Efeu - Die Kulturrundschau

In der Dunkelheit des zerredeten Augenblicks

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2015. Die FR hört sich mit Hasenohren durch Lucia Ronchettis "Mitternachtsabitur". Die taz begutachtet die traurigste aller Technologien im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst. Die NZZ durchlebt mit László Krasznahorkais neuem Erzählband die epochale Entfremdung der Moderne. Jonathan Rosenbaum untersucht in seinem Blog den ästhetischen Einfluss des Marihuanakonsums auf das Kino der 60er. Die FAZ verweigert das gutgelaunte Genießen bunter Pop-Ästhetik in einer Ausstellung über Ost- und Westberliner Architektur der 60er Jahre.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.06.2015 finden Sie hier

Bühne


"Esame di Mezzanotte". Foto: Christian Kerner

Am Nationaltheater Mannheim feierte die von Lucia Ronchettis komponierte, von Achim Freyer inszenierte Oper "Esame di Mezzanotte" ihre Uraufführung. Bestellt war eine komische Oper und "ironiegesättigt, surreal und skurril" ist sie auch geworden, erklärt Hans-Jürgen Linke in der FR, doch siedle das prall gefüllte, sich in eine Bibliothek hineinträumende Stück vielleicht doch näher am Musiktheater. Was die handwerklichen Qualitäten betrifft, verteilt Thomas reihum Bestnoten: Formal erinnere das Stück "an Lewis Carrolls Alice mit einem Hauch Bauhaus-Theater: hohe, steife Hüte, beleuchtete Hasenohren, behälterartige Clownskostüme, Choreographien mit beleuchteten Stäben und vieles mehr. Das ist verwirrend, aber auf ungemein intensive Weise. ... In gesangs- und spieltechnischer Hinsicht [wird] allerlei abverlangt, und was man in Mannheim zu hören bekommt, ist von außerordentlicher Prägnanz und Qualität. Große Oper." Also doch.

Sacht enttäuscht berichtet Wolfgang Sandner (FAZ) von dem Abend. Zwar attestiert er der Überfülle des Dargebotenen eine gewisse Nähe zu Fellini und die Leistungen aller Beteiligten stünden außer Frage. Doch "die groteske Szenerie (...)entwickelt keinerlei Sog. Das Geschehen tritt dramaturgisch auf der Stelle ... So stark und selbstsicher diese einzelnen Partien gestaltet sind, so scharfsinnig sie in eine Beziehung mit dem Plot treten, so ästhetisch überfrachtet wirkt das Ergebnis dieses intellektuell-sinnlichen Dialogs im Ganzen. Das wirkt wie ein Umschlag dichterischer Phantasie und musikalischer Opulenz in die Beliebigkeit."

Weitere Artikel: Für die taz berichtet Uwe Mattheiss von den Festwochen Wien, wo er nach Arbeiten von Romeo Castellucci, Simone Stone, Frank Castorf und Katrin Brack festellt: "Die Abwesenheit Gottes ist im Theater gerade ziemlich anwesend." Beim Kölner Überwachungsabend "Supernerds" erfahre man als "durchschnittlich informierter Mensch" nichts Neues, überdies folge Regisseurin Angela Richter dem "am Mythos des heldenhaften Kampfs einiger Aufrechter gegen das Böse", meint ein wenig überzeugter Christian Werthschulte in der taz. Simone Schlindwein führt für die taz bei Milos Raus simulativer Gerichtsshow "Kongo Tribunal" Protokoll. Sebastian Schoepp (SZ) porträtiert den Internet-Comedian und -Satiriker Chumel Torres, der mit Twitter und Youtube die Herzen der mexikanischen Jugend erobert hat.

Besprochen werden Alban Bergs "Lulu" in München und Amsterdam (Welt), Jette Steckels Inszenierung der "Antigone" am Burgtheater ("Wucht, Intelligenz und Übermaß an Pathos", bescheinigt ihr Norbert Mayer in der Presse, "Steckels "Antigone" zündet nicht", klagt dagegen Ronald Pohl im Standard), Anselm Webers Inszenierung von Lior Navoks Oper "An unserem Fluss" in Frankfurt (FR), Frank Castorfs in Wien aufgeführte Bühnebearbeitung der "Brüder Karamasow" (Tagesspiegel, mehr), Hakan Savaş Micans und Necati Öziris am Berliner Maxim Gorki Theater aufgeführte Bühnenbearbeitung von Deniz Utlus Roman "Die Ungehaltenen" (Tagesspiegel), Vera Nemirovas Inszenierung von Peter Ruzickas Oper "Hölderlin" am Theater Basel (NZZ), Mariano Pensottis "Wenn ich zurückkomme, bin ich ein Anderer" im Berliner Hebbel-Theater (Tagesspiegel) und die Aufführung von "Catone in Utica", mit der die Wiesbadener Maifestspiele beendet wurden ("eine Barocksensation", schwärmt Judith von Sternburg in der FR).
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Kunst


Kyle Bean: Mobile Evolution

Warum ist man auf diese Idee noch nicht früher gekommen, fragt sich Tilman Baumgärtel in der taz: Unter dem Titel "Hamster Hipster Handy" rückt das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst derzeit Mobiltelefone der Prä-Smartphone-Ära in den Fokus künstlerischer Auseinandersetzung. Was einst ein Zukunftsversprechen darstellte, ist heute melancholischer Schrott von gestern, stellt er dabei fest: Die Präsentation "dieser traurigen Technologien (...) liefert eine lange überfällige ästhetische Reflexion der Tatsache, dass das Handy in unserem Leben das Kommando übernommen hat, um es nie wieder herzugeben. ... Diese Ausstellung [ist] willkommener Anlass, über die disruptivste Technologie unserer Zeit nachzudenken."


Installationsansicht von "Hearsay of the Soul", Foto von Johanna Arnold, Courtesy CCA Wattis Institute for Contemporary Arts

Für die FAZ ist Andreas Platthaus zum Wallraf-Richartz-Museum nach Köln gereist, wo Werner Herzog seine zuvor bereits in den USA ausgestellte Videoinstallation "Hearsay of the Soul", ein ekstatischer Kommentar zu den Werken des in der frühen Neuzeit tätigen Malers Hercules Segers, präsentierte. In Segers habe der deutsche Regisseur einen Wesensverwandten erblickt, berichtet Platthaus: "Die radikale Vergrößerung der im Original winzigen Radierungen zeigt, was Herzog zum Kern seines Interesses an Segers erklärt: dass der am Beginn aller Modernität stehe, was aber niemand begriffen habe. Das sind große Worte, doch die kleinen Werke von Segers lösen sie ein." Auf der Website des Whitneymuseums, wo die Installation 2012 zuerst zu sehen war, gibt es ein Audiogespräch mit dem Filmemacher über seine Installation und Segers.

Besprochen werden weiter die Wechselausstellung "Du sollst dir (k)ein Bild machen" im Berliner Dom, die von einem informativen Blog begleitet wird, wie Sieglinde Geisel in der NZZ versichert, und eine Ausstellung über die Sammlerin Karoline Luise von Baden in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe (FR).
Archiv: Kunst

Literatur

Einer der wenigen Kritiker, die von Literatur wirklich noch entflammt werden, ist Andreas Breitenstein. In der NZZ stellt er heute László Krasznahorkai vor, dessen jüngsten Erzählband "Die Welt voran" - und hier die Erzählung "Irrfahrt im Stehen" - die "epochale Entfremdung der Moderne" beschreibt: "Es spricht einer, der es in seiner Haut an seinem Ort (Ungarn?) nicht aushält, der nicht weiß, wer er ist und was er soll, der alle Strategien und Abenteuer des Aufbruchs im Kopf durchspielt, um nach gefühlten Jahrhunderten des Irrens zu merken, dass sein "Richtgefühl" Unmögliches will, so dass er zum "traurigen" Ende keinen Millimeter vom Fleck gekommen ist mit seinen zwei Koffern und den Schnürstiefeln. Vernichtet scheint er und ist doch voll Energie, die sich in seine düstere Suada ergießt. Satzkaskaden schieben den Punkt über Seiten vor sich her. In der Dunkelheit des zerredeten Augenblicks zerfließen die Gegensätze von Rationalität und Paranoia, Wissen und Nonsens, Ekstase und Depression, Zärtlichkeit und Vernichtung. Nirgends wird gesagt, wie es so weit kommen konnte."

Für die Neuauflage des "Literarischen Quartetts" macht sich Helmut Böttiger in einem leicht säuerlichen Kommentar auf ZeitOnline wenig Hoffnungen: Schon die Besetzung mache "von vornherein klar, dass es nicht um Literaturkritik gehen darf. ... Für eine Talkshow ist diese Konstellation ideal: die gute Frau Westermann, die aber durchaus auch in der Lage ist, etwas erbost zu schwierig oder zu kompliziert zu finden, und der böse Maxim Biller - dazwischen der nette und telegene Volker Weidermann, der Literaturkritiker der Generation Golf, der aber auch mal böse sein kann. Das ist eine Rollenverteilung wie in der Muppet Show."

Außerdem: In der FAZ berichtet Hans-Christoph Buch über ein Schriftstellertreffen in Nicaragua. Besprochen werden Valerie Fritschs "Winters Garten" (SZ, unsere Leseprobe), die Ausstellung im Literaturarchiv der Goethe-Universität Frankfurt mit Fotografien aus Marcel Reich-Ranickis Leben (FAZ), Michael Jaegers Studie "Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen. Fausts Tragödie" (FAZ) und eine Ausstellung zum 30jährigen Bestehen der Anderen Bibliothek in der Universitätsbibliothek der LMU München (SZ).

Archiv: Literatur

Film

Starker Tobak: Auf seinem Blog hat der US-Filmkritiker Jonathan Rosenbaum einen filmhistorischen Essay aus dem Jahr 1992 online wiederveröffentlicht, in dem er sich eingehend damit befasst, wie der Marihuanakonsum der 60er Jahre das Popkino ästhetisch beeinflusst hat. Dirk Peitz rekapituliert auf ZeitOnline die neue Episode von "Game of Thrones". Bill Gibron verabschiedet sich auf Popmatters von der Schauspielerin Betsy Palmer, Horrorfans als Mutter aus der "Freitag der 13."-Reihe bekannt. Und Marco Koch vom Filmforum Bremen bietet wieder einen Überblick über aktuelle Wortmeldungen in der deutschen Filmblogosphäre.

Besprochen werden die Fassbinder-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin (Tagesspiegel), George Ovashvilis "Die Maisinsel" (SZ, Perlentaucher) und die von den Wachowski-Geschwistern für Netflix entwickelte Serie "Sense8" (FAZ, The Verge).
Archiv: Film

Musik

Tobi Müller (Spex) spürt der Melancholie auf "In Colour" nach, dem Solo-Debüt von Jamie XX. Der Musiker fühle hier "das Verschwinden seines Gegenstandes [voraus]: Popmusik als herkunftsüberschreitende Praxis jenseits gefühlsoptimierender Playlisten und überregulierter Großanlässe. Jamie XX betrauert mit "In Colour" nostalgisch die Verfallserscheinungen von Pop, während ihm dennoch ein zeitgenössischer Entwurf gelingt." Pitchfork listet "In Colour" im Pantheon der "Best New Music." Für The Quietus bespricht Christian Ede das Album.

Weitere Artikel: Für die Spex resümiert Joachim Ody das Acht-Brücken-Festival für Neue Musik in Köln. Das Musikblog plaudert mit Rolling-Stone-Kolumnist und Popmusiker Eric Pfeil, der gerade sein zweites Album veröffentlicht hat. Zwar wurde in den jüngsten Jahren auch in Deutschland wieder deutlich mehr Vinyl als zuvor verkauft, doch spielen die dadurch erzielten Umsätze in der Gesamtbilanz der Musiklabels kaum eine Rolle, während der gestiegene Andrang jedoch die wenigen noch verbliebenen Presswerke übermäßig lange ausbucht, berichtet Josef Wirnshofer in der SZ und kommt damit im wesentlichen zu den selben Schlüssen wie diese schon etwas ältere Pitchfork-Reportage über den US-Markt. Nadine Lange resümiert im Tagesspiegel das 10. Berlin Festival. Für The Quietus holt Julian Marszalek das vor 30 Jahren veröffentlichte Album "Low-Life" von New Order wieder aus dem Plattenschrank hervor. Und das Logbuch Suhrkamp bringt die 20. Lieferung von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte".

Besprochen werden das Debüt von Algiers (Pitchfork, The Quietus, mehr), das Jubiläumskonzert des Berliner Rundfunkchors (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Chris de Burgh (FR).
Archiv: Musik

Architektur


Gut gelaunte Jugendrevolte trotz Mauerbau: Josef Kaisers Großflügelhaus in einer Bildmontage von Dieter Urbach, 1971. Bild: Berlinische Galerie.


Die von Ursula Müller kuratierte Ausstellung über die Ost- und Westberliner Architektur der 60er Jahre in der Berlinischen Galerie lässt Michael Mönninger (FAZ) eher unbefriedigt zurück: "Eindeutig setzt die Ausstellung mehr auf kulinarischen Genuss als auf kritische Analyse. Es geht um das gutgelaunte Genießen der bunten Pop-Ästhetik ... Üppig, aber bemerkenswert thesenfrei lässt die Ausstellung viele Fragen offen, nicht zuletzt, was der Sinn ihrer poparchitektonischen Konvergenztheorie zwischen den verfeindeten Systemen ist. ... So heiter und ausgelassen, wie hier behauptet, ist das Jahrzehnt von Mauerbau, Auschwitz-Prozess und Jugendrevolte nicht gewesen."

Weitere Artikel: Beton in allen Graustufen, aber wo ist die Utopie? Frank Maier-Solgk besucht für die Welt die Ruhr-Universität, die gerade 50. Geburtstag feiert. Sehr anregend findet Sandra Hofmeister in der NZZ die Architekturfotografie-Ausstellung "Zoom! Architektur und Stadt im Bild", die gerade im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne zu sehen ist: "In keinem der Fotos geht es darum, die beobachtete Welt zu idealisieren und Architektur zum selbstgenügsamen Kunstobjekt zu stilisieren, wie das sonst in der Architekturfotografie meist geschieht."
Archiv: Architektur