Efeu - Die Kulturrundschau

Rhythmus im Ostinato

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23.12.2022. Die FAZ erlebt einen historischen Wendepunkt beim Konzert des Israel Philharmonic Orchestra in Abu Dhabi. Zugleich kritisiert sie den Whataboutism von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, ab dem neuen Jahr Leiter des Hauses der Kulturen der Welt. Warum wird die Filmkunst in Deutschland so wenig ernst genommen, fragt im Filmdienst der Regisseur Daniel Sponsel. Die SZ feiert Nduduzo Makhathinis "In the Spirit of Ntu" als Jazzalbum des Jahres.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2022 finden Sie hier

Kunst

Korrektur vom 5. Januar 2023: Wir hatten ursprünglich geschrieben, Ndikung wolle erst in sechs Monaten mit der Presse sprechen. Richtig ist: "im nächsten Jahr".

Bernd Scherer, Intendant des Hauses der Kulturen der Welt, geht in den Ruhestand. Zum Jahreswechsel übernimmt seinen Posten Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Der will mit der Presse aber erst im nächsten Jahr sprechen. Zu spät, findet Claudius Seidl in der FAZ, der gern mit Ndikung über dessen Sympathie für den BDS gesprochen hätte. Andererseits könnte das auch sehr unergiebig sein, weil Ndikung vor allem ein großer Künstler des Whataboutism ist, so Seidl: "Wenn es um die Menschen geht, die aus Afrika nach Europa fliehen, richtet sich Ndikungs Protest, zu Recht, gegen die, die sie nicht hereinlassen wollen. Von denen, die sie vertrieben haben, ist aber nie die Rede. Nein, jenseits von Europa und Nordamerika gibt es nur einen Staat, gegen den sein Engagement und Aktivismus sich richten, und das ist Israel. Neulich, in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen hat Ndikung, dem wegen eines acht Jahre alten Facebook-Posts Antisemitismus vorgeworfen worden war, sich von der (eher linken) antisemitischen Boykottbewegung BDS distanziert. Um im nächsten Satz schnell den rechtsextremen Antisemitismus zu verdammen. Er hat die antisemitischen Bilder auf der Documenta verurteilt. Um im nächsten Satz darauf zu weisen, dass das betreffende Banner auch 'schwarzenfeindliche Tropen' zeige."

"Innovations-Pathos mit radikaler Folgenlosigkeit", wie sie Seidl Ndikung bescheinigt, beherrscht perfekt auch dessen Vorgänger Scherer, der im Interview mit dem Tagesspiegel zu erklären versucht, warum im Haus der Kulturen alles stattfindet, nur keine Kunst. Das aber mit viel "künstlerischer Sensibilität". Ndikung selbst wehrt sich gegen Vorwürfe der Israelfeindlichkeit, berichtet der Tsp mit dpa.

Weitere Artikel: Sabine Seifert schildert in einer taz-Reportage die Hintergründe zum Streit um den Naumburger Dom, dem wegen eines neuen Altarbildes der Verlust des Unesco-Welterbetitels drohen soll. In der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe den Nachruf auf Maya Widmaier-Picasso, die Diplomatin der Familie. Zum Tod des Schweizer Malers Franz Gertsch schreiben Kerstin Stremmel in der NZZ und Stefan Trinks in der FAZ.

Besprochen werden drei Ausstellungen über die Wechselwirkung zwischen Werbegrafik und Kunst beim Steirischen Herbst in Graz (Standard), die Parfüm-Ausstellung "Le Grand Numéro Chanel" im Grand Palais Éphémère in Paris (BlZ), Mischa Kuballs Konzeptkunstwerk "nolde/kritik/documenta" im Fridericianum in Kassel (taz), die Ausstellung "George Grosz reist nach Sowjetrussland" im Kleinen Grosz Museum in Berlin (FAZ) und die Ausstellung "Susanna. Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo" im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (SZ).
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Bühne

Die Regisseurin Claudia Bauer erzählt im Interview mit der nachtkritik, warum sie ihren Job als Hausregisseurin am Schauspiel Leipzig hingeschmissen hat, nachdem zwei der Ensemblemitglieder am Theater Hausverbot bekommen hatten. Im Interview mit der FAZ spricht der Choreographen Alexei Ratmansky über sein Ballett zu Ouvertüren von Tschaikowski, das heute vom Bayerischen Staatsballett uraufgeführt wird. Regisseur Tobias Kratzer spricht im Interview mit der Zeit über seine Pläne als neuer Intendant der Hamburger Staatsoper.
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Literatur

Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Wieland Freud wirft für die Welt einen Blick auf Frances Hodgson Burnetts Kinderbuchklassiker "Der kleine Lord" und dessen anhaltendes Nachleben im Weihnachtsprogramm des ZDF. Stefan Michalzik resümiert in der FR einen Abend mit Max Goldt. Die taz bringt mit "Selenksis Tränen" eine russisch-ukrainische Weihnachtsgeschichte von Marjana Gaponenko. Und Jaroslav Rudiš erzählt in der "Leben auf dem Land"-Reihe der FAZ von einer Zugfahrt quer durch Tschechien.

Besprochen werden unter anderem Wolfgang Krischkes "Was heißt hier Deutsch?" (FR) und Dmitry Glukhovskys "Geschichten aus der Heimat" (SZ).
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Film

Dass die Novellierung des Filmfördergesetzes erneut um ein Jahr verschoben wurde, kann der Filmemacher Daniel Sponsel, geschäftsführender Leiter des Internationalen Dokumentarfilmfestivals München, einfach nicht fassen. Herausforderungen gibt es zur Genüge - längst haben Heimkinoformen bis hin zum Streaming das Kino als vorrangigen Ort des Bewegtbilds abgelöst, schreibt er im Filmdienst. "Das Kino gilt zwar nach wie vor als gesellschaftlich relevante Kulturform und -praxis, doch die Kulturpolitik muss sich in einem weit höheren Maße dazu bekennen, um es nicht dem Spiel der Marktkräfte zu überlassen." Umso verbitterter beobachtet er, wie neben dem subventionierten Bühnen- und Museumsbetrieb landauf, landab kulturpolitische Prestigeprojekte aus dem Boden gestampft werden: "Warum erscheint der Gedanke so abwegig, analog dazu aufwändige Häuser für die Filmkunst zu initiieren, keine Paläste, sondern wahre Multiplex-Kinos? Das zielt nicht auf eine Musealisierung des Kinos, sondern formuliert das Gegenteil, den Anspruch auf eine kulturpolitische Strategie zur Umsetzung der kulturellen Praxis Kino in großer Breite."

Keine Traumata: "I Wanna Dance With Somebody"

Kasi Lemmons' Biopic "I Wanna Dance With Somebody" über das Leben und Sterben von Whitney Houston ist eine vergebene Chance, findet Christian Schachinger im Standard. Wie systematisch Houston ausgenutzt wurde, schildere der Film kaum. "Das mit 146 Minuten streng chronologisch und mit Dauerbeschallung ihrer seit 30 Jahren totgespielten größten Hits wie 'The Greatest Love of All' oder 'One Moment in Time' reichlich ermüdend gestaltete Drama hätte reichlich Stoff für ein Sittenbild des Showbusiness des späten 20. Jahrhunderts geben können. Das bigotte System unterzog damals zwecks Publikums- und Gewinnmaximierung neben Michael Jackson oder Mariah Carey auch sehr schnell die Afroamerikanerin Whitney Houston einer Wandlung zum 'Oreo"-Keks, wie es im Film heißt: außen schwarz, innen weiß."

Peter Praschl von der Welt kann dem Film hingegen keine "Schönfärberei" vorwerfen. Vor allem spricht der Film die Sängerin selbst nicht davon frei, an ihrem Absturz unschuldig zu sein. "Hier werden keine Kindheitstraumata, schlimme Umgebungen und ungünstige gesellschaftliche Bedingungen für einen Untergang verantwortlich gemacht. Wenn sich Whitney Houston, daran lässt der Film keinen Zweifel, mehr um sich und um ihr Talent gekümmert hätte, auf ihre Freunde gehört und ihr Geld in bessere Entziehungskuren gesteckt hätte, könnte sie immer noch ein prächtiges Leben führen." tazlerin Jenni Zylka hat die Muster der Regie schnell durchschaut und langweilt sich über weite Strecken.

Besprochen werden die Balzac-Verfilmung "Verlorene Illusionen" (SZ), Rian Johnsons auf Netflix gezeigter Whodunnit "Knives Out 2" (Presse) und Florian David Fitz' Komödie "Oskars Kleid" über einen Schuljungen, der lieber Mädchenklamotten tragen will (Welt, Tsp, ZeitOnline).
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Musik

Lotte Thaler staunt in der FAZ nicht schlecht: Erstmals seit 1938 ist das Israel Philharmonic Orchestra wieder in einem arabischen Land, genauer gesagt: im Emirat Abu Dhabi aufgetreten. Das Ereignis steht in einer Reihe von seit September 2020 auf beiden Seiten bestehenden Tauwetter-Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehung. "Die Musiker sind höchst motiviert" und "nicht nur der Dirigent ist jung, auch viele Mitglieder des IPO signalisieren den Generationenwechsel. ... Das Gefühl, an einem historischen Wendepunkt zu stehen, packte Musiker und Publikum in gleicher Weise. Ebenso die israelischen und arabischen Repräsentanten, darunter viele Minister wie Noura Al Kaabi, die Kulturministerin der Emirate, die sich schon lange für Toleranz und Pluralismus einsetzt. Und wenn man sie so beisammen stehen sah, die Emiratis in ihren weißen Gewändern, Rabbi Duchman im Anzug mit schwarzem Hut und die eleganten Damen, alle einander fotografierend und beglückwünschend - war da nicht schon jene Normalität erreicht, von der im Moment noch alle träumen? Nur ausbreiten muss sie sich noch."

SZ-Kritiker Andrian Kreye legt sich fest: Nduduzo Makhathini hat mit "In the Spirit of Ntu" das Jazzalbum des Jahres und überhaupt eines der wichtigsten der letzten Zeit vorgelegt. Ein Platz im Pantheon des Jazz sei dem südafrikanischen Pianisten sicher, "weil er die Grundfrage des Jazz von hinten aufrollt", da "Trance und Ekstase bei Makhathini nicht aus dem Blues kommen, wie bei den amerikanischen Jazzern, also nicht aus dem Schmerz des Verlustes, sondern aus der Spiritualität, also aus dem spirituellen Mehrwert des Rituals. ... Beim Stück 'Amathongo' funktioniert das hervorragend, wenn der Rhythmus im Ostinato bleibt, das Klavier und das Altsaxofon sich darüber aufbauen und Makhathini fast beiläufig mit skandierten Formeln die Ahnen und Götter anruft. Im Kern ist das Jazz, gerade wenn er das mit Amerikanern spielt. Aber da ist eben diese andere Ebene jener Spiritualität, die so viele Jazzmusiker lange suchen und erarbeiten mussten. Daheim in Südafrika knüpft er da eine Renaissance der traditionellen Glaubenssysteme an." Welche weiteren Jazzalben nach Kreyes Ansicht 2022 besonders herausstachen, erfahren wir hier.



Weitere Artikel: Nach Jan Brachmann in der FAZ (unser Resümee) schildert auch Michael Stallknecht in der SZ die betrübliche Lage der Laienchöre nach der Coronapandemie: Mehr als zehn Prozent der Chöre blieben auf der Strecke, der Mitgliederschwund beträgt etwa ein Viertel. Comeback des Live-Erlebnisses, die Londonisierung des Pops, der TikTok-Triumph der feministischen Fankultur und der Krieg in der Ukraine: Die taz-Kritikerinnen und -Kritiker resümieren das Popjahr 2022. Der Tagesspiegel spricht mit der Folkpop-Musikerin Stella Summer unter anderem über die gerade für kleine und ambitionierte Acts ziemlich unfairen Bedingungen auf Streamingplattformen. In der Frankfurter Pop-Anthologie geht Rebecka Kärde den Untiefen des Evergreens "Baby, It's Cold Inside" auf den Grund. Und zwei Podcasttipps: Tocotronic-Bassist Jan Müller spricht in seinem Reflektor-Podcast ausführlich mit dem Poptheoretiker Jens Balzer, während der Labelbetreiber Maurice Summen in seinem Disposition-Podcast gemeinsam mit dem Booker und Kritiker Berthold Seliger auf das Jahr 2022 zurückblickt.

Besprochen werden ein von Santtu-Matias Rouvali dirigiertes Prokofjew-Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp) und neue Schubert- und Mozart-Aufnahmen (FR).
Archiv: Musik