Efeu - Die Kulturrundschau

Japanischer Barbecue-Finger

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.02.2019. Die SZ lernt in Kunsthalle Wien von Annette Kelm, dass Konzeptkunst auch strahlend bunt sein kann. Der Guardian erlebt, wie Tracey Emins Kunst einen neuen Grad an brutaler Ehrlichkeit erreicht. Die NZZ begleitet das literarische Ungarn auf einem Gedenkmarsch für Endre Ady durch die bittere Kälte Budapests. Und Critic.de gibt erste Empfehlungen für die morgen Abend eröffnende Berlinale.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2019 finden Sie hier

Kunst

Annette Kelm: Still Life with Spring, 2017, Courtesy Annette Kelm, König Galerie, Berlin, Andrew Kreps, Gallery, New York und Gió Marconi, Mailand

Catrin Lorch stellt in der SZ die Fotografin Annette Kelm vor, die mit attraktiv anmutenden Bildern immer auch einen Überschuss an Sinn produziere und derzeit in der Kunsthalle Wien gezeigt wird: "Die Fotografie der Annette Kelm, das wird in Wien sichtbar, bezieht sich nicht nur auf Kunstgeschichte, sondern auch auf Ökonomie, die Wissensgesellschaft und Industriekultur. So knüpft die Künstlerin an das Werk der Generation von Allan Sekula, Harun Farocki oder Christopher Williams an. Doch hat sich dieses Werk von dem Gedanken verabschiedet, dass konzeptuelle Kunst karg, zeichenhaft und zurückgenommen auftritt - die Fotografien sind strahlend bunt, bestechend attraktiv, großformatig und wagemutig."

Tracey Emin: A Fortnight of Tears, Ausstellungsansicht. Foto: White Cube Bermondsey.

Kraftvoll, gewaltig, erschütternd findet Hettie Judah Tracey Emins in ihrer neuen Ausstellung "A Fortnight of Tears" im White Cube Bermondsey in London, wo sich ihr der Schmerz und die Trauer der Künstlerin offenbaren: "Emin ist heimgesucht, doch das Malen bietet wenig in Sachen Exorzismus. Die grauenvolle, stümperhafte Abtreibung, die sie 1990 hatte, die Vergewaltigungen, die sie als Teenager erleiden musste, der Tod ihres Vaters - das alles ist noch hier, brutal und in den Eingeweiden. Hinzu kommt ein Mix aus neuer Trauer - der Tod der Mutter - und aufgestauten Schichten aus vertaner Liebe und verratenem Vertrauen... Emin ist zu einer Bekenntniskünstlerin geworden, sie nutzt das Rohmaterial des Selbst: den Körper und die Seele. Ihre Arbeit bleibt eine Antwort auf den seltsam gehemmten Stoizismus britischer Respektabilität. Auf dieser Stufe ihrer Karriere, da sie die Grenzen ihres Könnens immer weiter ausdehnt, erscheint die brutale Ehrlichkeit nicht mehr bekenntnishaft, es geht vielmehr darum, die dezidiert weibliche Tragik als Thema großer Kunst geltend zu machen."

Weiteres: Stefan Trinks freut sich in der FAZ, dass das Berliner Kupferstichkabinett seinen Bestand um Adolph Menzels Pastell "Die Schlittschuhläufer" bereichern konnte. Eckhart Gillen besucht für den Tagesspiegel das neue von Daniel Libeskind entworfene Modern Art Museum in Vilnius.

Besprochen werden Rossella Biscottis Videoinstallation "The City", die Ausgrabungsarbeiten im südanatolischen Çatalhöyük in der Nähe von Konya dokumentiert und in der DAAD-Galerie Berlin zu sehen ist (taz) und die von Wes Anderson kuratierte Schau Ausstellung "Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures" im Kunsthistorischen Museum Wien (NZZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Das literarische Ungarn hält sich am Dichter Endre Ady fest, der vor hundert Jahren gestorben ist, berichtet Wilhelm Droste in der NZZ. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs galt Ady als Symbol für einen Neubeginn: "Die Souveränität des Endre Ady strahlt bis in die heutige Zeit, weil er sich von niemanden vereinnahmen ließ. Die reaktionäre Rechte griff er mutig und offen an, die linken und liberalen Freunde schüttelte er immer wieder ab. Auch auf ihre Positionen wollte er sich nicht reduzieren lassen. Für die politische Mitte war seine Lebensführung zwischen Eros und Alkohol abstossend provokativ. Der absolut Heimatlose aber suchte sprachlich wie auch biografisch nach Ankunft. Das machte ihn, der sich mit nichts bleibend identifizieren konnte, zu einer Identifikationsfigur aller Suchenden."

Weiteres: Im Logbuch Suhrkamp erzählt Krimi-Autorin Simone Buchholz sehr schön vom Abenteuer einer flüchtigen Nacht und einer daraus folgenden, ebenso flüchtigen Freundschaft, die sich allmählich festigt. Marion Löhndorf würdigt in der NZZ Charles M. Schulz' Cartoonklassiker "Peanuts", dessen Welt bevölkert ist von "Wiederholungstätern und Unglückssüchtigen". In der NZZ erinnert sich die Schriftstellerin Dana Grigorcea an ihre Lektüren von Otfried Preusslers "Die kleine Hexe". In Magnus Klaues böser Jungle-World-Kolumne "Lahme Literaten" ist diesmal die Dichterin Ursula Krechel fällig. Katrin Hillgruber schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Schriftstellerin Leonie Ossowski.

Besprochen werden unter anderem ein von Arte online gestelltes Filmporträt über T.C. Boyle (FAZ), ein Abend mit dem Dichter Adam Zagajewski in Berlin (FAZ), Günter Kunerts bereits in der DDR verfasster, aber erst jetzt veröffentlicher Roman "Die zweite Frau" (Berliner Zeitung), Kristen Roupenians "Cat Person" (Standard), Jan Drees' "Sandbergs Liebe" (ZeitOnline), Matthias Nawrats "Der traurige Gast" (Welt), neue Comics von Frida Nilsson und Mikael Ross (NZZ), Joan Didions Gesprächsband "Dinge zurechtrücken" (SZ) und ein Band mit Samuel Becketts späten Briefen (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Mehr Dimension, mehr Dunkelheit: Ricky Shayne.

Morgen beginnt die Berlinale: Die Kritikerinnen von critic.de waren wieder fleißig und haben in den Vorab-Pressevorführungen der Nebensektionen eifrig Filme gesichtet und einen bunten Strauß an Empfehlungen zusammengeschnürt: Unbedingt sehen sollte man zum Beispiel Bette Gordons "Variety" von 1983, der als 35mm-Kopie gezeigt wird, schreibt Frederika Horstmann: Der Film "ist ein Kopieglück mit betörenden Blow-up-Farben." Zu sehen gibt es "großartige NYC-Ansichten von Pornokinos rund um den Times Square, von Fischmärkten, Bars und Straßenzügen." Philipp Schwarz hatte in Jonah Hills autobiografischem Regiedebüt "Mid90s" viel Freude: "Immer wieder scheint die Euphorie des Heranwachsens durch." Und Silvia Szymanski wird im Forum Expanded bei Stephan Geenes "SHAYNE" über den Popsänger Ricky Shayne nervös: Der Sänger sprengte damals "das Format der ZDF-Hitparade mit seiner rauen Bluesstimme, seiner auffälligen männlichen Schönheit, musikalischen Glaubwürdigkeit und echtem Glanz. Nichts gegen Schlager, die das Gegenteil verkörpern. Aber Shayne war anders. Mehr Dimensionen. Mehr Rebellion. Und auch mehr Dunkelheit."

Ziemlich spannend klingt auch, was Regisseurin Mariam Ghani im Dlf Kultur über ihren Film "What we left unfinished" (Forum) erzählt, in dem sie sich mit unvollendeten Filmen der afghanischen Filmgeschichte befasst: Da die Filmruinen noch nicht durch den Flaschenhals der Zensur gegangen sind, "sieht man darin auch subversivere Szenen als in anderen Filmen, die vollendet worden sind. Die Realität der Zeit wird viel authentischer wiedergespiegelt." Ein paar kleine Eindrücke hat sie auf Vimeo gestellt:



Besprochen werden Peter Demetz' Buch "Diktatoren im Kino. Lenin, Mussolini, Hitler, Goebbels, Stalin" (Tagesspiegel) und Etan Coens Komödie "Holmes & Watson" mit Will Ferrell und John C. Reilly (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

In der NZZ plaudert Daniele Muscionico mit dem Schweizer Kabarettisten und Autor Franz Hohler über dessen neues Stück "Cafeteria", die Kunst des optimistischen Pessimismus und die Frage, warum es eigentlich kaum konservatives Kabarett gibt. Hohlers Vermutung: "Weil sich die Rechte stärker um die Erhaltung der bisherigen Werte bemüht, ist sie als Ziel der Satire interessanter. Der Schriftsteller Jörg Steiner sagte einmal: 'Bei uns kann jeder frei seine Meinung sagen, wenn er bereit ist, die wirtschaftlichen Konsequenzen zu tragen.' Das gilt wahrscheinlich sowohl für sogenannt rechte als auch für linke Ansichten. Mir wurden auch einmal ein Literaturpreis verweigert und eine Fernsehsendung gestrichen."

Weiteres: Im Dienste der Tourismusbehörde durfte FAZ-Kritiker Jan Brachmann die Bayreuther Festspiele zum "Walküren"-Gastspiel nach Abu Dhabi begleiten und das Emirat von seiner cremigsten Seite erleben: "'Für uns Frauen ist es hier wunderbar", sagt Khalfallah. Besprochen werden Falk Richters eindringlicher Abend "I am Europe" am Thalia Theater in Hamburg (SZ), Tatjana Gürbacas Inszenierung von György Ligetis "Le Grand Macabre" in Zürich (die FAZ-Kritiker Stephan Mösch "phantasievoll und meisterhaft" nennt) und die "Sieben Todsünden" von Brecht/Weill und mit Peaches (FR).
Archiv: Bühne

Musik

DJ Marshmellos zehnminütiges, von 11 Millionen Menschen besuchtes virtuelles Konzert im Computerspiel Fortnite mag vielleicht nicht das allererste seiner Art gewesen sein, aber mit seiner ADHS-Überwältigungsästhetik stellt es einen pophistorischen Quantensprung dar, hält Jürgen Schmieder in der SZ fest. "Popkultur muss sich entwickeln, sonst wird sie langweilig, belanglos, irrelevant. ... Mit der schnellen Entwicklung von Technologien wie Virtual und Augmented Reality, mit immer höheren Übertragungsgeschwindigkeiten, perfekteren Grafikkarten und dem neuen Kulturverständnis einer digitalen Jugend, war dies sicher nur ein Anfang." Hier der Auftritt:



Tazlerin Stephanie Grimm entspannt zu Paul Webbs neuem, unter dem Künstlernamen Rustin Man veröffentlichten Album "Drift Code", für das der ehemalige Bassist von Talk Talk sich in eine Scheune zurückgezogen hat. Zu hören gibt es "eine tolle Ansammlung von Songs. ... Das Album wirkt zugleich luftig und gewichtig, manchmal progrocky ausufernd, zugleich aber leicht und jazzig - eine Einladung zum Sichtreibenlassen." Wir treiben mit:



Von einem Missgeschick der US-Musikerin Ariana Grande berichtet Jan Kedves in der SZ-Popkolumne: "Grande wollte sich '7 Rings' in japanischen Kanji-Schriftzeichen auf die Hand tätowieren lassen, offenbar ging dabei etwas schief. Japaner erkannten auf Twitter, dass das Tattoo bedeutet: kleiner Barbecue-Grill. Grande ließ den Fehler (absichtlich?) verschlimmbessern, und nun steht da: japanischer Barbecue-Finger."

Weitere Artikel: Karl Fluch erinnert im Standard an den vor 60 Jahren gestorbenen Buddy Holly, mit dem der Typus des Nerds Einzug in die Popgeschichte hielt. Besprochen werden Oliver Schwabes Dokumentarfilm "Asi mit Niwoh" über Jürgen Zeitlinger (taz, Filmdienst), Ernie Brooks' Konzert in Berlin (taz), die Compilation "Music Inspired by the Film Roma" (Pitchfork), Mikhail Pletnevs Auftritt beim Kammerorchester Basel (NZZ) und Annenmaykantereits Konzert in Wien (Presse) und "Sunshine Rock", das neue Album des früheren Hüsker-Dü-Sängers und -Gitarissten Bob Mould "Sunshine Rock" (Pitchfork). Daraus das aktuelle Video:

Archiv: Musik