Efeu - Die Kulturrundschau

In all dem Hauchen, Knacken, Summen

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18.11.2019. Sind wir im Innersten von Musik verlassen, fragt die Berliner Zeitung erschüttert nach Chaya Czernowins Oper "Heart Chamber". In der NZZ beklagt Salman Rushdie die Tragödie des nationalistischen Indiens. In der FAS bekundet Yasmina Reza ihre Abneigung gegen Eindeutigkeiten. Die SZ staunt über die Erotik, die Marsden Hartley bayrischen Alpen und preußischem Militarismus abgewinnen konnte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.11.2019 finden Sie hier

Bühne

Chaya Czernowins "Heart Chamber an der Deutschen Oper. Foto: Michael Trippel


An der Deutschen Oper in Berlin wurde Chaya Czernowins vierte Oper "Heart Chamber" uraufgeführt. Klinisch kühl, aber sehr aktuell findet Peter Uehling in der Berliner Zeitung, wie Czernowin das Beziehungsgeschehen auf der Bühne von allen gesellschaftlichen Rahmungen isoliert: "Man könnte 'Heart Chamber' als musikdramatisches Pendant zu den soziologischen Untersuchungen von Czernowins Landsfrau Eva Illouz verstehen, die das Schicksal der Gefühle im Kapitalismus untersucht: Ebenso isoliert wie hier wird die Liebe zum nervös befragten, mit Erwartungen überfrachteten Mittelpunkt der emotionalen Existenz. Dass sich in all dem Hauchen, Knacken, Summen kein musikalischer Ausdruck dafür findet, ist bemerkenswert und grausam. Wir scheinen im Innersten von Musik verlassen."

Eine Oper möchte Wolfgang Schreiber in der SZ das Werk nicht unbedingt nennen, eher eine Installation avantgardistischer Klangkunst, denn Musik und Drama fallen doch sehr weit auseinander, wie er meint: "Die Stärke von 'Heart Chamber' ist Chaya Czernowins märchenhaft raffinierte, präzise notierte Partitur, diktiert von einer empfindsamen musikalischen Fantasie, die sich die Verästelungen im Wachsen und Vergehen der Natur für ihr rauschendes Pandämonium der Klänge und Geräusche ausersehen hat." In der FAZ bleibt Christiane Tewinkel mokant auf Abstand zu den "regietechnischen Raffinessen", würdigt aber die "fantastisch feine, golddurchwirkte Instrumentalmusik". Gar nicht überzeugt zeigt sich Ulrich Amling im Tagesspiegel: In seinen Augen fehlt es Czernowins "auf Gänsehaut abzielendem Tonspur-Geknusper aller akribischen Klangplanung zum Trotz an Genauigkeit".

Besprochen werden Luk Percevals "erschütternde" Inszenierung von Eugene O'Neills Stück "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Shauspiel Köln (Nachtkritik, FAZ), Robert Ickes Inszenierung von Tschechows "Iwanow" (Nachtkritik), Sabine Auf der Heydes Adaption von Anke Stellings Bobo-Roman "Schäfchen im Trockenen" (Nachtkritik), Sebastian Nüblings Inszenierung von Navid Kermanis Musiker-Porträt "Das Buch der von Neil Young Getöteten" am Thalia Theater (Nachtkritik), Harry Mulischs "Entdeckung des Himmels" in Düsseldorf (SZ), Richard Wagners "Ring" von und mir dem inklusiven Ramba Zamba Theater in Berlin (taz), die Bühnenfassung von Lize Spits Roman "Und es schmilzt" am Schauspiel Frankfurt (FR), Adaptionen von Edouard-Louis-Romanen in Wien und Salzburg (Standard) sowie Mozarts "Entführung aus dem Serail" in Linz (Standard).
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Kunst

Marsden Hartley, Summer Clouds and Flowers, 1942. Brooklyn Museum


In der SZ freut sich Till Briegleb über die große Retrospektive, die das Louisiana Museum dem amerikanischen Künstler Marsden Hartley widmet. Hartley brach 1912 nach Europa auf und entdeckte zwischen Aix-en-Provence und Garmisch einen vor Erotik strotzenden Kontinent: "Obwohl Hartley ständig reiste und in aufwühlenden Metropolen wie Paris, New York und Berlin lebte, zeigen seine Bilder keine unmittelbaren Anzeichen von dem modernen Erregungszustand. Die Stadt fehlt in seinen Gemälden vollständig als Hintergrund und Motiv, Technik ist ebenso abwesend wie Modisches, den Mensch und sein Porträt entdeckt der amerikanische Weltreisende erst im Alter, und auch dann eher in neutralem Ausdruck. Hartley malt lieber Landschaften in menschlichen Rundungen, schäumende Küsten, die man auch für nackte Hintern halten darf, Herbstbäume rosafleischlich aufgerichtet, oder eben Abzeichen übersteigerter Männlichkeit, wie die von ihm in Berlin so bewunderten Symbole des Militarismus, die er zu einer ganzen Reihe körperähnlicher Strukturen aus Fahnen, Helmen, Abzeichen, Orden und Uniformteilen komponierte."

Weiteres: Die Regierung in Tokio hat der Ausstellung "Japan Unlimited" im Wiener Museumsquartier ihre Unterstützung entzogen, weil sie zu viele kritische Themen anspricht. In der NZZ ergänzt Sabine B. Vogel, dass es in Kapans Sozialen Medien eine regelrechte Hetzjagd gegen beteiligte Künstler und den Kurator Marcello Farabegoli gegeben habe. Besprochen wird eine Meret-Oppenheimer-Ausstellung in der Galerie Alexander Levy (Berliner Zeitung).
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Literatur

Sehr bekümmert blickt Salman Rushdie im großen NZZ-Gespräch anlässlich seines neuen Romans "Quichotte" auf die Entwicklungen in den USA, Großbritannien und Indien - insbesondere letzteres habe sich "sich wirklich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es wurde als säkularer Staat gegründet, um den Schutz von Minderheiten zu garantieren", aber die jetzige hindu-nationalistische Regierung "hat eine Politik eingeführt, die Angriffe aller Art auf Minderheiten zulässt. Parallel dazu wird jede Kritik abgeschmettert - auch mit physischen Attacken gegen Schriftsteller und Journalisten. Diese Regierung hat gerade zwei Erdrutschsiege eingefahren, und ich sehe nicht, wie sich das in absehbarer Zukunft ändern könnte. Dieses neue Indien wird Bestand haben. Für jemanden wie mich ist das eine Tragödie."

Im FAS-Interview anlässlich ihres neuen Buches "Anne-Marie die Schönheit" erklärt die Schriftstellerin Yasmin Reza ihre Abneigung gegenüber Interviews: "Ich habe zum Beispiel weniger Freude daran, einen Autor zu lesen, wenn er mir in seinen Interviews die politische Weltlage erklärt. Es verliert seinen Reiz, weil ich dann ja weiß, was er denkt, hinter welcher Figur er sich versteckt. Dabei ist Lesen doch auch immer eine Suche nach dem Autor."

Werner von Koppenfels hat für die FAZ das Münchner Hildebrand-Haus aufgesucht, wo seit kurzem die Korrespondenz zwischen D.H. Lawrence und Max Mohr lagert: "Das Anglistenherz schlägt höher beim Anblick der festen, klaren Schriftzüge dieser Episteln. Momentane Erlebnisse, Stimmungen, Gedanken - die Texte entwickeln sofort einen eigenen Sog. ... Der warmherzige Lawrence kommt in dieser Korrespondenz ebenso zu Wort wie der streitbare, doch ein Unterton von Weltmüdigkeit, ja Weltekel, ist unüberhörbar."

Weiteres: "Was ist ein gutes Leben", fragt sich Ghayath Almadhoun anlässlich der Europäischen Literaturtage in einem im Standard übersetzten Essay, in dem der in Syrien geborene, nach Schweden ausgewanderte Dichter die Lebensverhältnisse in Skandinavien mit denen in seiner Heimat vergleicht. Gina Thomas gratuliert in der FAZ der Schriftstellerin Margaret Atwood zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Olga Tokarczuks "Die Jakobsbücher" (Standard), der neue, bislang nur in Italien erschienene Roman von Elena Ferrante (Standard), Mircea Cărtărescus "Solenoid" (Standard), Martin Walsers "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung" (Dlf Kultur, SZ), Hannelore Cayres Krimi "Die Alte" (Freitag), der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf (Tagesspiegel), John le Carrés "Federball" (Presse) und neue Hörbücher, darunter der von Katharina Thalbach und Sandra Quadflieg gelesene Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Samuel Becketts Dreizeiler "bis zum Äußersten":

"bis zum Äußersten
gehn
dann wird Lachen entstehn"
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Film

Im Standard spricht Keira Knightley über ihren neuen Film "Official Secrets", in dem sie die Whistleblowerin Katharine Gun spielt
 
Besprochen werden Martin Scorseses "The Irishman" (online nachgereicht von der NZZ, mehr dazu bereits hier), Wang Xiaoshuais "Bis dann, mein Sohn" (Freitag, mehr dazu bereits hier und dort), die Teeniekomödie "Booksmart" (Freitag, Presse), die Fantasyserie "Carnival Row" (Freitag), die dritte Staffel der Netflix-Serie "The Crown" (ZeitOnline, Welt) und und neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter eine DVD des 80er-Science-Fiction-Films "Der Komet" (SZ).
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Musik

In der SZ porträtiert Jonathan Fischer den deutsch-ivorischen DJ und Produzenten Mr Raoul K, dessen Musik den Afro House definiert hat. Gerade ist sein neues Album "African Paradigm" erscheint, das nicht allein auf den Dancefloor aus ist: "Schicht für Schicht baut das Album ein berauschend-komplexes Bild des modernen Afrika auf - mit treibender Perkussion, tanzenden Flöten, ostafrikanischem Mbira-Fingerklavier, senegalesischer Talking Drum, einem tschadischen Gitarristen und elektronischen Effekten. ... Auch er wolle mit seiner Musik Gerechtigkeit einfordern, den Ungehörten eine Stimme geben: 'Die afrikanische Demokratie ist gescheitert', übersetzt er die Chants von 'Africans In Deep And Dance', 'die afrikanische Unabhängigkeit ist eine Illusion. Du riskierst als Oppositioneller dein Leben, während viele Regierungen als Marionetten der ehemaligen Kolonialmächte agieren.' Das klingt politischer als das Gros der House-Musik - und radikaler als afrikanischer Pop." Wir hören rein:



Besprochen werden Eleni Karaindrous zum Abschluss des Enjoy Jazzfestivals in Mannheim aufgeführte Arbeit "Tous des oiseaux" ("In ihrer Reduktion der Kunstmittel und Schnörkellosigkeit ist es eine vollkommene Klangwelt und eine "Musique pauvre" zugleich", schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ), neue Musik aus Brasilien von Dona Onete, Elza Soares, Liniker e os Caramelows, Bia Ferreira und Duda Beat (taz) sowie ein Auftritt von Sido (Tagesspiegel).
Archiv: Musik
Stichwörter: Mr Raoul K, Kolonialmacht, Sido