Efeu - Die Kulturrundschau

Sehr schlank, sehr jung und sehr reich

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2016. Zeit Online erkundet das Selbstbildnis in Zeiten des Selfies. Der Freitag fräst sich durch ein literarische Gebirgsmassiv. In der taz erinnert Heinz Strunk an das grässliche Leben, das die Frauen in der Generation seiner Großmütter führten. Als besten Film, den die Dardenne-Brüder nicht gemacht haben, feiert die taz Stéphane Brizés Sozialdrama "Der Wert des Menschen". Das NYRB-Blog huldigt dem freundlich-hellen Horror Apichatpong Weerasethakuls. Die NZZ lernt von hundert Jahren Vogue die Gesetze von Inklusion und Exklusion. Und in der Welt erinnert sich Iggy Pop an Berlin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2016 finden Sie hier

Kunst


Jack Pierson, Self Portrait #25, 2005. Ausstellung "Ich" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Foto: Kurt Steinhausen, Köln

Wie können sich Künstler heute noch selbst darstellen, wenn Selfies zum allgegenwärtigen Medium geworden sind? Zwei sehr interessante Ausstellungen über das Selbstbildnis in Stade und in Frankfurt lassen Felix Stephan auf ZeitOnline ausführlich über den Wandel der Selbstdarstellung nachdenken. Sein Schluss: "Auf dem Feld der Fotografie ist der Kampf zwischen Mensch und Maschine gewissermaßen längst entschieden. Der Fotoapparat musste in der Kunstgeschichte nur auftauchen und der Mensch hat sich verschüchtert aus dem Staub gemacht. Für die anstehenden Verhandlungen zwischen den Menschen und der künstlichen Intelligenz der Maschinen über die Machtverhältnisse der Zukunft ist das eher kein verheißungsvoller Auftakt."

Außerdem: Die Documenta hat eine Fluglinie zu ihrer Dependance in Athen eingerichtet, meldet Ingo Arend in der taz.

Besprochen werden die zwei Londoner Ausstellungen "Big Bang Data" und "Electronic Superhighway" (taz), Nick Caves Bildband "The Sick Bag Song" (SZ), die Studie "Die Galerie des 20. Jahrhunderts in Berlin 1945-1968: Der Weg zur Neuen Nationalgalerie" (SZ) und die Boris-Lurie-Retrospektive im Jüdischen Museum in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

In der Welt plaudert Iggy Pop sehr lustig mit Ralf Niemczyk über sein neues Album "Post Pop Depression", die Rückenschmerzen und die guten alten Zeiten: "Ach, wissen Sie, gegen Los Angeles war Berlin wie ein Kuraufenthalt. Man konnte bei diesem Griechen auf der Hauptstraße in Schöneberg den Studententeller für fünf Mark bestellen und im Supermarkt ganz in der Nähe war der Wodka so billig, dass man ihn nicht mal klauen musste. Das Wichtigste aber war: Wir wurden in Ruhe gelassen. Keiner kümmerte sich um uns. Selbst in diesen Discos am Kurfürstendamm, mit denen ich so diesen aufgetakelten Provinzchic verbinde, blieben wir unerkannt. Da haben wir Studio 54 gespielt. Eben Sekt auf Eis."


Max Richters "Sleep" bei der MaerzMusik im Kraftwerk Berlin. Foto: Camille Blake.

Übernächtigt, aber beglückt berichtet Ivo Ligeti in der Welt von der monumentalen MaerzMusik-Aufführung von Max Richters Komposition "Sleep", die Stunden lang für schlafende Menschen gespielt wurde: Musik ist, dass sie tatsächlich genauso funktioniert, wie ihr Schöpfer es vorgesehen hat. Ein paar sanfte, hallende Pianoakkorde, die im Laufe der Nacht immer wieder an der Oberfläche des Hörbaren auftauchen, bilden die Basis, die Startrampe für den Schlaf. Richters Begleitmusiker, fünf Streicher und eine Sängerin, setzen erst spät ein, übernehmen aber kurz vor 2 Uhr das Kommando und stoßen den Zuhörer zur rechten Zeit in die nächste Schlafphase, von Traum zu Traum." Für die taz war Stephanie Grimm bei dem Ereignis.

Weiteres: Andrian Kreye von der SZ sinkt vor den Livequalitäten des Countrymusikers Chris Stapleton auf die Knie.
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Film

Still aus Stéphane Brizés "Wert des Menschen".

Stéphane Brizés Sozialdrama "Der Wert des Menschen", das minutiös die Zumutungen schildert, denen ein Arbeitsloser nach vielen Jahren reger Tätigkeit ausgesetzt ist. Andreas Busche ist in der taz sehr beeindruckt, "in welcher Weise Brizé seinen Hauptdarsteller filmt und damit Thierrys individuelle Erfahrungen in einem gesellschaftlichen Kontext verortet. Darin liegt eine analytische Qualität von Brizés Inszenierung, die nie vordergründig versucht, eine humanistische Moral an alltäglichen Konflikten zu exemplifizieren, sondern vielmehr die Rahmenbedingungen dieser Konflikte mit filmischen Mitteln hinterfragt. Insofern ist 'Der Wert des Menschen' vielleicht der beste Film, den die Dardenne-Brüder seit Jahren nicht gemacht haben." Weitere Besprechungen in Berliner Zeitung, Freitag und SZ.





In einem schönen Text schreibt Gabriel Winslow-Yost im NYRB-Blog über Apichatpong Weerasethakuls jetzt auch in den USA angelaufenen Film "Cemetery of Splendor", den er bei aller "taghellen Freundlichkeit" als sehr politischen, aber auch als Horrorfilm aufnimmt: "His films are delivered with a kind of mystic deadpan. No matter what is happening onscreen-from a dental appointment to the sudden appearance of a dying man's dead wife at the supper table-his camera never wavers, his long, slow takes never speed up, no one screams, no music swells. There is no distinction between the mundane and the supernatural, and Weerasethakul never fixes on a single tone or meaning, always holding a bit of mystery in reserve."

Die Zeit spricht mit den Regisseuren Christian Schwochow, Florian Cossen und Züli Aladag, die im Auftrag der ARD jeweils einen Spielfilm über die Täter, die Opfer und die Ermittler der NSU-Morde gemacht haben. Schwochow erzählt, wie unheimlich es ist, Nazi-Lieder zu singen: "Wenn 200 Kehlen das gleiche singen oder schreien, begreift man wie das funktiniert. Am Ende eines Drehtages, an dem wir hundert Mal 'Sieg heil' geschrien hatten, habe ich meistens eine Ansprache gehalten, und wir haben alle zusammen 'Nazis raus' gebrüllt."

Weiteres: Ausgerechnet unter der Ägide des Geschichtsschmonzettenkönigs Nico Hoffmann soll eine ZDF-Serie entstanden sein, die den großen Vorbildern das Wasser reichen soll. Verena Friederike Hasel bekommt das ganze Dossier der Zeit, um die Autorin Annette Hess von "Ku'damm 56" zu porträtieren. Das Berliner Kino Arsenal widmet der großartigen Monica Vitti eine Retrospektive, freut sich Carolin Weidner in der taz. Im Freitag empfiehlt Lukas Foerster die Retrospektive des philippinischen Auteurs Kidlat Tahimik, die das Kino Arsenal und im Anschluss das Werkstattkino in München zeigt. Ekkehard Knörer hat für den Freitag zweite Staffeln von "Les Revenants", "The Returned" und "Colony" gesichtet. Für die SZ plaudert Tobias Sedlmaier mit dem deutschen Special-Effects-Bastler Marian Mavrovic über dessen Arbeit am letzten "Star Wars"-Film.

Besprochen werden Kevin Reynolds Bibelfilm "Auferstanden" und Phil Collins' "Tomorrow Is Always Too Long" (Perlentaucher), das Entführungsdrama "Room" (NZZ), Julie Delpys Sexklamotte "Lolo - Drei ist einer zu viel" (eine "Parade der Peinlichkeiten", ärgert sich SZler Rainer Gansera, taz), Peter Kurths "Herbert" (taz) und James Ponsoldts "The End of the Tour" (FAZ), die Verfilmung von David Lipskys Buch über seinen erfolglos gebliebenen Versuch, eine Reportage über den Schriftsteller David Foster Wallace zu schreiben (mehr dazu hier).
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Bühne

Besprochen werden Peter Sellars' Inszenierung von Kaija Saariahos neuer Oper "Only the Sound Remains" in Amsterdam (SZ), Ferdinand von Schirachs Stück "Terror" (NZZ),  Régis Debrays und Michael Tabachniks in Lyon aufgeführte Oper "Benjamin, dernière nuit" über Walter Benjamin (FR), Hofesh Shechters "Barbarians" in Wiesbaden (FR) und Olaf Kröcks Inszenierung von Anders Lustgartens "Lampedusa" in Bochum (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Heinz Strunk betont im taz-Interview mit Jenni Zylka, dass er in seinem Roman "Der Goldene Handschuh" über den Mehrfachmörder Fritz Honka vor allem versucht hat, sich in die Opfern hineinzuversetzen, Frauen wie seine Großmütter: "Das waren einfache Frauen, zum Teil aus der Zone geflohen - was die mitgemacht haben, Vergewaltigungen, Hunger, Entwurzelung, Vertreibung, solche Schicksale sind wirklich kaum zu fassen. Dann stirbt der Mann, und die Frauen haben nichts - keinen Beruf, kein Geld, keine Perspektive. So habe ich mir die Gerda vorgestellt, Honkas erstes Opfer: Sie versucht ihr grässliches Leben auszuhalten, bis sie endlich das Rentenalter erreicht hat und der Staat sich um sie kümmert, sie eine winzige Wohnung mit Bett, Stuhl und Heizung bekommt. Sie hat nicht einmal mehr Erinnerungen!"

Der Freitag reicht Hans Hütts Besprechung der Shortlist zum Leipziger Buchpreis nach, die Hütt in ihrer Zusammenstellung sehr geglückt findet: "Spannungen, tief im Inneren der Erde, die durch noch unmerkliche Mikrobeben das Gebirgsmassiv der Gesellschaft erschüttern lassen, sensorisch wahrgenommen, in Traumarbeit konvertiert. Zwar scheint sich nichts verändert zu haben. Wo kommt nur dieses trostlose Gefühl her, das sich langsam ins Gemüt fräst, namenlose Trauer, gut abgekapselt? Seltenes Seufzen, tiefes Durchatmen, blank liegende Nerven bezeugen ihre Gegenwart. Vortrauervorrat."

In den Romanen dieses literarischen Frühjahrs tummeln sich bemerkenswert viele Tiere, stellt Sandra Kegel in der FAZ fest. Wie man sich als ausgebuhter Schriftsteller auf der Leipziger Buchmesse fühlt, hat der Autor Radek Knapp für die SZ notiert. Mehr von der Leipziger Buchmesse in den Updates unseres Metablogs Lit21.

Im Perlentaucher räumt Arno Widmann Bücher vom Nachttisch und bedankt sich unter anderem bei Joachim Sartorius, der am Wochenende siebzig wird und sich in der Mittagspause nicht nur Notizen machte, sondern Gedichte schrieb: "Dass die Notiz nicht nur da sein, sondern schön da sein soll, ja ergreifend, das ist ein solches Mehr an Aufmerksamkeit der Welt - und natürlich der eigenen Existenz - gegenüber, dass viele von uns auch ein Gefühl der Beschämung beschleicht."

Weiteres: Im Blog der NYRB verweist Tim Parks Übersetzer auf ihre Plätze: "Ruhm ist für Übersetzer geliehener Ruhm. Darum kommt man nicht herum. Übersetzer werden gefeiert, wenn sie gefeierte Bücher übersetzen." Für die Berliner Zeitung hat Kristin Hermann Benjamin von Stuckrad-Barres Lesung aus seinem neuen Roman "Panikherz" besucht.

Besprochen werden Kamel Daouds "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung" (Freitag, hier unsere Leseprobe), Ronja von Rönnes "Wir kommen" (online nachgereicht von der FAS), Siegfried Lenz' "Der Überläufer" (FR), Nis-Momme Stockmanns "Der Fuchs" (Berliner Zeitung), Marion Braschs "Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot" (Freitag), Misha Glennys Krimi "König der Favelas" (Freitag), Abbas Khiders "Ohrfeige" (Freitag), Rachel Cusks "Outline" (Freitag), Thomas von Steinaeckers "Die Verteidigung des Paradieses" (ZeitOnline), Anthony Powells "Ein Tanz zur Musik der Zeit" (FAZ), Ann Cottens "Verbannt!" (SZ) und neue Lyrikbände, darunter Marion Poschmanns "Geliehene Landschaften" (Freitag).
Archiv: Literatur

Design

Die britische Vogue lässt sich zu ihrem Hundertjährigen mit einer glitzernden Ausstellung von der National Portrait Gallery feiern, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ: "Die Ausstellung wird zu einer Ruhmeshalle, und mit ihr betreibt Vogue, die eben auch eine Machtmaschine ist, Modepolitik. Die Zeitschrift und mit ihr die Ausstellung spüren dem nach, was den Stil und die Schönheit der Stunde gerade definiert. Die Antworten sind vielfältig: Sehr schlank, sehr jung und sehr reich auszusehen, war im Modebusiness, wie sich beim Spazieren durch die Geschichte von 100 Jahren Vogue herausstellt, immer schon en vogue. Nur für Frauen, versteht sich. Andere Welten, wie die des Films, der (Pop-)Musik, der bildenden Kunst und des Alltags folgen anderen Gesetzen und eröffnen weiter gefasste Möglichkeiten. Aber auch die werden von Vogue immer gestreift. So dass der Reiz zwischen Exklusion und Inklusion nie ganz aus der Balance gerät." (Bild: Das Vogue-Cove einer unbeschwerten Ausgabe vom Sommer 1941)
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