Efeu - Die Kulturrundschau

Zorniges Zurechtrücken

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12.11.2022. FAZ und ZeitOnline sichten eine Reihe von Filmen über die Anschläge auf das Bataclan: Mit Bertrand Bonellos toxisch-sinnlichem Film 'Nocturama' entstand der eigentliche Wurf aber schon vor dem 13. November 2015, stellt die FAZ fest. ZeitOnline ringt nach Atem nach der Lektüre des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Der Guardian erlebt bei der Kulturwoche Tiflis, wie Georgier und Ukrainer dem gemeinsamen Feind trotzen. Und alle trauern um den Popsänger und -kritiker Kristof Schreuf, der so viel Spaß am Lärm hatte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2022 finden Sie hier

Film

"Meinen Hass bekommt ihr nicht"

Das franzöische Kino arbeitet die Anschläge aufs Bataclan in einer ganzen Reihe von Filmen auf. In der FAZ beugt sich Marc Zitzmann über drei von ihnen, Cédric Jimenez' Polizeithriller "Novembre" (unser Resümee) befasst sich sehr konkret mit dem Anschlag, Alice Winocours "Revoir Paris" und Mikhaël Hers' "Amanda" (von 2018) befassen sich über Bande in Form fiktiver Terroranschläge damit. Insbesondere letztgenannter Film "ist ein kleines Juwel. Aber der eigentliche Wurf zu der langen Reihe von Attentaten, die Frankreich in den letzten zehn Jahren heimgesucht haben, wurde bereits 2010 konzipiert und im Sommer vor dem 13-Novembre gedreht. Bertrand Bonellos 'Nocturama' handelt nicht von Dschihadisten, sondern von Nihilisten (die klar dem linken Extrem zuneigen). Aber der seherische Film nimmt Szenen vorweg, die man im November 2015 exakt so erlebt hat. ... Das größte Verdienst von 'Nocturama' ist es indes, eine zu Interpretationen, ja zu hitzigen Diskussionen anregende politische Rätselbotschaft in morbid schöne Bilder von toxischer Sinnlichkeit zu zwingen, die ein ebenso schlichter wie mächtig strukturierter Erzählbogen zusammenhält."

Mit Kilian Riedhofs "Meinen Hass bekommt ihr nicht" gesellt sich ein weiterer (allerdings deutsch co-produzierter) Film zu diesem Komplex, schreibt Philipp Stadelmaier auf ZeitOnline. Der Film basiert auf Antoine Leiris' gleichnamigem autobiografischen Roman, in dem der Autor verarbeitet, dass seine Frau bei dem Anschlag auf das Bataclan ums Leben kam. "Der Film wie auch sein Protagonist verwehrt sich dagegen, diese Emotionen zur politischen Instrumentalisierung freizugeben. Leiris schwört sich, das Kalkül der Terroristen ins Leere laufen zu lassen. ... Bei aller Rührseligkeit, die der Film mit sich bringt, vermeidet Riedhof doch jedes übertriebene Pathos. Er umschifft die Gefahr einer reinen Helden- und Erfolgserzählung." Letzten Endes "steuert der Film auf eine schmerzhafte Ambivalenz zu. Ein Sieg gegen die Kräfte der Finsternis erscheint darin durchaus möglich. Doch das Bollwerk gegen den Hass ist gleichzeitig ein Mausoleum für eine Tote, und eine Festung der Einsamkeit."

Außerdem: In der taz spricht der Schauspieler Uwe Preuss über seine Arbeit. Besprochen werden Michelangelo Fammartinos Höhlenfilm "Il Buco" (Tsp, mehr dazu bereits hier), David Cronenbergs "Crimes of the Future" (Standard, unsere Kritik, mehr dazu hier), die BBC-Dokuserie "Traumazone" über den Niedergang der Sowjetunion (Tsp), die fünfte Staffel von "The Crown" (NZZ), die Netflix-Weihnachtsschmonzette "Falling for Christmas" mit Lindsay Lohan (Presse), die Serie "Gefährliche Liebschaften" (Freitag), die ARD-Serie "Lamia" (FAZ) und die Amazon-Serie "Die Discounter" (FAZ).
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Literatur

Iris Radisch und Volker Weidermann dokumentieren auf ZeitOnline ihren aufgeregten Emailwechsel zu Ingeborg Bachmanns und Max Frischs eben veröffentlichten Briefwechsel, der mitunter auch intime Einsichten ins Leben und Lieben der beiden Schriftsteller gestattet. Dieses Buch "ist wie ein Sturm, der durchs Haus gefegt ist, eine Verwüstung hinterlassen hat, eine Begeisterung", meint Radisch fix und alle. Dazu gesellte sich "aber auch Scham. Wie nah bin ich diesen beiden Toten gekommen, die in diesen Briefen so verliebt und lebendig sind und die das Ende damals noch nicht kannten, das wir kennen, weil es Literaturgeschichte geworden ist." Und auch Frisch-Biograf Weidermann ist völlig baff: "Es ist wirklich ein neues, literarisches Werk der beiden."

Für den Freitag porträtiert Frederico Füllgraf den argentinischen Krimi-Autor Ricardo Ragendorfer. Von seinen zahlreichen populären Kollegen im Land unterscheidet ihn, dass er "die Nähe zu korrupten Polizisten, Mördern und Militärs geradezu sucht. Allerdings mit dem vom Reporter erwünschten Abstand: 'Ihr bleibt bitte da und ich bleibe hier.' In den Neunzigern "begann er zusammen mit seinem Kollegen Carlos Dutil die kriminellen Praktiken der Polizei der Provinz Buenos Aires zu recherchieren und zu dokumentieren. ... Die Kriminalität, sagt er, ist als Phänomen weitaus flächendeckender, als es die Ermittlungen eines Polizeireviers offenbaren. Das Verbrechen sei im gesamten Staatsapparat in Lateinamerika, vor allem in der Polizei, im Militär und in der Justiz, eingenistet. Seine 2018 erschienene Chroniken-Sammlung 'El Otoño de los Genocidas' (dt. 'Der Herbst der Massenmörder') liest sich wie eine argentinische Variante von Hannah Arendts Buch über die Banalität des Bösen."

Weitere Artikel: Im "Literarischen Leben" der FAZ durchleuchtet Paul Ingendaay Marcel Prousts Komik: Diese "operiert mit extremer Länge und dem kumulativen Effekt sorgfältig gebauter Satzperioden" und letzten Endes ist "die 'Recherche' eine Komödie zunichtegemachter Erwartungen und fortlaufender Täuschungen und Selbsttäuschungen." In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In einem NZZ-Essay umkreist die niederländische Schriftstellerin Solomonica de Winter, die Tochter von Leon de Winter und Jessica Durlacher, den Umstand, dass ihr Großvater vor den Nazis fliehen musste, während es ihr möglich war, aus freien Stücken ins Ausland zu migrieren. Die Schauspielerin Bibiana Beglau verrät der Welt, welche Bücher sie geprägt haben.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Das andere Mädchen" (FR), Moritz Hürtgens "Der Boulevard des Schreckens" (taz), Dörte Hansens "Zur See" (taz), Julian Barnes' "Elizabeth Finch" (Standard), Andrea Wulfs Sachbuch "Fabelhafte Rebellen" über die Romantiker (Welt), Julia Kissinas "Frühling auf dem Mond" (FR), Jan Drees' Studie "Literatur der Krise" über die Novellen von Hartmut Lange (SZ), Sera Milanos Thriller "Nichts wird wie vorher sein" (Tsp) und Julia Decks "Nationaldenkmal" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Zum ersten Mal fand in einer ehemaligen Coca-Cola-Fabrik die Kulturwoche Tiflis statt, mit dem Ziel georgische und ukrainische Künstler zusammenzubringen, und um neben Solidarität und Gemeinschaft auch Widerstand gegen den gemeinsamen Unterdrücker zu demonstrieren, berichtet Alex Needham, der im Guardian eine vom Festival bezahlte Reise nach Georgien unternommen hat: "Viele Georgier haben das Gefühl, unter ähnlicher Unterdrückung gelitten zu haben wie die Ukrainer: zum Beispiel der Künstler Simon Machabeli, der aus der georgischen Aristokratie stammt, die die Sowjets ausgerottet haben. Er hat in der Fabrik eine wunderschöne Installation geschaffen, die anhand von Collagen, Filmen und Gemälden zeigt, wie die Kultur seines Landes von der jeweils herrschenden Macht, von den Russen bis zu den Persern, unterdrückt wurde. Tchkonia sagt, dass Georgien immer noch unter russischer Besatzung sei: durch die Annexion von Abchasien und Südossetien etwa zwanzig Prozent des Landes. Und obwohl die georgische Regierung ihre Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck gebracht hat, lässt sie weiterhin für Russland bestimmte Waren durch Georgien passieren und schwächt damit die Sanktionen gegen Putin."

Außerdem: Die Findungskommission der Documenta 16 wird zum ersten Mal von ehemaligen Leitern der Ausstellung besetzt, meldet die SZ: "Dies sind Rudi Fuchs (Documenta 7, 1982), Catherine David (10, 1997), Roger Buergel (12, 2007), Carolyn Christov-Bakargiev (13, 2012) und Adam Szymczyk (14, 2017). Die Mitglieder von Ruangrupa, künstlerische Leiter der diesjährigen Documenta, seien gefragt worden, hätten aber abgelehnt, so von Saint-André. Zudem stehen sie formal noch bei der Documenta 15 unter Vertrag." Das Deutsche Fotoinstitut geht nach Düsseldorf, meldet ebenfalls die SZ. In der FR erinnert Arno Widmann an die "Geburtsstunde des Impressionismus" vor 150 Jahren, als Claude Monet sein Bild "Impression, Sonnenaufgang" malte. Im Standard berichtet Katharina Rustler, wie sich österreichische Museen gegen die Attacken von Klimaaktivisten rüsten. In der FAS stellt Laura Helena Wurth den Podcast "Death of an Artist" über den mysteriösen Tod der Künstlerin Ana Mendieta vor. In der FAZ gratuliert Stefan Trinks Rosemarie Trockel zum Siebzigsten.
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Bühne

Szene aus "Hyäne Fischer". Bild: Elsa Okazaki.

Trotz viel Bombast, Wasser und Vagina-Vulkan auf der Bühne kommen die KritikerInnen ziemlich übellaunig aus Marlene Engels feministisch-aktivistischer Inszenierung von Lydia Haiders "Hyäne Fischer - Das totale Musical" an der Berliner Volksbühne. Nachtkritikerin Stephanie Drees seufzt nach der "Dämmerung der Matriarchinnen": "Mit Lydia Haider, der Königin des fein sezierenden Blicks auf beidseitig panierte Identitätsfolklore, ist eigentlich eine starke Autorin am Werk - deren lyrische Wut-, Revolutions-, Schimpf-, und Schnitzeltiraden an diesem Abend leider verpuffen." Mit dieser "Stumpfsinnshölle" hat sich die Berliner Volksbühne blamiert, schimpft Peter Laudenbach in der SZ, obwohl er der Vorlage des Stückes einiges abgewinnen konnte: "Mit der Kunstfigur Hyäne Fischer recyceln die als Regisseurin hilflos dilettierende Musik-Kuratorin Marlene Engel, die Libretto-Lieferantin Lydia Haider und die musikalische Leiterin Eva Jantschitsch einen Scherz, den die Wiener Burschenschaft Hysteria, ein feministisches Satireprojekt, 2019 inszeniert hat. Damals stellten sie ein lustiges Musikvideo ins Netz, in dem sich eine Hyäne Fischer mit einem Schlager im Helene-Fischer-Stil für den Eurovision Song Contest bewirbt: 'Im Rausch der Zeit bist Du bereit'. Der Film zeigt die Künstlerin im Eva-Braun-Look im Berghof-Ambiente, die Herren- beziehungsweise Damenrasse in der Sommerfrische - schöne Grüße vom Obersalzberg."

Zu wenig Humor und zu viel "aktivistische Agenda" attestiert auch Rüdiger Schaper im Tagesspiegel dem Stück: "Pollesch-Passagen flackern auf. Dann wieder klingt 'Hyäne Fischer' irgendwie nach Altem oder Neuem Testament, mehr Oratorium als Musical." "Originell ist hier nichts, eher brachial brechstangig", stöhnt indes Stefan Hochgesand in der Berliner Zeitung: "Wenn Theaterleute argumentieren, wie systemrelevant sie seien für den gesellschaftlichen Diskurs im Lande, sollten sie 'Hyäne Fischer - Das totale Musical' besser unter den Teppich kehren oder mittels Hebebühne in den Keller versenken." "Ein erhebender Abend fürs Gemüt", kommentiert immerhin Margarete Affenzeller im Standard beim Anblick skalpierter Nazis amüsiert: "'Hyäne Fischer' ist vieles zusammen: eine vertonte Kampfschrift, ein Horrormärchen, vor allem aber Exerzitien im Revuekleid, die einer zu überwindenden Gegenwart gelten."

Besprochen wird das bundesweite Festival "Zeit für Zirkus" (taz), Marlene Anna Schäfers Inszenierung von Amanda Lasker-Berlins "Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content" am Theater Aachen (nachtkritik) und David Dawsons neue Fassung von Sergej Prokofjews "Romeo und Julia" (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Im taz-Gespräch erklärt Caroline Wohlgemuth warum sie in ihrem Buch "Mid-Century Modern. Visionäres Möbeldesign aus Wien" den gängigerweise fürs Design der Vierziger und Fünfziger verwendeten Begriff "Mid-Century" auf die Zwanziger und Dreißiger ausdehnt und warum die Keimzelle fürs moderne Wohndesign nicht etwa in Skandinavien, sondern in den Wiener Werkstätten zu verorten ist: "Die Nachkriegsmoderne war wesentlich von den Ideen der 1920er Jahre beeinflusst. Josef Frank etwa emigrierte 1933 nach Schweden, wo seine Entwürfe aus Wien durchgängig weiterproduziert wurden." Und "er wollte nicht zurück. Es gibt von ihm 200 Entwürfe für Stoffmuster und über 1.000 für Möbel und Lampen, die bis heute so oder so ähnlich in Schweden von der Firma Svenskt Tenn hergestellt werden. Wenn man sich das so anschaut, glaubt man vielleicht, es sei typisch schwedisches Design aus den 1950er und 1960er Jahren mit lockeren Verbindungen zu Ikea. Doch vieles geht auf das Wien der 1920er und 1930er Jahre zurück." So wurde etwa auch "die Frankfurter Küche von einer Wienerin, Margarete Schütte-Lihotzky, entworfen. Lihotzky war eine Schülerin von Josef Frank."
Archiv: Design

Musik

Der Popsänger und -kritiker Kristof Schreuf ist im Alter von 59 Jahren überraschend gestorben. Mit seiner Band Kolossale Jugend schuf er um 1990 mit die Grundlage für das, was später in den Neunzigern als "Hamburger Schule" für Aufsehen sorgen würde. Sein "Gesang hatte unendlich Spaß am Lärm, war fast ein Sirren, ein sirenenhaftes Insistieren und durchaus zorniges Zurechtrücken", schreibt taz-Popredakteur Julian Weber, für den Schreuf viele Jahre lang Texte geschrieben hat. "Er klopfte die Sprache nach Resten von Brauchbarem ab und gab dem Lärm mit seinem hellen Organ wichtigen und richtig enervierenden Drive." Damit "sang er an gegen Selbstzufriedenheit und eherne Machtverhältnisse." Doch "es dauerte bis 1997, als Schreuf mit dem Trio Brüllen (und den Musiker:Innen Luka Rothmann und Martin Buck) sein Meisterwerk veröffentlichte: 'Schatzitude' hieß das Album, eine irrlichternde, strohig-krachige Operation am offenen Herzen des Noisepop. Songtexte als Psychogramme und atemberaubende Bulletins der eigenen Kompliziertheit, launige Losungen, um den Löwen innendrin zu bändigen."



Er "war ein Unvollendeter", seufzt Gerrit Bartels im Tagesspiegel, was auch für Schreufs seit rund 20 Jahren angekündigten Roman "Anfänger beim Rocken" betrifft:  "Einen Auszug las er 2003 beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: 'Wahrheit ist das, wovon Männer gerne behaupten, dass es ihnen um sie geht.' Der Text käme ihr vor, als sei 'er im Laufen gelesen, außer Atem', urteilte Iris Radisch seinerzeit, vielleicht etwas überfordert von den vielen Sentenzen, Assoziationsketten und Widersprüchen, die hier pro Minute von Schreuf vorgetragen wurden." Popbesprechungen von Schreuf finden sich online unter anderem bei der taz und bei der Jungle World.

Weitere Artikel: Gloria Reményi porträtiert in der taz den tunesisch-italienischen Rapper Ghali. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Dirigenten Lothar Zagrosek zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden ein Konzert des Michael Wollny Trios (FR), ein Mahler-Konzert des Berliner Konzerthausorchesters unter Christoph Eschenbach (Tsp) und das neue Synthpop-Album von Christine and the Queens (ZeitOnline).

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