Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Art sinnlicher Intelligenz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2017. In der Jüdischen Allgemeinen erzählt Max Czollek, Organisator der "Radikalen Jüdischen Kulturtage", wie es sich für Juden in Deutschland anfühlt, immer auf Antisemitismus, Schoa und Israel reduziert zu werden. taz und Nachtkritik erleben beklommen, wie Sasha Marianna Salzmann und Sivan Ben Yishai das Gefühl jüdischer Desintegration im Gorki Theater inszenieren. In der taz wünscht sich die Autorin Yaa Gyasi, dass Literatur schwarzer Schriftsteller auch jenseits der Themen Diskriminierung und Sklaverei wahrgenommen wird. FAZ und FR entfliehen mit Jil Sander in Frankfurt dem Alltag. In der taz erklärt der Schriftsteller China Mieville, warum Trump und Putin nicht mal gute Monster sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2017 finden Sie hier

Design

Über diesen Coup staunen die Feuilletons nicht schlecht: Erstmals überhaupt wird der Modedesignerin Jil Sander eine große Ausstellung gewidmet - und nicht etwa in New York, sondern in Frankfurt am Main, wo das Museum Angewandte Kunst überdies seine ganze Fläche von 3000 Quadratmetern geräumt und zur Verfügung gestellt hat. FAZ-Kritikerin Verena Lueken fühlt sich bei Betritt des Hauses dann auch gleich "dem Alltag enthoben" - Sanders Werk charakterisiert sie als "fluide in nahezu jeder Hinsicht - zwischen den Jahrzehnten, den Geschlechtern, den Moden. Ein Werk, das Kleidung nicht nur an Körpern entwirft, sondern auch den Raum einbezieht, in dem sie getragen wird. Das also Architektur mitdenkt. Und das, im Design minimalistisch, vermeintlich unterkühlt, ornamentlos eine Stimmung erzeugt, die eine ganz eigene Sinnlichkeit atmet, eine Art sinnlicher Intelligenz."

"Spannend" werde die Ausstellung dementsprechend auch immer dann, wenn "es um die Konstruktion, um die Grundfeste der Kleidung geht", erklärt Manuel Almeida Vergara in der FR. So "hängen überdimensionale Schnittmuster an den Wänden, Kreidelinien zeichnen an einem Jackett formgebende Nähte nach. Hinter Glas liegt, was für Jil Sanders Mode immer am wertvollsten war: Konzepte, Stimmungskollagen und Stoffproben, eine intensive Forschung am Material."
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Bühne

Sesede Terziyan und Moran Sanderovich in "Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden". Foto: Stefan Loeber.

Mit dem von Sasha Marianna Salzmann inszenierten Monolog "Die Geschichte vom Leben und Sterben des neuen Juppi Ja Jey Juden" der israelischen Dramaturgin Sivan Ben Yishai und der von Sapir Heller inszenierten Textcollage "Celan mit der Axt" von Max Czollek haben die "Radikalen Jüdischen Kulturtage" im Maxim Gorki Theater eröffnet. In der Nachtkritik lobt Gabi Hift vor allem Yishais Stück, das sich in Form eines Monologs einer Jüdin, die sich beim deutschen Publikum für einen Preis bedankt, auch mit der Situation von Juden in Deutschland heute auseinandersetze: "Obwohl der Text in der zweiten Hälfte ein bisschen zerfasert, spürt man eine zunehmende Beklemmung und Trauer, spürt, dass es für die junge Frau kein Entkommen gibt aus Wut und undefinierbarer Angst. Der Clou der Inszenierung ist der eklige und doch vertraute Gnom. Was ist er? Der Alptraum der Künstlerin? Ihr Schmerz? Ihre skurril verformte rosa Fleischseele? Er ist einfach da, bleibt ein stumpfes, perverses Rätsel, bis er sie in die Arme nimmt wie Lear seine Cordelia und die beiden im 'Garten der Diaspora' in einem Glaskobel als Schauobjekte enden."

In der taz bewundert auch Esther Slevogt die Abgründigkeit, mit der Salzmann, Yishai und Schauspielerin Sesede Terziyan das Gefühl jüdischer Desintegration darstellen und den Versuch, sich von jenen von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts formatierten Zuschreibungen zu emanzipieren: "Schnell schraubt sie sich in einen emotional hochambivalenten Vortrag hinein, der immer weiter ins Irrsinnige driftet. Im Grunde jedoch sagt diese Glamourwoman nur eins: ich bin eine jüdische Künstlerin in Deutschland und der Riesenerfolg, der hier nun gefeiert wird, hat mit dem ans Wahnhafte grenzenden Double-Bind zu tun, dass eine jüdische Künstlerin in Deutschland voyeuristisch immer nur als Jüdin wahrgenommen wird. Dass sich der Erfolg darüber steuern lässt, wie virtuos man diesen kranken Voyeurismus, diese klebrige Sensationslust zu bedienen in der Lage ist."

Und im Interview mit Philipp Fritz von der Jüdischen Allgemeinen erklärt der Schriftsteller und Organisator Max Czollek, warum die Festivalmacher die Existenzbedingungen jüdischer Realität in Deutschland infrage stellen wollen: "Für Juden in Deutschland, aber auch für andere Minderheiten, gibt es ein 'Repräsentationskoordinatensystem', für Juden ist dies ein Dreieck aus Antisemitismus, Schoa und Israel. Das sind die Positionen, von denen aus man als Jude spricht. Wenn ein Arzt jüdisch ist, dann ist dieser jemand kein jüdischer Arzt. Jemand, der sich zu den genannten Themen in der Öffentlichkeit äußert, ist aber Jude. Dasselbe gilt für die Kunst."

Besprochen wird außerdem die Tanzperformance "Versuch über das Turnen" des Projekts "Hauptaktion" beim Spielartfestival in München (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Film

Mit ihrem vom MDR produzierten Dokumentarfilm "Montags in Dresden" sorgt Sabine Michel für Kontroversen auf dem DOK Leipzig: Die Filmemacherin begleitet darin drei Pegida-Aktivisten, die den Berichten zufolge sehr frei ihre Ansichten darlegen - ohne Nachhaken, Einsortierung und Einschätzung. Naiv findet das Julian Gutberlet von der Welt: Sabine Michel "lässt den Protagonisten 82 Minuten lang Raum, ihre Argumente für ein Engagement in einer fremdenfeindlichen Bürgerbewegung darzulegen, doch was kommt, sind Plattitüden, Gefühlsduseleien und Vorurteile. ...  Ohne eine Einordnung ist 'Montags in Dresden', der bald im Kino, dann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen laufen soll, daher nicht zeigbar, denn er verharmlost eine ausländerfeindliche Bewegung und negiert deren gesellschaftliche Auswirkungen".

Nur noch "skurril" findet es Lucas Grothe von der taz, dass der Film von der Stiftung Friedliche Revolution für den mit 2.500 Euro dotierten Filmpreis "Leipziger Ring" nominiert ist, der vergeben wird "an einen 'künstlerischen Dokumentarfilm, der das bürgerschaftliche Engagement von Menschen in aller Welt und ihr gewaltloses Ringen um Demokratie, Menschenrechte und die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen beispielhaft dokumentiert'."

Mit seinem neuen, auf einem Drehbuch der Coen-Brüder basierendem Film "Suburbicon" will George Clooney die nostalgische Verklärung der 50er-Jahre, die für ihn in Trump-Parolen wie "Make America Great Again" stecken, demaskieren, erklärt der Regisseur im SZ-Gespräch mit Susan Vahabzadeh: "Donald Trump war damals so alt wie der kleine Junge im Film. Wir blicken immer zurück auf Eisenhowers Regierungszeit und sagen: Ach, wie einfach damals alles war! Ja, es war einfach, sogar sehr einfach, vorausgesetzt, man war ein weißer, heterosexueller Mann. Leider galt das für sonst niemanden."

Weiteres: Esther Buss empfiehlt im Tagesspiegel die Filmreihe des Berliner Kino Arsenals über die Filmemacherin Pascale Ferran. Im Standard weist Michael Pekler auf eine Wiener Filmreihe mit österreichischen Kriminalfilmen hin. Manuel Schubert berichtet in der taz vom Pornfilmfest Berlin. Besprochen wird William Oldroyds "Lady Macbeth" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Kunst

Im Interview mit Birgit Rieger vom Tagesspiegel spricht die in Südkorea geborene Künstlerin Haegue Yang über ihre aus Jalousien gefertigten Skulpturen, die derzeit im Berliner KINDL ausgestellt werden und erklärt, weshalb sie die Industrialisierung in ihren Arbeiten immer wieder thematisiert: "Wir haben in Südkorea eine aggressive Industrialisierung erlebt. Aber es ist umstritten, ob es eine Moderne in Asien überhaupt gegeben hat. Ich würde sagen, wir haben eine kompakte Moderne erlebt. In 30 Jahren wurde geschafft, was in Japan etwa 100 Jahre und in Europa über 200 Jahre gedauert hat. Derart komprimiert ergibt sich daraus eine andere, sehr brutale Erfahrung, man könnte sogar sagen eine heftige Attacke."

Im Tagesspiegel freut sich Christoph von Marschall über die Wiedereröffnung der Freer-Sackler Gallery in Washington, deren vom amerikanischen Industrielle Charles Lang Freer gestiftete asiatische Kunstsammlung einst von Präsident Roosevelt angenommen wurde, um die geopolitische Neuausrichtung der USA nach Asien zu illustrieren, weiß Marschall. Auch heute verspreche man sich eine Debatte über das Verhältnis der USA zu Asien, etwa durch die Sonderausstellung "Turquoise Mountain. Artists transforming Afghanistan": "Noch während der Kämpfe haben Künstler und Handwerker begonnen, die Holzgebäude von Murad Khani, der Altstadt von Kabul, wiederaufzubauen. Der Holzduft der filigranen Schnitzereien aus Himalaya-Zeder und die Video-Testimonials der Künstler und Handwerker bleiben noch lange nach dem Besuch der Ausstellung haften. Viele von ihnen hatte der Krieg entwurzelt und in die Emigration getrieben. Die Rückkehr und die künstlerische Aufbauarbeit verstehen sie auch als persönlichen Kampf um die Rückgewinnung ihrer Identität."

Weiteres: Zum Glück gibt es die Wahl zum einflussreichsten Künstler der zeitgenössischen Kunst, die das britische Kunstmagazin Art Review jedes Jahr veranstaltet und die dieses Jahr die deutsch-japanische Videokünstlerin Hito Steyerl gewonnen hat, meint Thomas Ribi in der NZZ: Denn wie sollten wir sonst erkennen, was gute Kunst ist? In der taz vermisst Johanna Schneller bei der "Bestandsaufnahme Gurlitt" in Bonn Raum für den inneren Diskurs mit den Bildern, etwa von Munch, Dix oder Beckmann: "In Teilen gleicht die Schau deshalb einem Polizeieinsatz: Gehen Sie bitte weiter, sie sehen doch, es wird alles getan."
Archiv: Kunst

Musik

In der SZ befasst sich Jan Kedves mit Marc Hogans (auch in unserer Magazinrundschau ausgewertetem) Pitchfork-Essay damit, wie die 30-Sekunden-Marke von Spotify den Gegenwarts-Pop umgestaltet: Als "gespielt" gezählt, bei der Monetarisierung und für die Charts berücksichtigt werden nämlich nur Songs, die länger als 30 Sekunden laufen - womit der Beginn eines Songs über sein Wohl und Wehe entscheidet. Parallel dazu erblickt Kedves mit dem Begriff des "Deep Cut" aber auch eine neue Gegenbewegung: Magazine und Nutzer empfehlen eher unbekannte Stücke, die sich musikalisch besonders auszeichnen. Wünschenswert wäre es, sagt Kedves, wenn sich "parallel zum Spotify-Sound, im Netz eine Empfehlungskultur etabliert, die mit dem Versprechen lockt, dass derjenige, der sich durch Deep Cuts hört, zwar schon mehr Geduld als 30 Sekunden mitbringen muss, dafür aber mit interessanterer, abseitigerer, nicht-formelhafter Musik belohnt wird. Vielleicht ließe sich so in Zeiten der Skip-Taste sogar ein dezidiertes Spezialistentum am Leben erhalten?"

Anlässlich eines neuen Tricky-Albums hat sich Arne Löffler von der FR mit dem Triphop-Pionier zum Gespräch getroffen. Der reagiert auf den kumpeligen Tonfall des Interviewers zwar zunächst gereizt, lässt dann aber doch durchblicken, warum er russischen Hiphop schätzt ("Die Sprache eignet sich wunderbar für Raps. Der Flow kommt einfach gut.") und wieso Berlin einfach ein ideales Domizil ist: "Ich bin hier, weil hier nichts los ist, weil ich mich hier auf mich selbst konzentrieren kann. Wegen der Ruhe."

Weiteres: Ljubisa Tosic spricht im Standard mit Michael Lessky über dessen Pläne für die Junge Philharmonie Wien. Moritz von Bredow erinnert in der der NZZ an die Pianistin Branka Musulin, die in diesen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Edition mit SWR-Aufnahmen des Dirigenten Michael Gielen (NZZ), neue Album von St. Vincent (NZZ), neue Alben von Tony Allen (NZZ), eine Edition mit allen Decca-Aufnahmen des Dirigenten Carl Schuricht (NZZ), eine Mendelssohn-Aufnahme des Freiburger Barockorchesters unter Pablo Heras-Casado mit Isabelle Faust (NZZ), Hans Werner Henzes bei Wien Modern aufgeführtes Oratorium "Das Floß der Medusa" (Standard), der Auftakt des Jazzfests Berlin (Tagesspiegel), ein Konzert der Gorillaz (Standard) und ein Konzert des Bratschisten Nils Mönkemeyer und des Pianisten William Youn (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Literatur

Der britische Autor China Miéville ist ein Phänomen: Nicht nur schreibt er sehr intelligente, zwischen Horror, Science Fiction und Fantasy changierende Romane über grandiose Monster, zudem ist er promovierter Politikwissenschaftler und sozialistischer Aktivist, der dazu noch literaturtheoretische Arbeiten schreibt und ein eigenes Journal veröffentlicht. Gerade hat er ein Buch über die Oktoberrevolution veröffentlicht (mehr dazu im Guardian) - was ihn alles im britischen Betrieb zum etablierten Autor macht, wohingegen er im deutschen Feuilleton bislang kaum bemerkt wurde. Die taz ändert das jetzt mit einem großen Gespräch, das Daniel Schulz geführt hat. Unter anderem erfahren wir, dass der Experte herzlich wenig davon hält, wenn man Trump und Putin als Monster bezeichnet: "Beide sind keine guten Monster. Was wirkliche Monster ausmacht, ist ihre Unmenschlichkeit. ... Monster haben zwei Eigenschaften, die mir besonders gefallen. Erstens sind sie unerschöpfliche Metaphern. Manchmal vereinen sie Bedeutungen, die unmöglich zu vereinen sein sollten. Vampire sind übermenschlich stark und zugleich extrem verletzliche Junkies, die Blut brauchen. Zweitens haben Monster eine unmögliche Gestalt: Schuppen, Flügel, Hörner. Diese Kombination macht Monster so interessant. Man kann sie nicht auf eine einzige Bedeutung reduzieren, sie weigern sich geradezu. Deshalb eignen sie sich auch nicht zur pointierten Beschreibung von Trump oder Putin."

Wenn weiße Schriftsteller für ihre Werke ausgezeichnet werden, dann haben sie einfach über Gott und die Welt geschrieben, schwarze Schriftsteller hingegen gelten als preisverdächtig nur dann, wenn sie in ihren Büchern über die historische Erfahrung der Sklaverei schreiben, sagt die Schriftstellerin Yaa Gyasi, die gerade ihr Debüt "Heimkehren" veröffentlicht hat, im Gespräch mit der taz. "Idealerweise sollten wir, denke ich, eines Tages aber dahin kommen, dass schwarze Autoren über was auch immer schreiben können und genauso respektiert werden wie weiße."

Weiteres: Tomasz Kurianowicz trifft sich für die Zeit mit dem Krimiautor Oliver Bottini auf ein Gespräch. Schriftsteller Jochen Schmidt berichtet im literarischen Wochenendessay der FAZ von seiner ersten Lektüre von Iwan Gontscharows Mammutwerk "Oblomow".

Besprochen werden die Ausstellung über den Übersetzer Peter Urban im Literarischen Colloquium in Berlin (Tagesspiegel), Fouad Larouis "Im aussichtslosen Kampf zwischen Dir und der Welt" (taz), Mohsin Hamids "Exit West" (Tagesspiegel), Oskar Roehlers "Selbstverfickung" (taz), Agatha Christies erstmals ins Deutsche übertragener Roman "Passagier nach Frankfurt" (Welt), Paolo Cognettis "Acht Berge" (SZ), und John Burnsides "Ashland & Vine" (FAZ).
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Architektur

Bild: Entwurf Konzerthaus München. Cukrowicz-Nachbaur Architekten

Ein wenig mehr "Grandezza" hätte das neue Münchner Konzerthaus schon haben dürfen, findet Judith Leister in der NZZ, nachdem sie sich den Sieger-Entwurf des Bregenzer Architektenduos Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm angesehen hat: "Scheut München vielleicht das finanzielle und politische Risiko, eine international beachtete Landmarke wie die Hamburger Elbphilharmonie zu bauen? Mit einer Glasarchitektur jedenfalls verbindet man eher anonyme Gewerbeflächen als ausdrucksstarke Emotionalität. Keiner der Konzertsäle soll einen Sichtbezug nach außen haben, alles fokussiert auf das Geschehen im Inneren."
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