allen  "fällt nichts anderes mehr ein, als im ewigen Leerlauf sein Werk zu wiederholen, mit jedem Mal noch banaler."

Außerdem: Patrick Holzapfel führt im Filmdienst durch die Filme von Adam McKay, der mit Trottelfilmen rund um Will Ferrell bekannt wurde, aber seit einigen Jahren die menschliche Dummheit in ernsteren Filmen aufs Korn nimmt. Aus Adam McKays aktuellem Film "Don't Look Up" (mehr dazu hier) zieht Rainer Schüller in einem Standard-Essay Lektionen fürs Leben.

Besprochen werden Joel Coens "Macbeth"-Verfilmung (FAZ, mehr dazu hier), die Netflix-Serie "Der unwahrscheinliche Mörder" über den Mord an Olof Palme (FAZ), die zweite Staffel der wegen ihrer Pariksklischees vielgescholtenen Netflix-Serie "Emily in Paris" (taz), die Apple-Serie "Foundation" nach dem gleichnamigen SF-Romanzyklus von Isaac Asimow (Zeit), die Kunst-Doku "The Lost Leonardo" (taz) und die ARD-Miniserie "Eldorado KaDeWe" (FR).
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Literatur

In der insbesondere im englischsprachigen Raum geführten Debatte um W.G. Sebald (hier und dort unsere Resümees) schaltet sich nun in der FAZ der frühere Sebald-Lektor Wolfgang Matz ein. Insbesondere die Vorwürfe von Sebalds Umgang mit Quellen und wie der Autor Realität und Fiktion vermengte, seien uralt und vom Autor selbst auch zu Lebzeiten diskutiert. "Der skandalisierende Enthüllungsgestus, man habe jetzt endlich Belastendes aufgedeckt, das den Delinquenten künftig als 'politisch-moralische Instanz' disqualifiziere, ist Pose. Ein alter Hut auch für die Literatur. Sebald hat reale Figuren aus Geschichte und Gegenwart als Vorbild genommen und in seine Erzählwerke verpflanzt? Aber was um Himmels willen tut ein Roman sonst?" Und sollte es wirklich unangemessen sein, "wenn ein Nachgeborener fiktiv, literarisch über den Holocaust schreibt und Zeugnisse von wirklichen Opfern verwendet? Die letzten Zeitzeugen verschwinden, und mit ihnen verschwände die Katastrophe des Jahrhunderts aus der Literatur."

Außerdem: In der taz erinnert Robert Mießner an den Dichter und Hörspielautor Lothar Walsdorf, der sich als ehemaliges Heimkind der DDR als Tramp und mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Alan Claude Sulzer beantwortet in der NZZ all die Fragen, die ihm als Schriftsteller im Alltag immer wieder gestellt werden. Nachrufe auf die Schriftstellerin Birgit Vanderbeke schreiben Cornelia Geißler (FR) und Gerrit Bartels (Tsp).

Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Übungen im Fremdsein" (NZZ), Bae Suahs "Weiße Nacht" (ZeitOnline), Matthias Senkels Erzählungsband "Winkel der Welt" (Tsp) und Bogdan Wojdowskis wiederentdeckter, autobiografischer Ghettoroman "Brot für die Toten" (FAZ).
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Bühne

Ljubiša Tošic porträtiert im Standard den Regisseur Stefan Herheim, der ab September 2022 das Theater an der Wien leiten wird. Die Nachtkritik zeigt heute Abend Wolfram Lotz' Stück "Die Politiker" vom Hamburger Thalia Theater im Livestream.
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Musik

In der Welt spricht Manuel Brug mit dem Dirigenten Vladimir Jurowski über Strawinsky. Harry Nutt gratuliert in der FR Marianne Faithful zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden die Memoiren des New Yorker Musikers John Lurie (taz) und neue Musikveröffentlichungen, darunter die BBC-DröhnSession von Sunn o))) und Anna von Hausswolff: "Herrlicher Endzeitlärm", der "befreiend klingt", meint dazu Christian Schachinger im Standard.

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Stichwörter: Jurowski, Vladimir