Efeu - Die Kulturrundschau

Harte Poesie gegen harte Fakten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2022. Die Welt sieht im derzeigtigen Publikumsschwund auch eine ästhetische Krise des Theaters. Die Nachtkritik fährt mit dem Staatstheater Kassel zur wahren Bühne der Weltpolitik: der Panzerteststrecke für den Leopard 2. In der NZZ verteidigt der Slawist Jens Herlth die russische Literatur gegen ihre ukrainischen Verächter. In der SZ wünscht sich die Künstlerin Barbara Kruger von der Linken mehr Rhetorik und weniger Gewissen. Im Tagesspiegel würde der Musikmanager Karsten Witt gern den Klassikbetrieb umkrempeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.05.2022 finden Sie hier

Bühne

Selbst bei Premieren werden mittlerweile unter dem Hashtag #Publikumsschwund freie Plätze aus dem Parkett gemeldet. Welt-Kritiker Jakob Hayner hätte sich bei der Podiumsdiskussion "Die Zukunft des Theaters" zur Eröffnung des Berliner Theatertreffens auch gewünscht, dass auch über die ästhetische Krise der Kunstform Theater gesprochen würde, nicht nur über Nachhaltigkeit und Diversität: "Noch vor wenigen Jahren galt das Ästhetische in der bundesrepublikanischen Intelligenzija als Refugium des Widerstands gegen die verwaltete Welt. Das hat sich ins Gegenteil verkehrt. Es regiert ein neuprotestantischer Geist. Der Wert der Kunst soll sich an der Moral bemessen lassen. Der Theatermacher August Everding schrieb einmal über die Zukunft des Theaters, dass es sich den Fragen der Zeit nicht verschließen dürfe, doch auch den künstlerischen Abenteuern Raum geben müsse: 'Das Theater ist die Behausung für des Menschen größte und schönste Gabe: die Fantasie.' Doch von Fantasie keine Spur mehr, die ist ja jetzt an der Macht."

Stadtrundfahrt in Buntarnfleck. Your Very Own Double Crisis Club. Foto: Isabel Machado Rios / Staatstheater Kassel

Regisseurin Laura N. Junghanns hat für das Staatstheater Kassel eine Busfahrt durch die Stadt inzeniert, unterlegt mit Sivan Ben Yishais Klagelied "Your Very Own Double Crisis Club", und Nachtkritiker Jan Fischer musste sich wappnen: "Regisseurin Laura N. Junghanns lässt den Text, ein chorisches Klagelied über den Tod einer zugrunde gerichteten Stadt, nicht nur Test sein, sondern auch Sprungbrett, um tief in die Stadt Kassel vorzudringen. Denn die gelangte in den letzten Jahren durch 'Jana aus Kassel' und noch mehr durch den Mord an Halit Yozagt in die Schlagzeilen - die 'Busfahrt für den Frieden' führt auch am neu so benannten Halit-Platz vorbei, aber auch an den Werken der Rüstungsfirmen Rheinmetall, Henschel oder Krauss-Maffei Wegmann sowie an der Panzerteststrecke für den Leopard 2 oder den Puma. Im engen Gang des Busses - und einmal in einer Industriehalle - turnen die drei Spieler*innen lautstark hin und her, immer wieder auf die Standorte aktueller oder vergangener Rüstungsunternehmen zeigend. Sie zeigen, wo genau während der NS-Zeit die Arbeitslager für diese Unternehmen standen, oder dröseln die komplexen internationalen Strukturen diverser Joint Ventures auf. Ben Yishais Text wird dabei immer wieder mit diesen Informationen quergeschnitten: Harte Poesie gegen harte Fakten. "

Besprochen werden Johanna Wehners Bühnenadaption von Joseph Roths "Hiob" am Schauspiel Frankfurt (Nachtkritik, FAZ, FR), Bernard Ganders Flüchtlingsoper "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" nach einem Roman des ukrainischen Autors Serhij Zhadan in München (die Reinhard Brembeck in der SZ als "aufrüttelnd Grau in Grau gehaltenes Tableau der Unmenschlichkeit" würdigt, FAZ-Kritiker My Nyffeler allerdings unglücklich von der Wirklichkeit überholt sieht), Hermann Hesses "Steppenwolf" am Deutschen Theater (Tsp) und spanische Stücke beim Heidelberger Stückemart (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In der NZZ verteidigt der Slawist Jens Herlth Tolstoi vor Oksana Sabuschkos Generalabrechnung mit der russischen Kultur (unser Resümee). Die russische Literatur habe sich den Herrschenden verkauft, argumentiert die ukrainische Schriftstellerin, der Herlth eine ethnonationalistische Position vorwirft. Die russische Literatur hat sich laut Sabuschko "prostituiert - genau wie die weibliche Heldin in Tolstois letztem Roman 'Auferstehung'. Damit verfällt Sabuschko in das patriarchalische Bewertungs- und Erniedrigungsmuster, das Tolstoi in seinem Roman gerade attackiert. ... Tolstoi war Autor pazifistischer Traktate und wurde de facto exkommuniziert, weil er sich über die Dogmen und liturgischen Rituale der orthodoxen Staatskirche lustig gemacht hatte." Auch wolle "Sabuschko nicht zur Kenntnis nehmen, dass es regimekritische russische Autorinnen und Autoren wie Wladimir Sorokin, Ljudmila Ulitzkaja, Michail Schischkin, Sergei Lebedew oder Boris Akunin sind, die in den letzten Wochen die erhellendsten Statements zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine und zu den Verbrechen des Putin-Regimes publiziert haben."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im Standard denkt die Schriftstellerin Ilse Kilic darüber nach, wie man sich als Autorin eher schlecht als recht finanziell über Wasser hält. Der Standard hat ein Muttertagsgespräch mit Andrea Roedig geführt, die gerade einen Roman über Mütter veröffentlicht hat.

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "RCE (Welt), Chimamanda Ngozi Adichies "Trauer ist das Glück, geliebt zu haben" (NZZ), Saidiya Hartmans "Aufsässige Leben, schöne Experimente" (FAS), Kaśka Brylas "Die Eistaucher" (Freitag), Walerjan Pidmohylnyjs "Die Stadt" (Tsp), Gabriele Riedles "In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg." (Freitag) und Kim Hye-jins "Die Tochter" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jürgen Pelzer über Peter Hacks' "Anlässlich einer Mainacht":

"Wenn das Glück sein Füllhorn auskippt, erwarten
Sie nicht Birnen, Trauben noch Rosen. Nämlich..."
Archiv: Literatur

Kunst

Franz Gertsch: "Gräser IX", 2020. Bild: Museum Franz Gertsch

NZZ
-Kritiker Philipp Meier versinkt in den Tiefen des Blaus, das in den Bildern des Schweizer Malers Franz Gertsch seine eigene Magie entfaltet, wie das Museum Gertsch jetzt zeigt: "Gertsch kommt einem vor wie einer jener fernöstlichen Eremiten, die sich vom Klamauk der Welt zurückziehen, um in meditativer Versunkenheit der Natur zu lauschen. Seinen Bezug zur fernöstlichen Philosophie verhehlt Gertsch nicht. Mit Zen, auch mit Tai-Chi hat er sich auseinandergesetzt. Das schwingt mit in diesen vergeistigten blauen Naturmeditationen. Warum aber diese Filterwirkung in Blau? Gertsch will nicht einfach das Sichtbare der Natur wiedergeben, sondern etwas sichtbar machen. Die Menschen sollen selber sehen. Und tatsächlich setzt sich vor dem inneren Auge alles stimmig zu einer real farbigen Landschaft zusammen. Es ist wie mit der ostasiatischen Tuschmalerei, die alle Farben enthält. "

Im SZ-Interview mit Catrin Lorch pocht die Konzeptkünstlerin Barbara Kruger, deren Plakat- und Wortinstallationen gerade in der Neuen Nationalgalerie in Berlin gezeigt werden, auf die Kraft von Slogans und Rhetorik: "Joe Biden kann kaum einen Satz rausbringen, ich kann dabei kaum zuschauen. Und bei Kamala Harris ist es genauso. Nancy Pelosi ist eine mutige und bewundernswerte Figur, eine geschickte Verhandlerin, die Macht versteht. Aber es ist befremdlich, jemanden 'Speaker' zu nennen, dessen öffentliche Rede so ineffektiv ist. Viele stellen fest, dass sie nicht für die Demokraten stimmen können, weil die nicht ideologisch stark oder mutig auftreten. Sie haben das Gefühl, dass sie ihrem Gewissen folgen müssen, wenn sie wählen. Aber die Welt ist größer als ihr narzisstisches Gewissen. Bis wir nicht auch auf der Linken mächtige, verführerische Polemiker haben, wird sich das nicht aufhalten lassen. Wir werden in Schwierigkeiten geraten, auch in Europa."

Weiteres: In der SZ berichtet Mette Mølgaard, dass sich Dänemarkt noch immer keinen Reim auf die Aktion der Performance-Künstlerin Ibi-Pippi Orup Hedegaard machen kann, die ein Werk des Situationisten Asger Jorn signierte (unser Resümee).

Besprochen werden die große Marcel-Duchamp-Retrospektive im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt (taz), die Angela-Merkel-Porträts der Fotografin Herlinde Koelbl im Deutschen Historischen Museum (FAZ) sowie die Parallelausstellungen von Georg Baselitz, Ugo Rondinone oder Anish Kapoor zur Biennale in Venedig (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

In diesem Sommer ersetzen Bandeau-Tops den Büstenhalter, stellt Tillmann Prüfer in seiner Modekolumne im ZeitMagazin fest. Gut so, schreibt er, denn "die Tatsache, dass es überhaupt BHs gibt, steht in der Tradition, dass die Gesellschaft über den weiblichen Körper urteilt und ihn in Formen pressen möchte. In diesem Sinne können Designerinnen und Designer gar nicht genug Bandeau-Tops entwerfen, um Möglichkeiten zu bieten, darüber selbst zu entscheiden."
Archiv: Design

Film

Sehr schade findet es Ralf Krauthausen in einem Essay für ZeitOnline, dass behinderte Menschen im Film "meist ziemlich bemitleidenswerte und passive Figuren darstellen. ... Ich habe genug von darstellender Kunst, bei der Figuren mit Behinderung in Plots geraten, in denen sie immer wieder nur als passive Charaktertests für die nichtbehinderten Protagonisten dienen." Vor allem aber vermisst Krauthausen behinderte Menschen an den Schauspiel-Hochschulen, wo sich diesbezüglich wenig tut: "Eine Offensive täte not; schon allein, um mehr Bewerbungen zu erhalten."

Weitere Artikel: Stefan Sonntagbauer schaut sich für den Standard in der Welt des österreichischen Horrorfilms um. Auf FAZ.net gratuliert Heike Hupertz dem Regisseur Matti Geschonneck zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Apichatpong Weearasethakuls "Memoria" mit Tilda Swinton (Tsp, unsere Kritik) und David Tebouls Dokumentarfilm über Sigmund Freud (taz, ZeitOnline).
Archiv: Film

Architektur

Günther Behnischs Olympiastadion mit Frei Ottos Dach Foto: Jorge Royan/Wikimedia CC BY-SA 3.0

In der NZZ huldigt Katharina Matzig dem Münchner Olympiastadion, mit dessen schwingendem Zeltdach Günter Behnisch und Frei Otto vor fünfzig Jahren der Stadt eine Ikone vermachten: "Der antike Dreiklang von Schönheit, Nützlichkeit und Festigkeit, mit dem die Qualität von Bauwerken zu werten ist, entstammt jedoch der Vergangenheit. Der Rang des Münchner Olympiaparks wiederum, der dieses Jahr sein 50-Jahr-Jubiläum feiert, verdankt sich visionärem Mut, unerschütterlichem Glauben und statischem Irrsinn."

Weiteres: Ulf Meyer besichtigt für die FAZ das neue Museum für die Sammlung de Alvear in Cacéres in der Extremadura. In der SZ wundert sich Gerhard Matzig tatsächlich, dass das neue Aldi-Hauptquartier in Essen nicht so unförmig, schmucklos und trist geraten sei wie die typischen Discounter-Filialen.
Archiv: Architektur

Musik

Der Musikmanager Karsten Witt fordert im Tagesspiegel-Interview, den Klassikbetrieb ordentlich umzukrempeln: Zu wenig Management, zu wenig Publikumsforschung, hier und da vielleicht auch etwas zu viel Bequemlichkeit, da die zur Verfügung stehenden Mittel ja eh öffentliche sind. Zwar "wäre es keine Lösung, die staatliche Unterstützung zu streichen, schon wegen der Gefahr, dass das Geld für die Kultur dann verloren wäre. Das Problem ist, dass fast alles Geld in die Fixkosten fließt und von Jahr zu Jahr immer weniger Mittel für künstlerische Projekte verfügbar sind. Das war das strukturelle Problem des Southbank Center, und so geht es auch den deutschen Opernhäusern und Orchestern. Es muss darum gehen, das kreative Potential dieser Einrichtungen zu entfesseln. Wo ein größerer Teil der Einnahmen erwirtschaftet werden muss, ist eine Erstarrung gar nicht möglich."

Gemeinsames öffentliches Singen ruft ein Gemeinschaftsgefühl hervor - und dies umso mehr in der Ukraine, wo die Bevölkerung von Beginn des Krieges an den Invasoren die ukrainische Nationalhymne entgegen schmetterte und damit eindrucksvoll unterstrich, dass sie gar nicht durch die Russen "befreit" werden müssten, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. Die Nationalhymne "ist, sehr ungewöhnlich, in einem steten Wechsel zwischen Hell und Dunkel, zwischen Dur und Moll komponiert, übrigens von dem katholischen Priester Mychajlo Werbyzkyj. Noch ungewöhnlicher wirkt neben dem Ende in Moll der getragene Tonfall, der alle Klischeevorstellungen von schwerblütigem Slawentum zu erfüllen scheint. Doch der Grund enthüllt sich in der ersten Zeile des 1862 von Pawlo Tschubynskyj verfassten Textes: 'Noch ist die Ukraine nicht gestorben'. ... Die heutige russische Hymne führt dagegen bis jetzt kaum zu einer vergleichbaren emotionalen Mobilisierung. Sie ist - auch das lässt tief blicken - seit Ende 2000 wieder die alte sowjetische."

Weitere Artikel :Harry Nutt meldet in der FR News aus der Welt des Bob Dylan. Adrian Schulz berichtet im Tagesspiegel von einem Experiment, bei dem das Publikum eines klassischen Konzerts verkabelt wurde. Im Tagesspiegel gratuliert Christian Schröder Roland Kaiser zum 70. Geburtstag. Die Agenturen melden, dass U2 ein Konzert in Kiew gegeben haben.

Besprochen werden ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Herbert Blomstedt (Standard), ein Konzert des Chorwerks Ruhr in der für Konzerte sonst nicht zugänglichen Dresdner Schlosskapelle (FAZ) und das Album "Odesa: A Musical Walk Through a Legendary City" des ukrainisch-deutschen Jazzpianisten Vadim Neselovskyi (FAS). Wir hören rein:

Archiv: Musik