Efeu - Die Kulturrundschau

Werfe ich ihn raus?

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05.05.2021. In der FAZ sprechen fünf Opern-IntendantInnen über Geniekult und Machtmissbrauch an den Bühnen. Außerdem besucht die FAZ die deutsch-russische Romantik-Schau in Moskau und erkennt ein "Ringen um Freiheit". Die NZZ ahnt, dass bei der Sanierung des Zürcher Schauspielhauses nicht Geld und Technik entscheidend sein werden, sondern die Vision. Der Tagesspiegel blickt auf die heikle Lage der Comiczeichner in Brasilien. Vor der Eröffnung des Dokfest München denkt die SZ über die Ästhetik der Gattung nach. Außerdem lernt sie: Gangsta-Rap macht frauenfeindlich und antisemitisch, aber nicht rassistisch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.05.2021 finden Sie hier

Film

Heute beginnt das Dokfest in München - Anlass für Martina Knoben, in der SZ über das immer schon komplexe Verhältnis zwischen Realität, Abbildung und dokumentarische Form nachzudenken: Dass filmische Bilder immer gemachte Bilder sind, werde zu selten mitgedacht. "Dokus werden vor allem thematisch wahrgenommen, ihre Ästhetik gilt als zweitrangig, wird von vielen Zuschauern kaum wahrgenommen. Ihre Gemachtheit wird manchmal auch absichtlich verschleiert. ... Dabei sollte das Gegenteil der Fall sein. Dokumentarfilme sollten die Lücke zwischen Abbildung und Realität mitdenken, ihre Arbeitsweise sichtbar machen und so in einen Dialog mit dem Zuschauer treten." Außerdem gibt die SZ-Redaktion einige Tipps aus dem Programm. Für den Filmdienst arbeitet sich Rainer Gansera durchs Angebot.

Zähe, journalistische Arbeit: "Hinter den Schlagzeilen" (Real Fiction)

Auch beim Dokfest München gezeigt wird Daniel Sagers und Marc Bauders "Hinter den Schlagzeilen" über die Arbeit der SZ-Journalisten, die das Ibiza-Video, das Strache zu Fall gebracht hat, journalistisch aufbereitet haben. Tazlerin Silvia Hallensleben bedankt sich für diesen so privilegierten, wie unaufgeregt gestalteten Einblick in "die zähe Arbeit hinter dem journalistischen Coup - von ersten klandestinen Kontakten über die langwierige Sichtung und Transkription des Materials bis zu juristischen Beratungen und dem Formulieren begleitender Anfragen und Texte. Für investigative Journalisten typische Aktivitäten, die jedoch für Außenstehende selten sichtbar sind." Martina Knoben hat für die SZ mit den Machern gesprochen.

Außerdem: In der NZZ schmachtet Urs Bühler George Clooney an, der morgen seinen 60. Geburtstag feiert. Besprochen werden der Dokumentarfilm "Schwarze Adler" über Rassismus im Profifußball (Jungle World) und die Science-Fiction-Serie "The Nevers" (Freitag).
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Bühne

Im Streit um Rassismus und Machtmissbrauch an den Bühnen spielen die Opern eine geringere Rolle als die Theater. In der FAZ sprechen fünf IntendantInnen über die Situation an ihren Häusern, in denen die Leitung schon länger geteilt und ein Verhaltenskodex etabliert sei. Bleibt die Frage nach dem Genie in der Kunst. Der Frankfurter Intendant Bernd Loebe etwa erzählt: "Ich erlebte vor Jahren bei Schlussproben einen Regisseur, der eine Sängerin regelrecht fertiggemacht hat, weil er den Eindruck hatte, sie würde ihn nicht verstehen. Er hat fast geweint und benahm sich wie Rumpelstilzchen. Ich überlegte: 'Werfe ich ihn raus? Und, wenn ja, wann?' Ich empfand die Situation als unerträglich, ging zur Sängerin und entschuldigte mich für den Vorfall. Da stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie sagte: 'Solche Intensität habe ich mein ganzes Leben lang noch nicht erlebt. Dieser Mann hat doch gelitten! Gelitten daran, dass ich nicht gut war.' Ich war sprachlos in diesem Moment." Antwortet Susanne Moser von der Komischen Oper: "Ich finde, dass kein Genie seine Genialität durch Machtmissbrauch oder die Erniedrigung von Darstellerinnen und Darstellern zum Ausdruck bringen sollte." Ausführlich schreibt auch Johannes Franzen in 54Books zu Macht und Geniekult in der Kunst. Im Tagesspiegel berichtet Christiane Peitz von einer Diskussion der Grünen zum Thema. Und wir gucken künftig statt Fassbinder den "Landarzt".

Auch das Zürcher Schauspielhaus muss modernisiert werden, berichtet Sabine von Fischer in der NZZ, dem Theater steht dafür eine bescheidene Summe von 100 Millionen Franken zur Verfügung (die Frankfurter Bühnen beanspruchen für ihre Sanierung 1 Milliarde Euro). Die Fassade des späthistoristischen Pfauen gilt als unantastbar, trotzdem sei die große Frage: Erhalt oder Erneuerung: Für eine Erhaltung sprächen Umweltgründe ebenso wie die Aura des Ortes: "Auf der Pfauenbühne wurde eben trotz - und vielleicht zuweilen auch wegen - dem vielen Kopfzerbrechen in den engen Räumen großartiges Theater aufgeführt. Auch für den Abbruch gibt es Argumente. Eine Bühne, auf, neben und hinter der sich technische Abläufe wie auf einer Autobahn uneingeschränkt abwickeln ließen, könnte der Kreativität freieren Lauf bieten." Am wichtigsten ist Fischer jedoch eine Entscheidung mit Vision: "Die Geschichte des Theaters kennen wir, die Zukunft nicht."

Besprochen werden Claude Viviers Schubert-Oper "Lonely Childs" am Münchner Theater am Gärnterplatz (die mit ihren Schubertiaden doch ein etwas biedermeierliches Bild des Komponisten vermittelt, wie Marco Frei in der NZZ schreibt), das Programm des Heidelberger Stückemarkts (taz) und eine Videoinstallation zu Ruth Klügers Autobiografie "Weiter leben" in Wien (Standard).
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Literatur

Die Comicübersetzerin Lea Hübner wirft für den Tagesspiegel einen Blick nach Brasilien, wo sich Karikaturisten und Comiczeichner von Bolsonaro teils erheblichen Repressalien ausgesetzt sehen. Für Comicverlage ist dabei besonders bitter, dass beim schwachen brasilianischen Buchmarkt staatliche Einrichtungen wie Bibliotheken und Schulen besonders wichtige Kunden sind. "Es sei großartig gewesen, dass Bücher wie die seines Autors Marcelo D' Salete 'Cumbe' und 'Angola Janga' über Schwarzen Widerstand während der Kolonialzeit, erschienen 2014 und 2017, für den Geschichtsunterricht angeschafft worden seien, und ein Beispiel für die damalige Progressivität. Heute hingegen könne jeder Titel Probleme bringen, der auch nur den Anschein habe, nicht konform zu sein zur Linie Bolsonaros", erklärt Rogério de Campos vom unabhängigen Comicverlag Veneta.

Niklas Bender liest sich für die FAZ durch die "Blätter", Marcel Prousts nun bei Gallimard erschienene Vorstufe zur "Suche nach der verlorenen Zeit", und ist nicht nur entzückt darüber, dass man Prousts Meisterwerk hier beim Werden und dem Autor beim Finden der Form zusehen kann, sondern auch erstaunt darüber, wie offenherzig Proust hier noch teils über Dinge schreibt, die er in der "Recherche" in die Andeutung verschiebt: "Vertraute finden sich unter Klarnamen, besonders Großmutter Adèle tritt uns in Rohversion, als naturnahe, schmuddelige, schroffe Person entgegen. Abermals sieht man, was der Schreibprozess ändert: Proust wird die Großmutter auf die Rolle des verklärt erinnerten Opfers festlegen und den Namen der Mutter, Jeanne, der nur hier fällt, tilgen."

Außerdem: Astrid Kaminski spricht in der taz mit der Baumforscherin und Literaturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke unter anderem über Bäume in der Literatur.

Besprochen werden unter anderem Anna Brüggemanns Debütroman "Trennungsroman" (FR), Chaza Charafeddines Autobiografie "Beirut für wilde Mädchen" (Freitag), Anna Baars "Nil" (NZZ), Leslie Jamisons Essayband "Es muss schreien, es muss brennen" (Dlf Kultur), Ali Smiths "Frühling" (Dlf Kultur), Michael Jaegers Buch über Goethes "Faust" (SZ) und Juli Zehs "Über Menschen" (FAZ).

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Kunst

Alexei Venetsianov: Sommerernte, um 1825. Bild: Tretjakow-Galerie

Während der Kreml kritische Künstler in Russland schikaniert (unser Resümee), eröffnet in Moskau eine große Romantik-Schau mit Beteiligung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Für FAZ-Kritiker Stefan Trinks reicht der Titel "Träume von Freiheit", um das Gala-Ereignis in der Neuen Tretjakow-Galerie zu legitimieren: "Obgleich vor vier Jahren konzipiert, trifft die Gegenüberstellung von deutschen und russischen Romantikern plus ihren aktuellen Nachfolgern mit dem ewigen Ringen um Freiheit ins Herz, damals wie heute, hier wie dort. Denn wäre es denkbar, dass es keinen politischeren Stil gibt als die dessen selten verdächtigte Romantik, die unseren modernen Kunstbegriff wie nichts sonst prägte? Die Romantik ist kein klar umgrenzter Kunststil, eher eine innere Haltung."

Weiteres: In der Berliner Zeitung stellt Hanno Hauenstein das Projekt "This is Germany" der südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz vor, die darin Reizwörter wie "Z-Sauße", "Biodeutsch" oder "Cancel Culture" bearbeitet. In Monopol berichtet Elke Buhr vom langsamen Anfahre des Messebetriebs in New York und Hongkong. Besprochen wird eine Ausstellung der Fotografin Elfie Semotan im Kunsthaus Wien (Standard).
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Musik

Eine Studie im Auftrag der Bundesregierung belegt, dass Gangsta-Rap mitunter den Nährboden für Antisemitismus unter Jugendlichen bereiten kann, berichtet Moritz Baumstieger in der SZ: "In Einzel- und Gruppeninterviews zeigte so mehr als ein Viertel der jungen Befragten (26,5 Prozent) sehr starke judenfeindliche Haltungen. In dieser Gruppe war der Anteil der Fans von Gangsta-Rap mit 81,4 Prozent besonders hoch. Jugendliche, bei denen die Forscher keinerlei antisemitische Anklänge fanden, gaben hingegen nicht einmal zur Hälfte an, Gangsta-Rap gerne oder sehr gerne zu mögen (48,9 Prozent). Ähnliche Korrelationen beobachtet die Studie bei frauenverachtenden und chauvinistischen Einstellungen, nicht aber bei rassistischen."

Sufjan Stevens ist seit vielen Jahren das Lieblings-Indie-Darling der Feuilletons und um manische Projekte nie verlegen. Fünf Alben umfasst sein neuer Zyklus "Convocations", sehr meditativ soll es darauf zugehen, aber vielleicht ist Stevens auch beim Meditieren einfach viel zu manisch, meint SZ-Popkolumnist Jakob Biazza. Fünf Alben sind es eh, aber man könnte genauso gut sagen: Ein langer Song, der "nun ja, vermutlich irgendwie tantrisch ist oder so - aber halt schon auch gleichförmig. Anders gesagt: Wenn man sich unbedingt ein Album mit bläwolkigem Synthie-Gesäusel zulegen möchte, dann sollte das freilich unbedingt von Sufjan Stevens sein. Aber der Vorgang an sich ist eben doch grundfalsch." Wir wagen trotzdem ein Ohr:



Weitere Artikel:  Für den Tagesspiegel porträtiert Julia Lorenz die Hamburger Indie-Musikerin Sophia Kennedy. Im Standard spricht Danger Dan über seinen "Kunstfreiheit"-Song und dass Militanz gegen Nazis als "letzte Möglichkeit" okay ist, als "vorletzte" hingegen eher nicht.

Besprochen werden das neue Album von Ja Panik (ByteFM, mehr dazu hier) Igor Levits Buch "Hauskonzert" (Standard).
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