Efeu - Die Kulturrundschau

Nur noch schmerzverzerrt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2021. Die FAZ hört buchstäblich die Champagnerkorken knallen in einer Ausstellung mit Druckgrafiken aus dem Pariser Fin de Siecle. Knallige Farbflächen bewundert auch der Standard in der Retrospektive der Malerin Xenia Hausner. Zeit online, Tagesspiegel und Berliner Zeitung berichten von Vorwürfen des Machtmissbrauchs gegen Shermin Langhoff am Gorki Theater. Die Welt ermüdet vor zu viel Design von Dieter Rams. Zeit online hört den reifsten Käse dieses Sommers, aufgenommen von Cro. Die SZ bleibt lieber bei Haftbefehl.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Pierre Bonnard, France-Champagne, 1891. Foto © Musée d'Ixelles


Hach, das waren noch Zeiten, als Künstler für ihre Kunst geliebt oder gehasst wurden. Im Falle von "Henri de Toulouse-Lautrec und den Meister vom Montmartre", wie die Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg in Halle heißt, war es wohl eher Liebe. Auch bei FAZ-Kritiker Kevin Hanschke, der die fiebrige Aufbruchsstimmung aus jener Zeit ebenso bewundert wie die Druckgrafiken, die sie hervorbrachte: "Wegen der strahlenden Pigmente, der für Europa ungewöhnlichen Bildmotive und der skurrilen Bildausschnitte, wurden die japanischen Farbholzschnitte des achtzehnten Jahrhunderts zur Hauptinspirationsquelle für die Grafiker. Doch die Plakatkunst der Zeit ist besonders dadurch so modern, weil der 'Japonisme' mit der Lebensart der Metropole an der Seine eine Symbiose eingeht. Die Métro braust unter der Erde, Elektrizität erhellt die breiten Boulevards und macht die Nacht zum Tag, und die aufstrebende Mittelschicht aus Beamten und Angestellten dürstet nach Unterhaltung, Konsum und Champagner. Die Stadt ist im ökonomischen und geistigen Freudentaumel, und der Aufbruch ins neue Jahrhundert wird von der Werbegrafik dokumentiert."

Xenia Hausner: Paris Bar, 2002. Sammlung Droege / Bildrecht


Am Montag öffnen in Österreich die Museen wieder. Die Albertina startet mit einer Retrospektive der Malerin Xenia Hausner, erzählt im Standard Katharina Rustler, die die Ausstellung mit der Künstlerin besichtigt hat. Hausners Bilder mit ihren "knalligen Farbflächen" sehen oft aus wie eingefrorene Filmstills, die die Künstlerin lange vorbereitet: "Ihren Ideen gemäß baut sie Szenen in ihren Ateliers nach - sie arbeitet in Wien, Berlin und am Traunsee -, sichtet Modelle und inszeniert diese dann darin. Diese Settings fotografiert sie und legt anschließend ein grobes Bild an. In mehreren Sitzungen malt sie die Figuren dann nach den Modellen, die in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Meist sind es Kunststudenten oder Schauspielerinnen. Bekannte Personen wie Elfriede Jelinek oder Frank Castorf hat Hausner auch schon porträtiert."

Weiteres: Christiane Meixner lässt sich für den Tagesspiegel von acht Berliner Galeristen erzählen, wie sie die Pandemie erlebt haben. Sabine Weier unterhält sich für die taz mit Sarah Alberti und Grischa Meyer über ihren Film zu einer Berliner Kunstaktion in den Neunzigern, die internationale Kunst im öffentlichen Raum zeigte. Besprochen wird die Ausstellung "Sex und Vorurteil" im Lübecker St.-Annen-Museum (taz)
Archiv: Kunst

Bühne

Machtmissbrauch und ein "Klima der Angst" jetzt auch an Deutschlands beliebtester Multikultibühne, dem Maxim Gorki Theater? Das behaupten jedenfalls 15 ehemalige Mitarbeiter des Theaters, die im Spiegel der Intendantin Shermin Langhoff, deren Vertrag noch im Dezember 2020 bis 2026 verlängert wurde, Machtmissbrauch vorwerfen. Von Wutausbrüchen, Beleidigungen und sogar körperlichen Übergriffen ist die Rede. Acht Personen, vier davon Regieassistenten, wollen das Theater verlassen. Langhoff hat die Vorwürfe abgestritten, resümiert Zeit online den Spiegel-Artikel.

In der Berliner Zeitung berichtet Susanne Lenz von einem konkreten Fall: "Am Donnerstag teilte das Bühnenschiedsgericht Berlin am Donnerstag mit, dass eine Dramaturgin gegen das Theater klagt. Sie wendet sich dagegen, dass ihr befristeter Arbeitsvertrag nicht verlängert wird. Die Nichtverlängerung verstoße gegen das Maßregelungsverbot des § 612 a BGB und stehe im Zusammenhang mit einem Beschwerdebrief mehrerer Beschäftigter gegen die Intendantin wegen Machtmissbrauch und Mobbing. Zudem werde sie in ihrer Elternzeit als Frau diskriminiert. Das Maßregelungsverbot bedeutet, dass der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen darf, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt."

Das Maxim Gorki Theater wollte sich zu den Vorwürfen und dem Prozess nicht äußern, meldet der Tagesspiegel. Es sei "'den klägerischen Anträgen sowie dem gegnerischen Vortrag vollumfänglich entgegengetreten, die Vorwürfe sind, soweit kolportiert, unzutreffend.' Sie seien aus persönlichkeitsrechtlichen und datenschutzrechtlichen Gründen daran gehindert, hierauf im Einzelnen einzugehen."

Weiteres: Die nachtkritik streamt heute und morgen jeweils ab 16 Uhr "(…) Ein Stück, dem es scheißegal ist, dass sein Titel vage ist", ein Jugendtheaterstück von Jetse Batelaan und dem Theater Artemis. nmz gibt Streaming-Tipps für die kommende Woche.
Archiv: Bühne

Film

Der Dokumentarfilmer Marc Wiese hat vor dem Landgericht gegen die Zeit Recht bekommen, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ. Die Zeit hatte Wiese Manipulationen in seinem Film "Die Unbeugsamen" vorgeworfen (unsere Resümees). Allerdings habe die Zeitung dabei selbst einige Fehler gemacht, etwa beim Zitat eines Video-Interviews aus Vice. Untersagt habe das Gericht "eine ganze Reihe von Passagen der beiden angegriffenen Texte, die im Zusammenhang mit dem von Vice falsch geschnittenen Interview mit dem Dokumentarfilmer Marc Wiese stehen. Die Berichterstattung fällt damit in sich zusammen."

Weiteres: In Südkorea musste eine historische Serie nach nur zwei Episoden abgesetzt werden, weil sie angeblich zu chinafreundlich sei, berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ.

Besprochen werden Nobuhiko Obayashis auf Mubi gezeigter Abschiedsfilm "Labyrinth of Cinema" (Presse, "ein meisterlicher Schwanengesang", schreibt Michael Schleeh in seinem auf asiatisches Kino spezialisiertem Blog), Julia von Heinz' auf Netflix gezeigtes Antifa-Drama "Und morgen die ganze Welt" (taz), Neil Burgers auf Amazon gezeigter Science-Fiction-Thriller "Voyagers" (Standard), die Arte-Doku "Eine Familie unterm Hakenkreuz" (FAZ), Reha Erdems Zoom-Komödie "Seni Buldum Ya" und eine Reihe mit Dokumentarfilme der ägyptischen Regisseurin Atteyat Al Abnoudy im Berliner Arsenal 3 (beides Perlentaucher).
Archiv: Film

Design

In Frankfurter Quarterly spricht die Modedesignerin Iris von Herpen über ihre Arbeit, für die sie aktuell mit Biologen zusammenarbeitet. Dazu inspiriert wurde sie Merlin Sheldrakes Buch "Verwobenes Leben": "Er beschreibt die gigantischen Netzwerke der Pilze, die sogenannten Mykorrhiza, die in Symbiose mit Pflanzen und Bäumen Informationen und Nährstoffe austauschen. Pilze haben ganz unterschiedliche Fähigkeiten, zu denen gerade viel geforscht wird: Sie sind imstande, Pestizide, Plastik und sogar TNT abzubauen, und können Werkstoffe liefern, die in Zukunft CO2-intensive Materialien wie Beton und Leder ersetzen können. Genau daran arbeiten wir für die kommende Kollektion. Gemeinsam mit einem Biologen aus Amsterdam fertigen wir einen Stoff, den wir aus Baumwurzeln wachsen lassen. Das geht sehr langsam voran, aber wir hoffen, das Ergebnis im Sommer zeigen zu können."

Dass die deutsche Nachkriegsmoderne ohne das von Ulm und Dieter Rams geprägtes Industrie- und Produktdesign von Braun nicht zu haben ist, weiß Tilmann Krause von der Welt natürlich. Trotzdem regt sich bei ihm auch gar nicht mal so leiser Widerspruch gegenüber dieser Konsensmeinung, als er sich durch die Exponate der Braun-Ausstellung im Berliner Bröhan-Museum klickt: In so geballter Zusammenstellung zeigt sich ihm dann doch, dass die reine Braun-Lehre "auch eine Persistenz des Eindimensionalen, Immergleichen mit sich brachte, die auf Dauer ermüdet". Trotz einiger Experimente in den späten Sechzigern "dominierten im Großen und Ganzen weiter Rastermuster und Eckigkeit". So zeige sich "das mutlose Sichklammern an das Unscheinbare." Und trotzdem war diese Nachkriegsmoderne "künstlerisch besonders hochstehend. In späteren Dezennien übernahmen dann die Onkel Bräsigs."

Besprochen wird Rebekka Endlers Buch "Das Patriarchat der Dinge" (taz), in dem die Autorin darauf aufmerksam macht, dass für Design und Gestaltung in aller Regel der Mann das Maß aller Dinge ist und die Frau das Nachsehen hat.
Archiv: Design

Literatur

Mia Eidlhuber unterhält sich für den Standard mit Judith Hermann, die mit ihrem Roman "Daheim" gerade ein Comeback feiert. Das Buch über eine Frau am Meer, dessen Spiegel stetig steigt, hat auch etwas mit dem Unbehagen an der Gegenwart zu tun, erzählt Hermann. "Natürlich beschäftigt mich der Klimawandel, die Umweltkatastrophe, die Lage der Welt. Die Frage war: Wie nehme ich all das mit in meinen Text? Ich konnte und wollte kein politisches Buch schreiben, aber ich wollte schreiben, dass diese Figuren um diese Dinge wissen. Es wäre nicht mehr möglich gewesen, ein Buch zu schreiben, in dem all das nicht vorkommt. Aber es war eine Zwickmühle, weil das Anthropozän auf den ersten Blick nicht poetisch ist. Ein Stall mit hunderten Schweinen ist nicht poetisch. Verseuchte Felder sind nicht poetisch."

Weitere Artikel: Für die taz spricht Philipp Brandstädter mit dem Kinderbuchgestalter Sebastian Meschenmoser. In der Literarischen Welt erinnert Thomas Wagner an den vor 100 Jahren geborenen Dichter Erich Fried. Außerdem kündigen Jürgen Kaube und Birte Förster in der FAZ eine Textreihe mit Schlaglichtern auf Passagen in Dantes "Commedia" an. Deren Auftakt bestreitet Kurt Flasch, der sich vor "Dantes Kunst der Wortsparsamkeit" verbeugt. Jo Lendle vom Carl Hanser Verlag schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Martin Kluger. In der Welt schreibt Richard Kämmerlings zum Tod von Kluger. Wolfgang Kubin befasst sich im "Literarischen Leben" der FAZ mit den Lyrikübersetzungen aus dem Chinesischen des Sinologen Günther Debon.

Besprochen werden unter anderem Judith Vanistendaels Comic "Penelopes zwei Leben" (taz), Sasha Filipenkos "Der ehemalige Sohn" (NZZ), Colleen Dorans Comicadaption von Neil Gaimans Kurzgeschichte "Snow, Glass, Apples" (Tagesspiegel), Christina von Brauns Memoiren "Geschlecht" (SZ) und Pola Oloixaracs "Wilde Theorien" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Das neue, beim Corona-Überwintern auf Bali aufgenommene Album des Poprappers Cro ist so gut, dass es schon wieder schlecht ist, meint Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: Diese Platte "wird der reifste Käse des kommenden Sommers sein, kein lukrativer Pop-Rap mehr, sondern luxuriöse Popmusik, aufgetürmt und ausformuliert mit beinahe allen verfügbaren Mitteln der Kunstform. ... Alles ist Sonne oder wenigstens Sonnenstudio, selbst Orgelsound und Grasgeruch erscheinen perfekt aufeinander abgestimmt. Die Freibäder in Deutschland bleiben zu? Cro öffnet den Indischen Ozean. So richtig kickt das gerade eigentlich nicht", denn das Leben sei im Moment "kompliziert, zu kompliziert eigentlich für ein Album wie 'Trip', das entstanden ist, um das schöne Leben zu feiern".

Dann vielleicht doch lieber den real shit? "Haftbefehl macht jetzt endgültig Kunst", frohlockt Jakob Biazza, der in der SZ von seinem Treffen mit dem Offenbacher Gangsta-Rapper auffallend wenig erzählt, dafür aber von dessen neuer Platte, dem "Schwarzen Album", und insbesondere von dem Track "Kaputte Aufzüge" umso heftiger schwärmt: "Synthie-Flächen, die der Welt alle Farbe aussaugen, eine glaskalte E-Gitarre, Autotune, das die Stimme schon lange nicht mehr gerade zieht, sondern nur noch schmerzverzerrt. ... Jeder sieht sofort das enge Treppenhaus vor dem geistigen Auge. Fühlt das klebrige Geländer. Riecht den Urin, den kalten Crack-Rauch, die Haschschwaden hinter den Türen. So funktioniert die Lyrik von Haftbefehl. Wortfetzen-Metaphern, Schlaglicht-Inhalte. ...  Er sagt nicht nur Mineralwasser. Er sagt eben 'Metzeral' - gibt es vor allem in türkischen Läden. Wer es kennt, weiß sofort, was los ist. Wer es nicht kennt, spürt, dass dahinter eine ganze Welt liegt." Auf Youtube ist diese Welt derzeit noch nicht zu finden, dann nehmen wir mit diesem Stück vorlieb:



Weitere Artikel: Nicht ohne Vergnügen stellt Peter Richter auf der Medienseite der SZ fest, dass dem RBB Kultur seine neue musikalische Klangfarbe - lieber eine philharmonische Pop-Coverversion als die Berliner Philharmoniker im Original - nach einer Umfrage unter Hörern mächtig um die Ohren fliegt. Wie geht eigentlich Applaus, fragt sich Stefan Ender in seiner Standard-Glosse nach einem Jahr Pandemie. Marc Zitzmann hat für die FAZ den Pianisten Cyprien Katsaris in Paris besucht. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Robert Mießner (taz) schreiben Nachrufe auf die australische Musikerin Anita Lane. Die wusste immer schon: The World's a Girl

Archiv: Musik