Efeu - Die Kulturrundschau

Die Welt wird wieder uns gehören

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04.04.2020. In der taz erzählt der Schriftsteller Barbaros Altuğ, wie er versucht, offizielle türkische Geschichtsnarrative zu sprengen. Die SZ schließt sich Hans Ulrich Obrist an, der im Guardian New-Deal-Programme für Künstler forderte. FAZ und Filmdienst befürchten: Die Krise besiegelt das Ende des Kinos. Die Vogue schneidert Haute Couture im Homeoffice nach. NZZ und SZ feiern den modernen Raffael. Und alle trauern um Bill Withers, den zornigen Sozialrealisten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2020 finden Sie hier

Literatur

Macht das Beste draus, ruft uns aus der Literarischen Welt der Schriftsteller Alain de Botton entgegen und rät dazu, die Zeit der Isolation mit intensivem Nachdenken zu verbringen, um "sich zu sortieren und zu begreifen. ... Die Welt wird wieder uns gehören, wir werden sie frei bereisen können. Doch während dieser kollektiven Zwangsbeschränkung werden wir, abgesehen von den offensichtlichen Unbequemlichkeiten, einiges von dem zu schätzen wissen, was wir gewinnen, wenn wir unsere gewohnten Freiheiten verlieren. Es kann kein Zufall sein, dass viele der größten Denker der Welt ungewöhnlich viel Zeit allein in ihren Zimmern verbracht haben."

Mit seinen Romanen will der türkische Schriftsteller Barbaros Altuğ Sand ins offizielle türkische Geschichtsnarrativ streuen, erklärt er im taz-Interview. In seinem neuen Roman "Sticht in meine Seele" gehe es daher auch um den Genozid an den Armeniern, den so zu benennen in der Türkei selbst Intellektuelle ablehnen: Eine gute Freundin, ebenfalls Schriftstellerin, "sagte während eines gemeinsamen Essen zu mir, dass es keinen Genozid an den Armeniern gegeben hätte, als ich ihr von meiner Buchidee erzählte. Und ich sagte, doch. Ich erzählte ihr von meinen Besuchen in den Archiven und Museen und wollte es eigentlich auch dabei belassen, wir waren ja eigentlich zu einem gemütlichen Essen verabredet. Aber sie schrieb mir bis in die Morgenstunden Nachrichten, dass ich auf dem falschen Dampfer unterwegs wäre und bitte über ein anderes Thema schreiben sollte. Das schrieb mir eine Intellektuelle! Und genau hier muss ich wohl ansetzen."

Außerdem: In der Berliner Zeitung spricht Christina Bylow mit Oskar Roehler über dessen neuen (allerdings nicht zweiten, sondern vierten) Roman "Der Mangel", für den er sich von Stanislaw Lem und Thomas Bernhard hat inspirieren lassen und sich einmal mehr seine Kindheits- und Jugenderinnerungen exorziert. Für die Literarische Welt liest Wieland Freund Daniel Defoes als Tagebuch getarnten Roman "Die Pest in London", in dem einem "im April 2020 so manches auf gespenstische Weise bekannt vorkommt." Bei 54books.de geht das kollektiv geführte Corona-Tagebuch in die sechste Runde. Im Literarischen Leben der FAZ erinnert sich der Schriftsteller Guntram Vesper an einen alten Mercedes, mit dem er einst durch die Lande fuhr. Für das Logbuch Suhrkamp berichtet der Schriftsteller Benjamin Maack davon, wie er sich einmal selber Buchregale zimmerte - was sich in "ein wunderschönes Chaos" auswuchs. In der Literarischen Welt spricht Thomas David mit der Schriftstellerin Edna O'Brien über ihren neuen Roman "Das Mädchen".

Besprochen werden unter anderem Oyinkan Braithwaites "Meine Schwester, die Serienmörderin" (SZ), George-Arthur Goldschmidts "Vom Nachexil" (taz), Leif Randts "Allegro Pastell" (Intellectures), Sigrid Nunez' "Der Freund" (Freitag), Mikael Niemis "Wie man einen Bären kocht" (taz), ein Gedichtband von Rammstein-Sänger Till Lindemann (Tagesspiegel), Tom Hillenbrands Science-Fiction-Thriller "Qube" (Presse), Klaus Siblewskis "Es kann nicht still genug sein: Schriftsteller sprechen über ihre Schreibtische" (Literarische Welt) und Wu Mings "Die Armee der Schlafwandler" (FAZ).
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Kunst

Raffael: Fornarina

Am 6. April ist Raffaels 500. Todestag. Bitter, dass die großen Ausstellungen in Berlin und Rom derzeit bis auf weiteres geschlossen sind. Raffaels Madonnenbildnisse haben unser Bild der menschlichen Liebe bis heute geprägt, meint Philipp Meier in der NZZ: Er versöhnte die sinnliche Liebe mit der "selbstlosen Nächstenliebe der heiligen Mutter Gottes": "Raffaels Marien sind von unvergleichlicher Sanftmut, ihre Gesten voller Zärtlichkeit, ihre Gesichtszüge reinste Anmut, und ihrer Ausstrahlung ist eine Wärme eigen, die aus dem Inneren dieser Bilder zu leuchten scheint wie eine nie versiegende Liebesglut. Raffaels Frauendarstellungen sind anders als alles, was die Kunstgeschichte bis anhin kannte. Denn auch sein Blick auf das weibliche Geschlecht war ein anderer. Es war weder der Blick schwärmerischer Verehrung mädchenhafter Schönheit eines Botticelli noch jener sinnlichen Begehrens eines Giorgione, aber auch nicht der Blick eines psychologisch versierten Frauenverstehers, wie Leonardo ihn hatte."

Das Bild des Künstlers bedarf dringend einer Revision, findet auch Kia Vahland in der SZ: Zu "smart", zu wenig "ruppig" galt er seit der Moderne, dabei trat Raffael früh für Meinungsvielfalt und Mitspracherecht der Künstler ein, schreibt sie.

Roosevelts "New Deal"-Politik berücksichtigte auch tausende Künstler, die Hilfe vom Staat erhielten und im Rahmen von Programmen wie der Works Progress Administration (WPA) Wandbilder für öffentliche Gebäude, Fotografien des amerikanischen Alltags oder Poster für staatliche Aufklärungskampagnen schufen, erinnert Kito Nedo in der SZ und unterstützt Hans-Ulrich Obrist, der vor kurzem groß angelegte Hilfsprojekte für die Kunstszene von der britischen Regierung forderte, die sich an diesen Programmen orientieren sollten: "'Dank der WPA gingen die Künstler in die Gesellschaft. Künstler bekamen Gehälter und konnten während der New-Deal-Ära recherchieren und Werke schaffen', sagte Obrist im Guardian. 'Viele bekamen ihre ersten richtigen Jobs und Aufträge.' Obrist appellierte auch an die Kunstinstitutionen: 'In dieser Zeit der Krise ist es wichtig, dass die Museen darüber nachdenken, wie sie über ihre Mauern hinausgehen und jeden erreichen können.' Nachdem die Situation unter Kontrolle gebracht sei, müsse die Kunst besonders zu Gemeinschaften gebracht werden, die 'normalerweise keinen Zugang zu ihr haben'."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel kommt Birgit Rieger auf den Geschmack von Online-Formaten der Galerien. In der Berliner Zeitung tröstet sich Ingeborg Ruthe mit dem Bildband "Bilderkeller" darüber hinweg, dass sie Wandmalereien von DDR-Künstlern im Keller der Akademie der Künste derzeit nicht live sehen kann. In der taz stellt Beate Scheder "Times in Crisis" vor, ein Online-Projekt der Klosterruine, das Videotagebücher von Berliner KünstlerInnen zeigt. In der Welt erklärt die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, wie der Handel mit kolonialen Kunstobjekten durch gefälschte Zertifikate legalisiert wird.
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Architektur

Im FR-Interview mit Claus-Jürgen Göpfert erklärt der Architekt Jochem Jourdan, weshalb die historische Theaterdoppelanlage in Frankfurt gerettet werden muss: "Mit seiner Offenheit und Transparenz stand das Gebäude 1963 für einen Aufbruch nach der Dunkelheit der Nazi-Zeit. Es ging um eine demokratische Architektur der Bürger und für die Bürger. Schon das Konzept der Theaterdoppelanlage an sich ist ein Denkmal, das erhaltenswert ist."

Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Wojciech Czaja die Architektenbrüder Laurids und Manfred Ortner, die den Österreichischen Staatspreis erhalten.
Archiv: Architektur

Design

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Hier hat Sydney Pimbley (@sydneysurname) einen Mantel von John Gallianos Haute-Couture-Schau für Maison Margiela Winter 2017 rekreiert.

Die Isolation setzt bei einigen Menschen bewunderswerte Kreativität frei: die einen stellen zu Hause berühmte Gemälde nach, andere mit einfachsten Mitteln große Haute-Couture-Roben nach, wie man unter dem hashtag #HomeCouture sehen kann, berichtet Liam Hess in der Vogue. "'The idea is that quarantine queens across the world can doll themselves up, Cinderella-style, with scouring-pad ball gowns, toilet-roll palazzo pants, and saucepan fascinators,' says the hashtag's creator George Serventi, a London-based fashion writer (and occasional meme-maker) who has been posting the looks under his Instagram handle @skipdin. 'In the words of Fifth Harmony, we can work from home!'"

NZZ-Kritikerin Sabine von Fischer ist ganz verliebt in die "Pergamentharmonika" Lumio, die an ein aufgeklapptes Buch erinnert, tatsächlich aber eine Lichtspenderin ist: "Wie ein Vorrat aus einer fernen Jahreszeit bringt das Ding aus dem Designgeschäft in New York City ein bisschen Glück", schreibt sie und erklärt das Geheimnis dieses akubetriebenen Lichtbuchs: "Tyvek, das reiss- und wasserfeste Papier, das in den Vereinigten Staaten auch für Briefpost und Pakete verwendet wird, erlebte in den letzten Jahren eine Renaissance als umweltfreundliches Material für innovatives Design, so auch für Brieftaschen und Portemonnaies, die dank der hauchdünnen und doch widerstandsfähigen Papierschicht in der Hosentasche nicht zu stark auftragen."
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Bühne

Im Dlf verteidigt Wiebke Hüster den Spitzentanz gegen den Vorwurf der modernen Tanzforschung, er vermittle ein tradiertes Frauenbild: "William Forsythe hat ein Abenteuer daraus gemacht, den Tanz aus der harmonischen Zentriertheit ins wilde Off-Balance hineinzutreiben. Die Frauen auf Spitze wirken bei ihm wie Sportlerinnen, Amazonen oder Avatare. Hans van Manens Stücke zeigen die Eleganz der Frauen, ihre erotische Macht, ihre kluge Ironie, ihren beißenden Sarkasmus, ihre Emanzipation - auf Spitze."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel blickt Frederik Hanssen hoffnungsfroh auf die Spielpläne der Berliner Opernhäuser nach der Coronakrise.
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Film

Verena Lueken hat für die FAZ eine bedrückende Studie gelesen, aus der hervorgeht, dass zumindest in den USA ein beträchtlicher Teil des Kinopublikums auch nach Ende der Ausgangsbeschränkungen fürs Erste nur zögerlich, wenn überhaupt, in die Kinos zurückkehren wird. "Könnte es also sein, wie es Jurij Meden, der Chefkurator des Österreichischen Filmmuseums, in seinem Blog befürchtet, dass die Corona-Krise den Trend weg vom Kino hin zum Streaming zu Hause nicht nur beschleunigt hat, sondern die vollkommene Transformation vom öffentlichen, gemeinsamen Filmeschauen zum privaten 'als einziger legalen Option' tatsächlich das Ende des Kinos besiegelt, des Kinos als Ereignis, das den Film ebenso meint wie den Ort und das Publikum?" Variety hat weitere Details zu dieser Studie.

Dazu passend umkreist Patrick Holzapfel in einem Filmdienst-Essay die moralischen, ethischen und kulturellen Fragen des Nicht-Ins-Kino-Gehens: "Wer nicht ins Kino geht, macht ja eigentlich erst mal nichts - und dennoch handelt er in diesem Nichts-Tun. Denn anders als die ungelesenen Bücher im Regal warten die Filme nicht auf uns. ...  Ein Film ist nicht dauernd verfügbar. Wie bei einem Sonnenuntergang liegt es an uns, ihn zu sehen und zu fangen. Nicht umsonst spricht man von 'verpassten Filmen'. Wer sich keine Eintrittskarte kauft, verpasst erst einmal nichts. Vielleicht einen Lacher hier, eine Erkenntnis dort, eine innere Regung oder unbekannte Eindrücke. Aber je mehr man sieht, je tiefer man geht, desto schwerer wiegt eine Absage an den Kinogang."

Und was passiert eigentlich mit all der analogen Filmtechnik, die derzeit in den Kinematheken still steht und leise vor sich hin rostet? Benjamin Tucker, der Vorführer der American Cinematheque (der im übrigen auch einen großartigen Instagram-Account hat, für den er immer wieder tolle Filmstreifen auf den Leuchttisch legt), hat dazu ein schönes Video gemacht:



Außerdem: Für Artechock liest sich Rüdiger Suchsland weiter durch Woody Allens Autobiografie. Zum 100. Geburtstag von Ravi Shankar erinnert Claus Löser in der Berliner Zeitung an die Filmmusiken des indischen Musikers. In seinem Blog verweist Thomas Groh auf ein Radiofeature über Kultkinos im Schwabing der 60er.

Besprochen werden der momentane Netflix-Renner "Tiger King" ("verstört nachhaltig, aber im besten Sinne", meint Till Kadritzke im Filmdienst), der Netflix-Actionfilm "Spenser Confidential" mit Mark Wahlberg (Tagesspiegel) und die ApplePlus-Serie "Home Before Dark" (FAZ).
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Musik

Große Trauer um Soul-Legende Bill Withers, den die meisten wohl von seinem Hit "Ain't No Sunshine" aus dem Jahr 1971 kennen. Ein Stück, das bis heute nichts von seiner berührenden, eindringlichen Kraft verloren hat, schreibt Jens Balzer auf ZeitOnline. Zu finden ist es auf Withers' Debütalbum "Just As I Am", in dem sich im Grunde schon der ganze Withers finde: "der melancholische, warme und weise Ton, der die Hörer sofort umarmt; und der illusionslose, oft zornige Sozialrealismus, der von der nicht endenden Qual des Rassismus und der Ausbeutung erzählt. ... Withers sang Lieder für alle und jeden, er hatte ein epochales Talent dafür, auch das Komplizierte ganz einfach erscheinen zu lassen." Er war "ein junger, nachdenklicher Mann aus einem Bergarbeiterstädtchen in Virginia, von störrischem, schon damals einzelgängerischem Wesen, mit lakonischem Humor und einem Bariton, der auffällig gläsern war", hält Alexander Gorkow in der SZ fest: "Diese Stimme transportierte jede Selbstbehauptung, jeden Zweifel, alle Trauer so vibrierend und zart, dass dem einen oder anderen Zuhörer in den lauten Jahren der Black Power zunächst entging, dass es sich um einen schwarzen Sänger handelte." Für Christian Schröder vom Tagesspiegel ist klar: "Mehr als für den Dancefloor eignen sich seine zeitlosen Lieder dafür, unter dem Kopfhörer gehört zu werden."



Außerdem: Der Schriftsteller Albrecht Selge erinnert sich in der FAZ, wie er zu Beethoven kam. Für das Musikfeuilleton des Dlf Kultur beugt sich Cornelia de Reese über Beethovens Handschriften. Für die Welt porträtiert Michael Pilz die international erfolgreiche Thüringer Metalcore-Band Heaven Shall Burn, die vor 25 Jahren vom heutigen Verfassungsrechtler Maik Weichert gegründet wurde und in ihrer Videos auf einschlägige Drastik setzt:



Besprochen werden Dua Lipas neues Album "Future Nostalgie" (Berliner Zeitung, Presse), das neue Album von Porridge Radio (Presse), diverse neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album des Queen-Sängers Adam Lambert (FR) und Yves Tumors Album "Heaven to a Tortured Mind" (Pitchfork, The Quietus). Ein Video:

Archiv: Musik