Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen den Backen eines Schraubstocks tanzen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2017. In der SZ wiegelt Wolf Prix Nachfragen zu unwürdigen Arbeitsbedingungen auf Großbaustellen mit dem Verweis auf die Machtlosigkeit von Architekten ab. Im Standard erzählt Jette Steckel, wie sich das Theater prostituiert. Beschämt erlebt der Standard danach ihre Ibsen-Inszenierung "Ein Volksfeind" am Burgtheater. Die FAZ schaut hinter die Kulissen der Affäre von Henry Kissinger und Ingeborg Bachmann. In der SZ denkt Herbie Hancock über die Kreativität von Androiden nach. Und alle trauern um Malcolm Young.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.11.2017 finden Sie hier

Musik



AC/DC-Gitarrist Malcolm Young hat seine letzte Fahrt auf dem "Highway to Hell" angetreten: Mit 64 Jahren ist "die beste rechte Hand des Rock'n'Roll" nun gestorben, wie ihn Frank Schäfer auf ZeitOnline würdigt. Sein Spiel bildete "die Essenz" der australischen Hardrock-Band: "Hier herrscht eine Ökonomie, die noch jedem einzelnen Akkord Bedeutung beimisst. Hier macht es noch einen Unterschied, ob der letzte Ton vor dem Chorus gedämpft, abgestoppt oder stehen gelassen wird, weil er aufgeladen ist mit kompositorischer Bedeutung, weil die Dramaturgie zum Teufel wäre, weil man den Fehler sofort hören würde, wenn der Rhythmusgitarrist sich im Modus vergriffe." Und gerade dieser Rhythmusgitarrist war es, der "dem Publikum den Gedanken gab, noch zwischen den Backen eines Schraubstocks tanzen zu wollen", wie Kristof Schreuf in der taz schreibt. Im Standard geht Christian Schachinger auf die Knie vor Youngs "modifizierter, weitgehend ohne Effekte und unverzerrt gespielter Gretsch-Gitarre." Weitere Nachrufe schreiben Ueli Bernays (NZZ), Jakob Biazza (SZ), Harry Nutt (FR) und Edo Reents (FAZ).



Für die SZ porträtiert Andrian Kreye den aus dem Hiphop stammenden Jazzsaxofonisten Terrace Martin, der derzeit mit Herbie Hancock tourt. Mit Hancock wiederum zum Gespräch für die Zeit getroffen hat sich Christoph Dallach. Mit vorsichtiger Skepsis wirft der Jazz-Altmeister einen Blick auf neueste technologische Errungenschaften, die den Mensch als Komponisten aus der Musik zusehends hinauskomplimentieren: "Letztlich wirft so etwas für die Zukunft ganz andere, ziemlich radikale Fragen auf. Wer hält das Copyright an der Musik? Die Maschine? Der Entwickler? Eine Firma? Hat ein kreativer Android Rechte? ...  Ein Teil meines Verstandes betrachtet diese Entwicklung mit zögerlichem Erstaunen, die andere Hälfte meines Hirns erkennt darin eine atemberaubende Möglichkeit für die Zukunft."

Weiteres: Ueli Bernays schreibt in der NZZ eine kleine Geschichte des Schock-Rocks von Alice Cooper bis zu Marilyn Manson. Beim Berliner Tributabend zu Ehren von Morton Subotnicks vor 50 Jahren erschienenen Albums "Silver Apples of the Moon" von Subotnick erlebte tazler Robert Miessner "Farben und Formen, von denen man dachte, die gibt's doch nicht." Verdenken kann man es ihm nicht:



Besprochen werden das neue Morrissey-Album (Tagesspiegel), ein Bruckner-Konzert des Tonhalle-Orchesters unter Franz Welser-Möst (NZZ), ein von Juraj Valcuha dirigierter Ginastera-Prokofjew-Rachmaninow-Abend in Berlin (Tagesspiegel) und ein Münchner Chopin-Abend mit Daniil Trifonov (SZ).
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Architektur

"Wir Architekten haben null Macht!", winkt der der österreichische Architekt Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au im SZ-Interview mit Laura Weissmüller Nachfragen zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen auf Großbaustellen ab, für die jüngst das Louvre Abu Dhabi oder die Fußballstadien in Katar in die Kritik geraten waren: "Wir Architekten sind die Sardinen am Ende der Nahrungskette - ohne Schwarmintelligenz. Schauen Sie: Wir Architekten werden engagiert, die Baufirmen werden engagiert. Wir sitzen zwar bei den Verhandlungen dabei, aber am Ende wissen wir nicht einmal, was das Ganze gekostet hat. Das sagt uns ja niemand. Die Bauwirtschaft ist neben dem Waffenhandel die kriminellste Wirtschaft, die man sich vorstellen kann."

Für die Welt hat Bettina Schneider einen Artikel von Jose Angel Montanes von El Pais übersetzt, der sich Antoni Gaudis erstmals nach 130 Jahren eröffnete Casa Vicens angesehen hat: "Denjenigen, die an Bauten von Gaudí gewöhnt sind, an seine Architektur, in der geschwungene Formen gegenüber Ornamentierung dominieren, wird dieses Haus des Architekten eigenartig vorkommen. Diese bunte Fassade, die von der orientalischen oder maurischen Architektur von Gebäuden wie der Alhambra in Granada inspiriert wurde und in einem tiefen Rot gehalten ist, aus dem dann wiederum die mit Tagetes dekorierten orangefarbenen Fliesen hervorstechen, erinnert in keinster Weise an die Pedrera oder auch die Casa Batlló."
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Bühne

Bild: Szene aus "Versetzung". Arno Declair.

Überwiegend zufrieden berichten die Kritiker von Brit Bartkowiaks Uraufführung von Thomas Melles Stück "Versetzung" über den Abstieg eines manisch-depressiven Lehrers im Deutschen Theater Berlin. Im Tagesspiegel meint Patrick Wildermann: "Wie sich dem die Welt auflöst, das erzählt Melle mit beklemmender Unaufhaltsamkeit und einem ganz eigenen, von schmerzhafter Erfahrung befeuerten Humor." Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) lobt: "So erschütternd die Erfahrung der Verlassenheit, des Nichtswissen- und Nichtsteilenkönnens sein mag, im Theater macht man sie gemeinsam und hat den Befund damit für einen Moment widerlegt." Nachtkritiker Michael Wolf hätte sich allerdings etwa mehr "Pathos" gewünscht: "Als der Patient vollkommen verstört schreit, wütet und dichtet, da gluckst der Saal amüsiert. Ein Irrer halt. 'Ist man ein Opfer, ist die ganze Welt Täter', heißt es am Ende." In der FAZ bespricht Jürgen Kaube das Stück.

Bild: Szene aus "Ein Volksfeind". Burgtheater. Georg Soulek

Der erhobene Zeigefinger in Jette Steckels Inszenierung von Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" in der Glyphosat- und Abgasskandale thematisierenden Neufassung von Frank-Patrick Steckel am Wiener Burgtheater scheint die Kritiker ziemlich genervt zu haben. Im Standard ärgert sich Ronald Pohl über ein "vulgär-ökologisches" Stück, in dem Thomas Meyerhoff die Zuschauer für ihre Passivität schließlich als "Arschlöcher" beschimpft: "Man wünscht sich weit weg, so sehr schämt man sich für die Inszenierung, die natürlich nur hehre Absichten verfolgt." Zuvor hat Ronald Pohl im Standard noch ein Interview mit der Regisseurin über Nachhaltigkeit und die "Stolperfallen des politischen Bewusstseins" geführt: "Ich habe mich die letzten Tage in einem Stockmann'schen Konflikt befunden, als wir das Programmbuch für unsere Produktion zusammengestellt haben. An dessen Ende wird für einen Hauptsponsor dieses Theaters geworben, einen großen Autohersteller. Sobald mich das persönlich angeht, als jemanden, der an diesem Haus arbeitet und noch dazu dieses Stück inszeniert, ist das ein Problem."  In der Presse fühlt sich Norbert Mayer "an penetrantere Versuche, die Kleinen zu belehren und zu besseren Weltbürgern zu machen" erinnert. "Originell", meint immerhin Nachtkritikerin Eva Biringer. In der FAZ fragt sich auch Martin Lhozky, für wie "naiv" Steckel ihr Publikum eigentlich hält.

Heinz Strunks Roman "Der goldene Handschuh" über den Frauenmörder Fritz Honka wurde vergangenes Jahr in den Feuilletons gefeiert. Weniger euphorisch besprechen die Kritiker hingegen die Inszenierung, die Strunk nun mit seinen Studio Braun Kollegen Jacques Palminger und Rocko Schamoni mit Charly Hübner in der Hauptrolle am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt haben. Zu viel "plump provozierte Lust am Ekelhaften" erlebt Nachtkritikerin Katrin Ullmann. Hier werde "Suff, welkes Fleisch, wabbelige Lebensreste, perverse Lust und wütendes Morden auf die große Bühne gehievt." Präzision und Feinsinn des Roman fehlen auch taz-Kritikerin Eva Behrends: "Genauso wenig Rücksicht nimmt das Trio auf all die Diskriminierungsdebatten, die das Theater die letzten Jahre geführt hat: Die geschmeidigen Tresensprüche und Herrenwitze, die rund um den Handschuhtresen gekloppt werden, sind brachial authentisch in ihrem Sexismus, Rassismus, im Schwulen- und Selbsthass. Geschenkt." In der SZ findet Till Briegleb die Inszenierung insgesamt verdienstvoll: "Sie zeigen, dass diese Alkoholiker-Welt nicht nur Elend, Verwahrlosung und Depression vereint, sondern auch Glück, Freude und Heimat. Jeder Mensch hat ein anderes Herdfeuer, das ihn wärmt."

Weiteres: Dort wo Juli Zeh in ihrem Roman "Unter Leuten" "sanft" ironisiert und "geschickt" konstruiert, entdeckt Nachtkritiker Henryk Goldberg in der gleichnamigen Inszenierung von Jenke Nordalm am Theater Weimar nur "Banalitäten" und "Plattitüden". Besprochen werden Phillipp Preuss Inszenierung "König Ubu # Am Königsweg" am Theater an der Ruhr (Nachtkritik), Lisa Nielebocks Inszenierung "Die Orestie" am Schauspielhaus Bochum (Nachtkritik), Andreas Dömötörs Inszenierung "Hiob" am Schauspielhaus Graz (Nachtkritik), Carsten Ramms Inszenierung von Hans Schweikarts "Es wird nicht so schlimmm!" an der Badischen Landesbühne (Nachtkritik) und Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung von George Orwells "1984" am Wiener Volkstheater (Nachtkritik).
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Film

Nur empfehlen kann Freitag-Kritiker Matthias Dell Can Candans über Online-Videotheken beziehbaren Dokumentarfilm "Duvarlar" von 1991, in dem der aus den USA eingereiste Filmemacher türkischer Herkunft die Lage der Türken in Berlin nach dem Mauerfall perspektiviert - möglich machten es Zuschüsse von US-Universitäten. "Alles ist schon da. Alle Diskurse, die politisch aktuell noch von Belang sind, kommen in Candans Essay vor." Auf Vimeo gibt es einen Ausschnitt:



In der Zeit sprechen Anne Hähnig und Doreen Reinhard mit der Filmemacherin Sabine Michel, die für ihren Porträtfilm über drei Pegidisten - zwei von ihnen sind im Zeit-Gespräch ebenfalls vor dem Mikro - beim Festival DOK Leipzig starker Kritik ausgesetzt war. Sie sagt: "Ich wollte nicht die Nächste sein, die auf Pegida-Demonstranten guckt und sagt: Die haben doch den Schuss nicht gehört. Nein, ich wollte verstehen, was diese Menschen umtreibt."

In den USA hat ein Filmverleiher Louis C.K.s neue, angesichts der Missbrauchsvorwürfe gegenüber C.K. auf einmal in einem anderen Licht erstrahlende Komödie "I Love You, Daddy" in den Giftschrank verbannt. Falsche Strategie, meint Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh: "Man sollte auch weiter über diese Filme reden. Denn wenn man sie in Tresors sperrt, werden daraus nur Gespenster." Einen Ausschnitt gibt es auf Youtube:



Außerdem: Deutschlandfunk Kultur bringt Arnold Stadlers und Oliver Sturms Hörspiel "Evangelium Pasolini" über den Film "Das 1. Evangelium nach Matthäus" des italienischen Autorenfilmers. Besprochen wird eine Netflix-Doku über Jim Carrey und dessen Vorbild Andy Kaufman, den er in Milos Formans "Der Mondmann" verkörperte (SZ).
Archiv: Film

Literatur

"Drop me a no­te, and I ho­pe that we can meet again. Af­ter my dead­ly exis­tence he­re, I'm bad­ly in need of a bi­zar­re poe­tess", schrieb Henry Kissinger 1956 in einem Brief an Ingeborg Bachmann. Ausfindig gemacht hat das Zitat Ina Hartwig, die für ein neues Buch über die österreichische Dichterin Archive und Erinnerungsvermögen des ehemaligen US-Außenministers anzapfen konnte. In den 50ern hatte er, damals in erster Ehe verheiratet, Bachmann nach Harvard geholt - und im Anschluss daran offensichtlich eine Affäre über Ozeane und politische Meinungsunterschiede hinweg mit ihr gepflegt, wie einem Vorabdruck aus dem Buch aus Hartwigs Buch in der FAZ zu entnehmen ist. "Auf sei­nen Eu­ro­pa­rei­sen, über de­ren Ver­lauf er sie de­tail­liert in­for­miert, ver­sucht er im­mer wie­der, ei­ne Lü­cke im Ka­len­der zu fin­den, da­mit man sich zum Bei­spiel in Pa­ris oder in Rom tref­fen kön­ne: 'I can't ima­ging vi­sit­ing Eu­ro­pe wi­thout see­ing you.' (Brief vom 27. Au­gust 1957) Und min­des­tens ein­mal, eher zwei- oder drei­mal, scheint das ge­klappt zu ha­ben."

Weiteres: Lennart Laberenz porträtiert für den Freitag die Schweizer Nachwuchs-Schriftstellerin Julia Weber. Im Freitag sorgt sich Thomas Wörtche um das Schicksal des Krimi-Verlags Polar, der vor kurzem Insolvenz anmelden musst. In München diskutierte Schriftsteller F.C. Delius über "die Tücken autobiografischen Schreibens", berichtet Nicolas Freund in der SZ.

Besprochen werden John le Carrés "Das Vermächtnis der Spione" (Freitag), Zadie Smiths "Swing Time" (Berliner Zeitung), Melinda Nadj Abonjis "Schildkrötensoldat" (FR), Carlos Spottornos und Guillermo Abrils Comicreportage "Der Riss" über die Situation der Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU (SZ), Christophe Boltanskis "Das Versteck" (NZZ) und eine von 1400 Sprechern eingelesene Hörbuchversion von David Foster Wallace' Roman "Unendlicher Spaß", deren Vollversion man sich hier in Form einer schlanke 10 Gigabyte umfassenden Datei herunterladen kann (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Ilma Rakusas "Die marokkanische Schale":

"Du hältst sie in der Hand,
sie füllt deinen Handinnenraum.
..."
Archiv: Literatur

Kunst

FAZ-Kritiker Georg Imdahl weiß nach der Ausstellung des Post-Internet-Künstlers Seth Price im Museum Brandhorst, weshalb er es vorzieht, Price' auch online verbreitete Werke nicht im Internet anzuschauen: "Ei­ne Aus­stel­lung live zu be­su­chen be­deu­tet eben auch, ih­re Schwä­chen zu er­ken­nen und ih­re Stär­ken. Letz­te­re lie­gen in den An­fän­gen die­ses Werks. Ein Fern­se­her steckt, noch ori­gi­nal ver­packt, in Kar­ton und Sty­ro­por, ein pro­vo­zie­rend be­lang­lo­ses Sieb aus Lö­chern gibt nach und nach den Blick auf grau­sa­me Ver­stüm­me­lun­gen frei, die zu ei­nem Ge­qua­ke aus dem Syn­the­si­zer über die Matt­schei­be flim­mern. Gro­ße trans­pa­ren­te Schutz­fo­li­en aus Po­ly­es­ter sind an die Wand ge­pinnt und win­den sich in den Raum, dar­auf sind Stills aus ei­nem Vi­deo der Ent­haup­tung des Amerikaners Da­ni­el Pearl ge­druckt - pa­kis­ta­ni­sche Na­tio­na­lis­ten hat­ten den Jour­na­lis­ten 2002 ge­fan­gen ge­nom­men und hin­ge­rich­tet, um ih­re Tat im Netz pro­pa­gan­dis­tisch aus­zu­schlach­ten." Bild: Seth Price.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Geburt des Kunstmarkts. Rembrandt, Ruisdael und die Künstler des Goldenen Zeitalters" im Bucerius Kunst Forum Hamburg (taz) und die Ausstellung "Form Follows Flower" im Berliner Kunstgewerbemuseum (taz)


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