Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht mal ein Fegefeuerchen

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13.11.2017. Mit gefletschten Zähnen stürzen sich die Feuilletons auf Chris Dercons Volksbühnen-Auftakt: Die FAZ möchte sich beleidigt auf die Seite der Besetzer schlagen, nur Zeitonline meint: "Geil!" Die SZ stellt fest, wie die Becher-Marke ihre Klasse korrumpierte. In Alejandro Inarritus Virtual-Reality-Installation "Carne y Arena" wird sie selbst zum Flüchtling. Der Standard schaut sich Potemkinsche Dörfer in Russland an. Und die NZZ verfällt dem kosmischen Gefühl von Wolfgang Laibs Blütenpollen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.11.2017 finden Sie hier

Bühne


Bild: Nicht Ich. Szenenfoto, Volksbühne Berlin. Foto: David Baltzer

Mit Beckett-Einaktern unter der Regie von Walter Asmus, überwiegend älteren Performances von Tino Sehgal und Polizeischutz vorm Haus hat Chris Dercon die Volksbühne am Wochenende eröffnet. Ziemlich gestrig, mehr Museum als Theater, aber ein gelungenes Wiedersehen mit Anne Tismer, so der Tenor der Feuilletons, die Dercon heute den Aufmacher widmen, um ihn dann genüsslich zu verreißen.  In der taz erlebt etwa Katrin Bettina Müller: "Theatermagerkost der strengen Sorte. Nie hat man an diesem Abend das Gefühl, dass das Haus seine gewohnte Betriebstemperatur erreicht, dass es hinter den Kulissen, auf der Bühne und in den Köpfen der Zuschauer brummt vor Anstrengung. Nichts erinnert hier an ein überbordendes Spiel, an ein Überlaufen des Fasses der Ideen. Mehr wie die Exerzitien eines Reinigungsrituals fühlt es sich an, ein Leerfegen des Raums, eine langsame Ankunft." Eher eine "Late Modern als eine Tate Modern", meint Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Immerhin: "Die von Asmus inszenierte Trilogie des Nimmerwiedersehens ist das, was im Gedächtnis bleibt von dieser sonderbaren Veranstaltung in einem leeren Theater."

Als "Beleidigung" für Zuschauer und Darsteller empfindet gar FAZ-Kritiker Simon Strauss den Abend und möchte sich am liebsten auf die Seite der Besetzer schlagen. "Größtmögliche Arroganz" attestiert er Dercon: "Wenn ihr mich für mein avant­gar­dis­ti­sches Kunst­ver­ständ­nis kri­ti­siert, mir eu­re her­ge­brach­ten Er­war­tun­gen an ein Thea­ter zu­mu­tet, dann las­se ich euch zur Stra­fe um­so län­ger in der Per­for­man­ce­höl­le bra­ten. Nur, dass es gar kei­ne Höl­le, nicht mal ein Fe­ge­feu­er­chen ist." "Wo ist Adorno, wenn man ihn braucht?", fragt Ekkehard Knörer im Merkur angesichts der Beckett-Inszenierung und resümiert nach einem spaßbefreiten Abend: "Diese Wiederbelebung, dieses Heraufrufen aus der Gruft, der Umgang damit, als könnte es etwas Lebendiges sein, ist alles andere als eine frivole Geste." "Nach so viel Gestern zum Auftakt allerdings muss die Zukunft hier erst noch beginnen", findet Georg Kasch in der Nachtkritik. Als "Kunstkommunikationskatastrophe" erscheint auch Dirk Pilz in der Berliner Zeitung der Auftakt: "Große Gesten, wenig Gehalt."  Und in der SZ stellt Christine Dössel ernüchtert fest: "Wir haben das Beste schon gehabt".

Bild: Tritte mit Anne Tismer. Volksbühne Berlin. Foto: David Baltzer

Auf Zeitonline bricht Dirk Peitz hingegen eine Lanze für Dercon: Echt "geil" findet er nicht nur den musikalischen Auftakt von Ari Benjamin Meyers, sondern er bezeichnet auch den Vorwurf der "Eventbude" als "Quatsch": "Es geht um etwas völlig anderes hier, um nichts weniger als eine Neubetrachtung des Theaters an sich nämlich. Aber eben durch die Rekonstruktion des Alten…" Und im monopol-magazin fügt Elke Buhrs hinzu: "Ein Haus vergewissert sich seiner Mittel, poliert sein Besteck, stellt die Frage, was es eigentlich ist und was es kann."

Weiteres: In der FAZ trifft sich Klaus Georg Koch mit Salvatore Sciarrino, um über dessen neue Oper "Ti vedo, ti sento, mi perdo" zu sprechen. Besprochen wird Dietrich Brüggemanns Theaterdebüt "Vater" im Deutschen Theater (Berliner Zeitung), Clemens Sienknechts und Barbara Bürks Inszenierung "Anna Karenina - allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" am Schauspielhaus Hamburg (Nachtkritik), Jakob Fiedlers Inszenierung von Jean Genets "Die Zofen" an den Wuppertaler Bühnen (Nachtkritik), Patrick Wengenroths Inszenierung von Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T./Störfall am Mecklenburgischen Staatstheater (Nachtkritik), Lutz Hillmanns Inszenierung von Oliver Bukowskis "Birkenbiegen" am Theater Bautzen (Nachtkritik), das Stück "Männer, die denken" von der Performing Group am Theater Oberhausen (Nachtkritik), das Inklusive Theaterfestival "No Limits" im Berliner HAU (taz), und Dominique Menthas "Antilope" an der Wiener Staatsoper (Standard) .
Archiv: Bühne

Kunst

Wie ein Mönch sammelt der deutsche Künstler Wolfgang Laib, dem das Lugano Arte e Cultura derzeit eine große Retrospektive widmet, bereits seit 1977 Pollen, um sein Installationen zu erschaffen, erzählt NZZ-Kritikerin Susanna Koeberle ganz überwältigt von der "Leuchtkraft" des Blütenstaub-Gelbs: "Zur optischen Wahrnehmung gesellt sich ein Gefühl, das die zeitliche Dimension, die dieser Arbeit zugrunde liegt, spürbar werden lässt. Auch wenn man nicht dabei war, als der Künstler die Pollen gesammelt hat. Und auch nicht, als er diese mit einem Sieb Flecken um Flecken auf die Fläche gestreut hat. Das Performative, Gestische und Rituelle dieser Arbeit ist da, es ist gleichsam physisch erfahrbar. Zeit- und Raumkoordinaten lösen sich auf, alles steht still. Betrachter, Künstler, Werk: einen Augenblick lang dasselbe. Ist es das, was man kosmisches Gefühl nennt?"

Mit Blick auf die Axel-Hütte-Ausstellungen in Bottrop und Düsseldorf und die Thomas-Ruff-Ausstellung in der Londoner Whitechapel Gallery stellt Catrin Lorch in der SZ fest, dass bei aller Bedeutung der Bechers die "Trademark" diese "spannendste Künstlergeneration der Nachkriegszeit" auch "korrumpierte": "Einmal am Markt etabliert und mit ihren perfekt gestalteten, fast hermetisch kontrollierten Großformaten in die Museen eingezogen, werden die sparsam und überlegt agierenden Schüler der Bechers ausladend, trumpfen auf mit ihrer Motivik. Einzig Thomas Struth wirkt mit seinen Aufnahmen noch stringent, er stellt seine wandgroßen Formate in Relation, beispielsweise zu technologischen Entwicklungen, verfolgt neugierig ihren Allmachtsanspruch in der Gegenwart."

Weiteres: Anlässlich der Vienna Art Week spricht Anne Katrin Fessler im Standard mit Wolfgang Ullrich über seinen im Perlentaucher erschienenen Essay "Zwischen Deko und Diskurs", in dem der Kulturwissenschaftler ein Schisma zwischen Kuratoren- und Marktkunst vorhersagt: "Satirisch ist der Essay nicht gemeint. Eher spekulativ. Ich spinne fort, was aktuell zu beobachten ist."

Besprochen wird der 3. Herbstsalon im Gorki-Theater (Tagesspiegel) und die Ausstellung Mali Twist des Fotografen Malick Sidibe in der Fondation Paris (FAS)
Archiv: Kunst

Film

Mitten drin statt nur dabei: Dieses Versprechen der Virtual Reality konnten bislang nur Jahrmarkt-Attraktionen und Pornos halten - im Bereich der Filmkunst schien bislang wenig zu holen, meint Jürgen Schmieder in der SZ und begründet dies damit, dass die panoramatische Ausrichtung der VR sich schlecht mit der sequenziellen Konzentrations-Logik des Films vereinen lasse. Umso wuchtiger ist nun aber die Virtual-Reality-Installation "Carne y Arena", für die Regisseur Alejandro Iñárritu und Kameramann Emmanuel Lubezki am vergangenen Wochenende einen Sonder-Oscar erhalten haben: Dieser Film über die Erfahrung von Flüchtlingen beim illegalen Grenzübertritt hat Schmieder enorm beeindruckt: "Man bemerkt, dass man nicht Zuschauer dieser Geschichte ist, sondern Nebendarsteller. Selber ein Flüchtling. Man ist mittendrin, mit sämtlichen Sinnen, inklusive feuchter Hände, zitternder Beine und - wirklich - aufrichtiger Angst."

Mit dem Export-Erfolg der Serie "Babylon Berlin" habe Deutschland als Standort für Serienproduktionen international aufgeholt, verkündet Produzent Jan Mojto großspurig im Tagesspiegel-Gespräch: "Der große Bedarf besteht an High-End-Produkten. Da hatte Deutschland Nachholbedarf. ... Das deutsche Fernsehen ist bereit, neue Wege zu gehen."

Weiteres: Silvia Hallensleben berichtet im Tagesspiegel von der Duisburger Filmwoche. Besprochen werden Delphine und Muriel Coulins "Die Welt sehen" (Freitag), Peter Stephan Jungks Dokumentarfilm "Tracking Edith", in dem der Filmemacher die Geschichte seiner Tante Edith Tudor-Hart erzählt, die sich als KGB-Spionin erwies (FAZ), und neue DVDs (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Im Zeit-Essay verzweifelt der Schriftsteller Thomas Hettche an den gängigen Konventionen des Realismus-Konzepts weiter Teile der Gegenwartsliteratur: "Wir erleben den Triumph eines scheinbar universell gültigen Erzählens, das auf Verabredungen mit dem Leser gründet, die vor dem Beginn jeder Lektüre getroffen werden. Dieses Erzählen besteht aus Konvention, Konventionen eines wohlfeilen Realismus ebenso wie denen sogenannter experimenteller Texte. In ihm erfährt der Leser nichts, was er nicht vorher schon wüsste. Die Welt darin ist immer schon eingerichtet. Alle Dinge haben Namen." Trost sucht er unter anderem bei Anregungen von Schiller und Fontane.

Weiteres: Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt hat dem Literaturarchiv in Marbach einen Besuch abgestattet, berichtet Patrik Schmidt in der Welt. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel hat wenig Vergnügen daran, in Venedig Bücher namhafter Autoren über Venedig zu lesen. Roman Bucheli berichtet in der NZZ von der Vergabe des Schweizer Buchpreises an Jonas Lüscher. Stefan Gmünder zieht im Standard nach der Messe Buch Wien Bilanz. Deutschlandfunk Kultur bringt Dagmar Justs Feature über Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie", in dem der Schriftsteller einem Affen das Wort erteilt.

Besprochen werden die Benjamin/Brecht-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin (Jungle World), Peter Handkes "Die Obstdiebin" (online nachgereicht von der Welt, SZ), Anita Nairs Krimi "Gewaltkette" (Freitag), Nils Minkmars "Das geheime Frankreich" (Freitag), Irene Disches "Schwarz und Weiß" (Zeit) und neue Bergomane von Matteo Righetto und Paolo Cognetti (Welt).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Walther von der Vogelweides "Lange zu schweigen hatte ich im Sinn":

"Lange zu schweigen hatte ich im Sinn -
nun muss ich wie früher singen.
Gute Menschen brachten mich dahin,
..."
Archiv: Literatur

Musik

Anlässlich der Wiederveröffentlichung von Lars Eidingers in dessen Jugend im elterlichen Keller aufgenommenen Hiphop-Albums "I'll Break Ya Legg" plaudert Christian Seidl mit dem Schauspieler in der Berliner Zeitung über Gott und die Welt. Die düstere Stimmung der instrumentalen Musik auf dem Album stellt auch heute noch einen Widerhall seiner Persönlichkeit dar, sagt er: "Heute verbindet man vielleicht eher etwas Expressives mit mir, aber eigentlich bin ich von der Veranlagung her total phlegmatisch. Die Expressivität hat ja ihren Ursprung darin, gegen dieses Phlegma anzukämpfen."

Weiteres: In der SZ stellt Frank Nienhuysen den ukrainischen Schlagerstar Ani Lorak vor, die mit ihren Auftritten in Russland in ihrer Heimat für Kontroversen sorgt. Thomas Schacher berichtet in der NZZ vom Festival "Focus Contemporary - Zürich-West", wo ihn besonders die Konzerte des Collegium Novum beeindrucken. Bei dem neuen Festival, das sich künftig im Jahresturnus mit dem Tagen für Neue Musik in Zürich abwechselt, wurde auch Matthias Arters neue musikdramatische Arbeit "Am Rhein" uraufgeführt, in deren Vorstellung NZZ-Kritiker Moritz Weber saß. Auf Pitchfork blickt Quinn Moreland zurück auf das 1967 erschienene Debüt "Chelsea Girl" von Nico. Wir erinnern uns mit:




Besprochen werden ein Konzert von Mount Kimbie (taz), Ian Svenonius' Album "Escape-Ism" (Spex), das neue Album von Prinz Pi (Welt), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Semjon Bytschkow (Standard), eine Darbietung von Olivier Messiaens "Turangalîla-Symphonie" im Rahmen von Wien Modern (Standard), ein Auftritt der Toten Hosen (NZZ). das neue Album von Josh Ritter (FAZ) und der von Stephan Mösch herausgegebene Sammelband "Komponieren für Stimme" (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Stefan Trinks über Nick Caves "The Mercy Seat":

Archiv: Musik

Architektur

Im Standard hat sich Anne Katrin Fessler mit Gregor Sailer über sein Projekt "The Potemkin Village", für das er Planungsruinen und für militärische Zwecke errichtete Fake-Architekturen fotografiert hat, unterhalten: "In Russland sollte Sailer herausfinden, dass die Legende, die seinem Projekt den begrifflichen Rahmen gab, lebt. In Susdal, drei Autostunden von Moskau entfernt, erwartete man 2013 einen Besuch Putins. Der Verfall des Städtchens erschien nicht präsidial, also versteckte man die Schäbigkeit hinter Planen. Als Sailer knapp drei Jahre später hinreiste, war es fraglich, ob sich noch visuelle Spuren der Maskerade finden lassen. 'Obwohl wir bewusst danach gesucht haben, sind wir ein paar Mal daran vorbeigefahren. Bis wir irgendwann unsere Wahrnehmung sensibilisiert hatten.'"
Archiv: Architektur
Stichwörter: Sailer, Gregor, Maskerade