Efeu - Die Kulturrundschau

Die Bodenständigkeit der Kartoffelnasen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2019. In der SZ erzählt Werner Herzog, wie er Musikern das Schweben beibrachte. Außerdem erlebt sie an der Pariser Oper, wie bei Crystal Pite Männer ohne jede Lieblichkeit zu Tode getanzt werden. Die taz lernt von Zach Bas, dank Body Hacking ihre Produktivität zu erhöhen. Die Nachtkritik pfeift mit Jürgen Kruse auf Düsternis und Tristezza und kommt glücklich aus Ödon von Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung". In der NZZ fürchtet Nick Cave, dass mit der Woke-Kultur der wilde, renitente Geist der Jugend flöten geht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2019 finden Sie hier

Film

In der SZ unterhält sich Reinhard J. Brembeck mit Werner Herzog und dessen Haus- und Hof-Komponisten Ernst Reijseger über das Verhältnis von Film und Filmmusik. Herzog zeigt sich hier einmal mehr von seiner bescheidenden Seite (es gebe "kaum jemanden, der so gut ist wie ich") und meint demütig: "Manchmal macht die Musik Dinge sichtbar und erfahrbar, die ohne Musik nicht so zu erfahren wären." Bei den Aufnahmen der Filmmusik ist Herzog auch gerne physisch anwesend: "Ich bin mitten zwischen den Musikern. Als wir für 'The White Diamond' in Paris aufgenommen haben, hatte das auf einmal viel zu viel motorische Energie. Ich bin vorsichtig aufgestanden und habe meine Arme ausgebreitet und so Flügelschwebebewegungen wie von einem großen Vogel gemacht. Die Musiker sahen mich und haben sofort dieses große Schweben mitgemacht. Es war nicht so, dass ich dirigiert hätte. Es war ein Hinweis: Ihr seid zu motorisch, mit einer Dynamik, die hier nicht hergehört." Einen Auszug der Musik gibt es in dieser wunderbaren Passage aus dem Film, in der Herzog sich anderthalb Minuten lang von hinter einem Wasserfall nistenden Schwalben mitreißen lässt (hier das Stück in voller Länge:



Weiteres: Im Filmdienst bekräftigt Rüdiger Suchsland seine Forderung, dem Kulturkampf von Rechts mit einer künstlerischen Neuausrichtung der Filmförderung entgegen zu treten (mehr dazu bereits hier). Gunda Bartels wirft im Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Dokumentarfilm-Festivals in Leipzig, das gestern eröffnet wurde. Stephan Ahrens empfiehlt in der Jungle World die Reihe im Österreichischen Filmmuseum über europäische Partisanenfilme. (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden Jessica Hausners "Little Joe" (Presse) und Jonathan Glazers neuer, von der BBC überraschend ausgestrahlter Experimental-Kurzfilm "The Fall" (SZ, Guardian).
Archiv: Film

Kunst

The Doors. Video Still. © Zach Blas 2019

Ziemlich aufregend findet Mira Nass die "The Unknown Ideal" des Künstlers Zach Blas, der im Edith-Ruß-Haus in Oldenburg die soziopolitischen Transformationen der Digitalisierung auslotet, dabei aber nie, wie Nass betont, in technikfeindliches Gemaule zurückfällt, sondern Gegenstrategien sucht und an die Utopien der Anfangszeit des Internets anknüpft. "Als Ausgangspunkt dient ihm das Phänomen der Nootropika. Diese sogenannten intelligenten und legalen Drogen stellen für die Elite der Tech-Worker im Silicon Valley eine ideale Möglichkeit des 'Body-Hackings' dar. Dabei geht es vor allem um die Anhebung der menschlichen Produktivkraft. Das steht im Kontrast zum Trip als kollektiver Rauscherfahrung und Rückzug aus dem Alltag eines kapitalistischen Gesellschaftssystems, wie ihn die kalifornische Gegenkultur der 1960er Jahre propagierte. In konkreter Anlehnung an diesen Wandel des gesellschaftlichen Drogengebrauchs setzt er in großangelegten immersiven Installationen wie 'The Doors' (2019) psychedelisch anmutendes Bild- und Tonmaterial ein, dessen Inhalt von Systemen künstlicher Intelligenz entwickelt wurde."

Anthonis van Dyck: Porträt der Isabella Brant, 1621.
In der FAZ führt Stefan Trinks durch die große Schau des barocken Porträtmalers Anthonis van Dyck in der Alten Pinakothek in München, der sich erkennbar von seinen Zeitgenossen abhob: "Van Dycks Serie von Apostelköpfen etwa scheint vor erdiger Bodenständigkeit der Kartoffelnasen zu dampfen und zu atmen - für den ätherischen Rubens undenkbar." Im Guardian spießt Jonathan Jones den jüngsten Versuch auf, in van Dycks Porträt von Rubens' Frau Isabella Brant Hinweise auf seine Liebe zu ihr zu entdecken.

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Christine Peitz, dass in Weimar eine Mauer-Kunstaktion ganz ohne Proteste vonstatten geht. In der FAZ gratuliert Freddy Langer der Fotografin und Ostkreuz-Gründerin Ute Mahler zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung der britischen Videokünstlerin Elizabeth Price in der Whitworth Gallery in Manchester (Guardian), die Rassismus-Collagen der norwegisch-nigerianischen Künstlerin Frida Orupabo im Frankfurter Portikus (FR), eine Schau des Mystikers Domínikos Theotokópoulos, genannt El Greco, im Grand Palais von Paris (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Blödsinnig glücklich: Linda Pöppels und Manuel Harder in "Glaube, Liebe, Hoffnung" am DT. Foto: Arno Declair

Gabi Hift gehört zu den Fans des Regisseurs Jürgen Kruse, der landläufige Erwartungen ans Theater hübsch unterläuft: "Es ist, wie wenn man statt eines Champignon-Omeletts ohne Vorwarnung Magic Mushrooms vorgesetzt bekäme." Seine Inszenierung von Ödön von Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung" am Deutschen Theater findet sie nicht immer ganz rund, aber trotzdem großartig: "Es wirkt also, als zöge der böse satirische Horvath auf der einen, der sanftere mystischere Kruse auf der anderen Seite an den Schauspieler*innen. Erst in der Beziehung zwischen Linda Pöppels Elisabeth und Manuel Harder als Schupo Alfons Klostermeier geht das auf. Die beiden sind Kruses angestammtes Traumpaar und sie sind virtuos. Er ist ein dumber, eitler Kerl, sie ist nur bei ihm, weil sie keine andere Chance mehr hat. Die ganze Romantik spielen sie einander nur vor - aber dann wird plötzlich auf Horvaths Düsternis und Tristezza gepfiffen: Elisabeth kommt im Hippiekleid herein, aus den Boxen dröhnt 'Like a rainbow', und sie tanzen und hüpfen über Bett und Tisch und Stühle. Eine große, kindliche, völlig unvorbereitete Unio mystica ist da zu sehen und man weiß genau: Das stimmt, sowas gibt's, dass man auf einmal für einen Song lang ganz blödsinnig glücklich ist miteinander - auf einer anderen Existenz-Ebene." Auch auf  Tagesspiegel-Kritikerin Christine Wahl verfehlt der Trip seine Wirkung. Ulrich Seidler erlebt in der Berliner Zeitung das Stück wie einen bösen Traum.

Crsytal Pites "Body and Soul" an der Opéra national de Paris. Foto: Julien Benhamou

Als formidabel feiert Dorion Weickmann in der SZ die kanadische Choreografin Crystal Pite, die nichts von Routinearbeiten hält, dafür aber Flüchtlingskrise, ethnische Säuberungen oder den Verlust eines Kindes zum Thema ihrer Arbeiten macht: "Mit dem Pariser Opernballett erkundet die 48-Jährige nun Aggregatzustände von 'Body and Soul' zwischen Liebe, Hass und Zorn. In drei Akten bewegt sich das Stück vom alltäglichen Zwist- und Kriegsgeschehen zurück ins 19. Jahrhundert und in die romantische Hochphase des Balletts. Die seinerzeit in Paris uraufgeführtem Meisterwerke, etwa 'La Sylphide' oder 'Giselle', verzauberten das Publikum mit weiß verschleierten Geisterwesen, deren Mission es war, Männer zu Tode zu tanzen. Solchem Spuk treibt Pites schamanenhaftes Schlusstableau alle Lieblichkeit aus."

Besprochen werden Christian Stückls Inszenierung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig"  am Münchner Volkstheater (die Christine Dössel in der SZ klug gegen alle antisemitischen Tendenzen fokussiert nennt) und Beethovens "Fidelio" in Darmstadt (FR).
Archiv: Bühne

Design

Der Möbeldesigner Rafael Horzon möchte es Wikipedia zur Not auf juristischem Weg verbieten lassen, ihn als Künstler und Schriftsteller zu bezeichnen, berichtet Peter Richter in der SZ, der das vor dem Hintergrund eines zunehmend entgrenzten Kunstbegriffs ziemlich spannend findet. Horzon selbst jedenfalls findet es "total langweilig, immer weiter alles mögliche zu Kunst zu erklären. ... Es kann doch nicht sein, dass Wikipedia sich anmaßt, darüber zu entscheiden, wer Künstler ist und wer nicht! Das kann sowieso nur die Person, die für sich selber spricht. Wenn sich jemand als Künstler bezeichnet, ist er ein Künstler. Wenn sich jemand als Unternehmer bezeichnet, ist er zwar noch lange kein Unternehmer. Aber wenn sich ein Unternehmer als Unternehmer bezeichnet, ist er ein Unternehmer."
Archiv: Design

Literatur

In der NZZ kann Marko Martin es kaum fassen, dass ein "dezidiert linksliberal-pazifistisch gestimmtes Kulturmilieu, das sonst bei jeder Kritik islamistischer Infiltration freiheitlicher westlicher Lebenswelten verlässlich 'Islamophobie' schreit", in der Handke-Debatte die Bosnier und Sarajewo noch einmal verrät: "Spätestens dann, wenn Eugen Ruge in Handkes skandalösen Auslassungen - die, wie man inzwischen weiß, keinesfalls mit Milosevics Ableben endeten - eine vermeintlich berechtigte Kritik am 'Neoliberalismus' und an der 'Anmaßung des Westens' wahrnimmt, grüßen wieder die ewig Untoten einer rechts-links anschlussfähigen Zivilisationskritik und eines Kulturpessimismus, den bereits vor Jahrzehnten ein jüdischer Emigrant vor den Nazis, der Historiker Fritz Stern, eindringlich als politische Gefahr und Einfallstor für Demokratieverachtung und Geschichtsrelativismus beschrieben hatte. Verblüffend, wie wenig neu der derart freihändige Umgang mit Fakten ist." Die NZZ stellt außerdem ein altes Handke-Interview aus dem Jahr 2006 (dem Jahr des letzten großen Streits, unser damaliger Link des Tages) wieder online.

Das Kunst- und Literaturfestival Aké in Lagos gibt den feministisch-politischen Stimmen der Gegenwartsliteratur ein Forum, berichtet Katrin Gänsler in der taz. Unter anderem hatte Bernardine Evaristo einen Auftritt, die neben Margaret Atwood gerade mit dem Booker-Prize ausgezeichnet wurde - als erste schwarze Britin überhaupt. "In ihrem ausgezeichneten Buch 'Girl, Woman, Other' verwebt sie die Lebensgeschichten von zwölf schwarzen Frauen, die in Großbritannien leben. Sie sind jung, alt, haben studiert, stammen aus der Arbeiterklasse, sie sind lesbisch und heterosexuell. Das Buch ist Spiegel einer Teilgesellschaft, die bisher wenig Beachtung in einem Literaturbetrieb findet."

Weiteres: Im Dlf Kultur spricht Navid Kermani über seine Reise nach China, die er seinem Reisenbericht "Entlang den Gräben" beschrieben hat.

Besprochen werden John Le Carrés neuen Thriller "Federball" (für Freitag-Kritiker Jochen Vogt ist er etwas lang geraten: "Vermutlich wäre eine Art Novelle oder eine ausgedehnte Short Story das effektivere Format gewesen") Cemile Sahins Debütroman "Taxi" (taz), die dem Schriftsteller Hubert Fichte gewidmete Berliner Ausstellung "Liebe und Ethnologie" (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), Michael Martens' Biografie über den Schriftsteller und Diplomaten Ivo Andrić (die NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein, der dem Buch eine ausführliche Besprechung widmet, zeigt, dass in Zeiten totaler Unmenschlichkeit "selbst jene, die sich einfach nur vom Unheil fernhalten wollten, nicht schuldlos davonkommen konnten"), Joachim Kalkas "Staub. Ein Montage-Essay" (Standard), Jane Birkins "Munkey Diaries. Die privaten Tagebücher" (SZ) und Christiane Neudeckers "Der Gott der Stadt" (FAZ).
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Musik

Marc Neumann befasst sich in der NZZ mit Nick Caves kleinem Essay, in dem der Musiker sich mit der "woke"-Kultur der Gegenwart befasst, also der oft geharnischten Kritik insbesondere der jungen Generation an Sexismus und Rassismus. Dass Cave gegenüber den schrilleren Erscheinungen dieser Kultur eher skeptisch gegenüber steht, hat zu erwartbaren Wallungen geführt. Neumann sieht es differenzierter: Cave schlage vor, diesen "Kulturkampf als Generationenkonflikt zu verstehen. Wie wird dieser Konflikt ausgehen? Stirbt mit den alten Gen-Xern auch der wilde, renitente Geist ihrer Jugend? Oder ist 'Wokeismus' nur eine frühe Phase in der lebenslangen Entwicklung von Menschen, die mit zunehmender Altersweisheit zu Besonnenheit tendiert? Das Beispiel des ehemals Wilden Nick Cave (und anderer Gen-Xer wie etwa Bret Easton Ellis) suggeriert Letzteres und lässt milde die Möglichkeit aufleuchten, dass ein tolerantes Nebeneinander doch noch möglich ist. Die sensiblen Jüngeren werden besonnener, und die Älteren bewahren sich ein wenig von ihrer Wildheit: So ließe sich leben."

Weiteres: In der Rückschau ist "Unplugged" als die beste Nirvana-Platte anzusehen, meint David Bennun im Essay auf The Quietus zum 25-jährigen Jubiläum des Live-Albums. Besprochen werden das neue Album "Pyroclast" von Sunn o))) (Pitchfork), Neil Youngs gemeinsam mit Crazy Horse aufgenommenes Album "Colorado" (Standard), Manos Tsangaris' Buch "Jaki Notes - Hommage an/Homage to Jaki Liebezeit" (taz), Caroline Polacheks neues Album "Pang" (Standard), das Debütalbum der Essener Band Düsseldorf Düsterboys (Tagesspiegel), Kanye Wests neues Album "Jesus is King" (Pitchfork, mehr dazu bereits hier) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Offenbach-Aufnahme von Anne Gastinel und Xavier Philipps (SZ).

Und schöne Musik für den grauen Morgen: Der tolle Youtube-DJ MyAnalogJournal legt funkige Grooves aus Afrika auf:

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