Efeu - Die Kulturrundschau

Vorliebe für klare Linien

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24.04.2023. Im Tagesspiegel beschreibt die russische Schriftstellerin Maria Stepanowa die weltweite Casablanca-Situation: "Jeder sitzt irgendwo fest und versucht weiterzukommen." Im Standard denkt Verena Roßbacher über das schöne und das  authentische Schreiben nach. Die FAZ entdeckt iin paris das grandiose Werk der norwegischen Künstlerin Anna-Eva Bergman. Ganz fantastisch findet die Nachtkritik das Zürcher Tolkien-Spektakel "Riesenhaft in Mittelerde". 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Gregor Dotzauer spricht für den Tagesspiegel mit der russischen Schriftstellerin Maria Stepanowa, die in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält. Das Online-Kulturmagazin Colta.ru, dessen Chefredakteurin sie ist, wurde vor wenigen Wochen für Zugriffe aus Russland gesperrt. Die Frage nach dem Überleben des Magazins stellte sich auch schon zuvor: "Das ist die Idee hinter den russischen Gesetzen gegen unabhängige Medien. Sie werden zum Schweigen gebracht oder kriminalisiert. ... Ein Teil unseres Publikums kann uns jetzt nicht mehr lesen, sondern müsste einen VPN-Zugang nutzen." Zwar verfüge "mein gesamter engerer Bekanntenkreis" über so einen Zugang, "aber fast alle, mit denen ich früher zu tun hatte, sind aus Russland weggezogen. Aber es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die nicht irgendwohin gehen können. Sie müssen sich um ältere Verwandte kümmern oder sind durch andere Umstände gehindert, das Land zu verlassen. Ich nenne das die weltweite Casablanca-Situation." Eine Neuauflage dieses Klassikers "für unsere Zeit ist überfällig. Denn überall gibt es Vertriebene zuhauf. Jeder sitzt irgendwo fest und versucht weiterzukommen. Und es gibt kein eindeutiges Weiter. Viele meiner Freunde versuchen einfach, davonzukommen, bevor sie zum Schweigen gebracht oder zur Armee einberufen werden."

Der Standard widmet sich vor der Leipziger Buchmesse in einem Special der österreichischen Literatur, die in Leipzig zu Gast ist. Die Schriftstellerin Verena Roßbacher etwa denkt in einem Essay derweil darüber nach, was "schön schreiben" eigentlich heißt und was dies für das Verhältnis der Literatur zur gesprochenen Sprache und zum Dialekt bedeutet: " Ist es schön, wenn wir schreiben, wie wir reden, weil es damit authentisch ist? Sollten wir uns schreibend eng an die gesprochene Sprache halten, um nicht allzu gekünstelt zu klingen, wenn wir schreiben? Um die Schriftsprache nicht als Hürde zu sehen, als etwas Fremdes, in dem wir uns nicht recht wohlfühlen und in dem wir dementsprechend nur unbehaglich zurechtkommen? Geht es ihm um die Syntax, um den Sound, um die ganze Atmo etwa, alles Dinge, die wir im Gespräch so leichthändig herzustellen wissen und die als Text uns plötzlich Kopfzerbrechen machen? ... Im Grunde ist die geschriebene Sprache wie eine gut ausgestattete Requisite, in der man sich bedienen kann. Wenn man geschickt ist, bekommt man ganz verblüffende Effekte hin. Wenn das Hochdeutsche nicht die Muttersprache ist, weiß man immerhin sehr genau, dass man im Theater ist, wenn man schreibt. "

Mehr aus dem Special des Standard: Eine FAQ erklärt Außenstehenden zunächst, wie die österreichische Literatur funktioniert. Die Literaturhistoriker Kerstin Putz und Bernhard Fetz erklären das Besondere der österreichischen Literatur und schaffen dabei "ein zwischen 'Jetzt' und 'Alles' aufgespanntes Panorama": Denn "das 'Jetzt' zu bannen zählt seit jeher zu den Hauptanliegen der Literatur" und "nicht weniger als das Ganze unserer kreatürlichen und geistigen Existenz wird in den atemlosen Texten des Überbietungs- und Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard zum Thema." Die Schriftstellerin Ilse Kilic schreibt auf, wie sie die (allerdings seit den Siebzigern in Wien ansässige) Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV) zu lieben gelernt hat. Und fünf Übersetzerinnen erzählen, wie man Bernhard Aichners Thriller "Totenfrau" in die jeweilige Landessprache übersetzt.

Außerdem: Patrick Bahners brütet in einer FAZ-Kolumne über den Disclaimer zum Stuckrad-Barre-Roman "Noch wach?", der das Buch wohl vor einstweiligen Verfügungen schützten soll, dies aber im Grunde gar nicht leistet. Und Sieglinde Geisel begeistert sich im Page-99-Test des Buches für Tell für dessen literarische Qualitäten: "Man sollte 'Noch wach?' wegen dem Wie lesen, nicht wegen dem Was." Die Welt spricht mit John Irving über dessen neuen Roman "Der letzte Sessellift" und warum ihm der Kampf gegen Trans- und Homophobie ein Herzensanliegen ist. Die FAS spricht mit dem Schauspieler Samuel Finzi, der mit "Samuels Buch" einen autobiografischen Roman über seine Kindheit und Jugend in Bulgarien geschrieben hat. Matthias Heine holt für die Welt Heinrich Heines "Atta Troll" wieder aus dem Regal. Tobias Schwartz erinnert im Tagesspiegel an Ludwig Tieck. Philipp Theisohn erzählt in der FAZ von seinem Besuch in Georg Trakls Geburtshaus in Salzburg.

Besprochen werden unter anderem Eugen Ruges "Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna" (FR, die ARD-Audiothek bietet das Hörbuch als Podcast an), Robert Prossers "Verschwinden in Lawinen" (Standard), Lukas Meschiks "Die Würde der Empörten" (Standard), John Irvings "Der letzte Sessellift" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Mac Barnetts und Jon Klassens "Drei Ziegenböcke namens Zack" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Tobias Döring über Uljana Wolfs "anrufflung":

"nimm, seeliest leser:in, bevor du liest, auch diese zeilen
zum geleit: am folioeingang triffst du ein gesicht, das ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Anna-Eva Bergman: Pyramide, 1960. Bild: Musée d'art moderne

Ein "grandioses Werk" entdeckt FAZ-Kritikerin Bettina Wohlfarth in einer Retrospektive der norwegischen Künstlerin Anna-Eva Bergman im Pariser Musée d'art moderne. Wie eigenständig ihr Werk war zeigt sich der Kritikerin auch darin, dass Bergman ihren Mann Hans Hartung verließ, um sich erst eimal selbst eine Künstlerbiografie zu schaffen und ihn dann zwanzig Jahre später wieder zu heiraten: "Von Anfang an gehen Fotografien als eine Form von Entwurf dem malerischen Werk voraus. Sie zeugen von Beobachtungsgabe, einer Vorliebe für klare Linien und Formen oder für die Schattenwürfe, die das Licht ins Bild zaubert. Die Ausstellung dokumentiert Bergmans künstlerische Anfänge, ihr Apriori - wie ein Hingezogensein - für alles Mineralische, für Natur und Kosmos. Schon in den ersten, noch figurativen Gemälden interessierte sich die junge Künstlerin für grundlegende Formen und die Wirkung des Lichts."

Weiteres: In der SZ berichtet Alexander Menden von Gilbert & Georges neuem Kunstzentrum in London, dessen "geschmacksvolle Akkuratesse" auf ihn wie gehabt zugleich arriviert und ironisch wirkt.

Besprochen werden Cindy Shermans Schau "Anti-Fashion" in der Staatsgalerie Stuttgart (Tsp) und die Alchemie-Ausstellung "Magie oder Naturwissenschaft?" im Weserrenaissance-Museum Schloss Brake (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

"Riesenhaft in Mittelerde" am Zürcher Schauspielhaus. Foto: © Philip Frowein

Zusammen mit dem inklusiven Theater Hora und dem Puppenspiel-Ensemble Das Helmi hat das Zürcher Schauspielhaus Tolkiens "Herrn der Ringe" auf die Bühne gebracht. Nachtkritikerin Valeria Heintges verfolgt das ausgelassene Spektakel "Riesenhaft in Mittelherde" mit großer Freude: "Das ist nicht nur ungeheuer komisch, sondern auch 'effekt'-voll. Gleichzeitig nimmt sich das Regietrio aus Nicolas Stemann vom Schauspielhaus, Stephan Stock vom Theater Hora und Florian Loycke vom Helmi, erweitert um den Sänger und Schauspieler Der Cora Frost, der auch wunderbar singend zu erleben ist, auch das Recht heraus, die fragwürdigen Seiten des Fantasy-Epos zu entlarven. Tolkien muss sich nicht nur Rassismus, sondern auch üble Misogynie vorwerfen lassen. Also gibt es hellhäutige Bösewichte, Männer, die Frauen spielen und umgekehrt. Sogar von Ork-Awareness-Teams ist die Rede - so viel Schauspielhaus-Selbstironie darf sein." In der NZZ fühlt sich Ueli Bernay von dieser Tolkien-Parodie zwar belustigt, aber nicht belehrt: "Damit fehlt es an kritischem Biss und gesellschaftlicher Brisanz; ein Manko, das bisweilen zu dramaturgischen Längen führt."

Besprochen werden Fabian Hinrichs Inszenierung von Lord Byrons lust-anarchistischem "Sardanapal" ("Strass statt Stress" nimmt SZ-Kritiker Peter Laudenbach von diesem Abend mit, findet ihn aber zu konfus, unbeholfen und selbstverliebt für eines der größten Theater des Landes, FAZ), Wolfgang Herrndorfs Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe" am Schauspiel Frankfurt (FR), Shakespeares "Der Sturm" am Schauspiel Stuttgart (FR), Christina Tscharyinskis Inszenierung von Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" im Berliner Ensemble (BlZ) und die Stücke beim Festival Internationaler Neuer Dramatik (FIND) an der Berliner Schaubühne (taz).
Archiv: Bühne

Architektur

Hans Stimmann, als ehemaliger Berliner Senatsbaudirektor eigentlich für die Planungen der Stadt nach dem Mauerfall maßgeblich verantwortlich, spaziert für die FAZ durch die trübselige Friedrichstraße. Eine Idee, was man aus dieser stadtpolitische Ödnis machen könnte, hat er auch nicht: "So sollte mit der 1981 begonnenen Planung für das 'Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur' (heute Russisches Haus) und dem auf der anderen Straßenseite geplanten Bau einer sich über drei Blöcke erstreckenden Friedrichstadtpassage das Areal zum fußgängerfreundlichen Zentrum der Hauptstadt der DDR ausgebaut werden. Nach dem Fall der Mauer wurde diese Planung mit dem Bau einer im Untergeschoss angelegten Shoppingmall durch private Investoren aufgegriffen. Das ehrgeizige Projekt fällt heute weniger durch seine Architektur auf als vielmehr durch Leerstand. Ausgerechnet diesen Abschnitt der Friedrichstraße zur Fußgängerzone fröhlicher Konsumenten zu erklären, die vor dem Russischen Haus einen Espresso genießen sollen, zeugt einerseits von historisch-politischer Inkompetenz, gäbe andererseits aber eine wunderbare Bühne ab für einen politischen Dialog über verwehte Hoffnungen."
Archiv: Architektur

Film

Einmal Retro bitte: "Poker Face"

Horizontales (also staffelweises) Erzählen ist ja sowas von gestern, beziehungsweise in diesem Fall gerade nicht: Die von Rian Johnson kreierte Krimi-Serie "Poker Face" rund um eine übernatürlich begabte Ermittlerin kehrt zum bewährten "Fall der Woche"-Modus der Siebzigerjahre zurück, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline mit spürbarer Begeisterung für diese liebevoll ausstaffierte "Hommage an retroseliges Gewohnheitsfernsehen" und dieses "perfekt durchkomponierte Liebhaberprojekt." Wer heute eine Serie in diesem Erzählmodus sieht, erlebz dabei "eine Fernsehserie über das Fernsehgucken. Alles, was dem Publikum früher Geborgenheit hätte vermitteln sollen - die abgeschlossenen Folgen, die klare Täterschaft, die heldenhafte Heldin -, könnte bei anspruchsvollen Gegenwartszuschauern eher Nervosität auslösen. Müssten die Figuren nicht abgründiger sein? Sollten unter den tatsächlichen Falltüren von Poker Face nicht auch ein paar metaphorische warten?"

Außerdem: Marc Hairapetian spricht für die FR mit Geraldine Chaplin über ihre Rolle in Robert Schwentkes "Seneca". Wilfried Hippen empfiehlt in der taz die 20. Dokumentarfilmwoche in Hamburg. Besprochen wird Elisa Amorusos und Julian Jarrolds auf Disney+ gezeigte Mafiaserie "The Good Mothers" (NZZ, mehr dazu bereits hier).

Und ein interessantes Archivfundstück: Der Filmkritiker André Malberg bringt auf Facebook einen Artikel von Klaus Lemke aus dem Jahr 1965, in dem der ewige Independentfilmer zwischen Hoffnung und Skepsis auf die Anfänge der deutschen Filmförderung blickt.
Archiv: Film

Musik

Mark Stewart von The Pop Group ist tot. Versprach Punk seinerzeit noch den Aufbruch in die totale, anarchische Freiheit, wendete seine Band dieses Versprechen 1979 auf die Musik selbst an, schreibt Benjamin Moldenhauer in der taz: Sie "nahmen Punk, Reggae, Dub, Funk, Freejazz, Krautrock, drehten alles durch den Mischer und befreiten die Szene von der drohenden musikalischen Erstarrung. ... Die Musik, die der 1960 geborene Mark Stewart in die Welt brachte, wirkt auch heute noch frisch. Lebendiger klang, was sich aus Punk und durch ihn entwickelte, danach eigentlich kaum etwas. Es waren Sounds, von denen aus man überallhin und weiter gehen kann." Es war "ein radikal offenes, konfrontatives, grenzenloses Universum", auf das Stewart zielte.  "Sein Sound, für den es keine rechten Vorbilder gab, entstammte dem Interesse, divergierende Stile seines Umfelds zu vereinen" hält auch Philipp Krohn in der FAZ fest. "'Ich wollte etwas hören, das es nicht gab. Ich hörte etwas, das ich selbst kaufen wollte', sagte er."



Außerdem: Karl Fluch führt im Standard durch die Geschichte des Wiener Labels Noise Appeal Records, das sein 20-jähriges Bestehen feiert. Für den Standard plaudert Karl Gedlicka mit dem Gitarristen Marc Ribot. Besprochen werden Ailbhe Reddys Album "Endless Affair" (FR) und Mudhoneys "Plastic Eternity" (ein "sehr schönes, angenehm unspektakuläres Album", findet Benjamin Moldenhauer im ND).

Archiv: Musik