Efeu - Die Kulturrundschau

Das Moderne wird begradigt

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18.06.2021. Hubert Winkels singt in Klagenfurt ein Loblied auf die intellektuelle Literaturkritik. Die Theaterkritiker kommen froh aus Oliver Frljićs angenehm undoktrinärem Abend "Alles unter Kontrolle" am Gorki Theater. Zeit online erfährt aus Ute Adamczewskis Dokumentarfilm "Zustand und Gelände", wie die NS-Frauenschaft half, die Schreie der gequälten Häftlinge zu ersticken. FAZ und Zeit denken anlässlich der Ausstellung über die Anfänge der Documenta im DHM über Abstraktion, Politik, Macht und Verdrängung nach. Die FAS hört Musik ohne Regeln des Esbjörn Svensson Trios.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.06.2021 finden Sie hier

Kunst

In der SZ stellen Jörg Häntzschel und Catrin Lorch den neuen Leiter des Berliner Hauses der Kulturen der Welt vor, den aus Kamerun stammenden Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, konzentrieren sich dabei aber mehr auf seinen Lebenslauf als auf die Kunst, für die er steht. Konkreter wird in der Welt Swantje Karich, die sich an Ndikungs Arbeit für die Documenta 14 erinnert: "Ndikung, so viel wurde damals klar, steht für den Typus Kurator, der sich als Gegengewicht zur 'herrschenden Gesellschaft' sieht. In der inhaltlichen Wirkung jedoch blieb er stets seltsam blass. Nur ein Beispiel: Für 'Every Time A Ear di Soun' sendete er zur Documenta akustische Kunstwerke im Radio - aus Griechenland, Kamerun, dem Libanon, Indonesien, den USA und Deutschland. Nette Idee. Das Programm wurde im Deutschlandfunk übertragen. Das Ergebnis aber war vollständig verquast, weil man die Zusammenhänge nicht verstehen konnte, nie wusste, was das wirre Gerede überhaupt soll. Die inhaltliche Unschärfe der Kuratoren hat der Documenta damals massiv geschadet. Hoffnung gibt es dennoch: Ndikung könnte sich im HKW als guter Manager und Netzwerker erweisen." Karich weist auch darauf hin, dass Ndikung das Papier der "Initiative gg 5.3. Weltoffenheit" sowie das darauf folgende Künstlerpapier unteschrieben hat, die BDS-Positionen Raum geben wollen.

Werner Haftmann und Arnold Bode bei der Eröffnungsfeier der documenta 3, 1964. documenta archiv © Wolfgang Haut, Frankfurter Allgemeine Zeitung


Dass eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin die Geschichte der Documenta erzählt und dabei die weggedrückten Seiten mit in den Blick nimmt, wie die SS-Mitgliedschaft und die Kriegsverbrechen des Documenta-Mitbegründers Werner Haftmann, findet Andreas Kilb in der FAZ erstmal löblich. Aber ganz zufrieden ist er mit der Ausstellung dennoch nicht: Die Documenta 1 "wollte unpolitisch, unhistorisch sein. Darin lag ihr Versäumnis wie das der frühen westdeutschen Kunstpolitik überhaupt. Mit der Documenta 2 hielt dann das Politische in Gestalt der amerikanischen Abstrakten in Kassel Einzug. Die Abstraktion wurde, von Haftmann gepriesen, als Inbegriff artistischer Freiheit zur Leitkunst des Westens. Aber auch dieses Dogma zerbrach, als 1977 die DDR-Staatskünstler nach Kassel kamen, Sitte, Tübke, Heisig, Mattheuer. Insofern bildete die Documenta immer exakt die politische Großwetterlage ab." Kilb hätte sich gewünscht, dass die Ausstellung sich von der Chronologie löst und an Beispielen zeigt, wie sehr die "Dialektik von Kunst und Politik" noch jede Documenta geprägt hat. "Stattdessen dehnt sie sich in die Breite ihres Gegenstands, ohne ihn dabei in mehr als nur groben Umrissen fassen zu können."

Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Artikel zur Ausstellung online nachgereicht, der es ähnlich sieht wie Kilb, wenn er schreibt: "Abstraktion galt Haftmann als ewige Weltsprache, und was nicht abstrakt war, schien gestrig. Figürlich-realistisch malte man schließlich in der DDR, und die hielt man für bekämpfenswert. So besaß das Ideal der autonomen Abstraktion in Wahrheit enge Grenzen. Sie verliefen entlang des Eisernen Vorhangs. Dieses Dogma, dem zufolge nur das politisch Gute auch ästhetisch wertvoll sein kann, prägt die Documenta bis heute. Und prägt auch den Kanon in vielen westdeutschen Museen."

Weitere Artikel: In der NZZ überlegt Christian Saehrendt, warum Joseph Beuys bei den Grünen letztendlich scheiterte. Philipp Meier überlegt in der NZZ nach dem Besuch der Ausstellung Lorenza Longhis in der Zürcher Kunsthalle, wie man eigentlich Kunst erkennt. In der FAZ meint Stefan Trinks: nur eine Infrarot-Aufnahme können klarstellen, ob eine Tafel des Crailsheimer Altars tatsächlich von Dürer ist. Und Victor Sattler stellt den Künstler Maximilian Prüfer vor, der sich mit Schwarmintelligenz beschäftigt.
Archiv: Kunst

Literatur

Hubert Winkels singt in seiner "Klagenfurter Rede zur Literatur", mit der der Bachmannwettbewerb eröffnet wird, ein Loblied auf die intellektuelle Literaturkritik und kritisiert eine sich "stark verändernde Diskurskultur" durch die sozialen Medien, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Ist Winkels' hoher Ton "jetzt kunstreligiös? Sind das die Wunschträume eines Kritikers, der sich inzwischen an 'den Katzentisch der kulturellen Öffentlichkeit' versetzt sieht? Man mag einiges von dem, was Winkels sagt, sofort unterschreiben, gerade als Literaturmedienarbeiter - auch wenn die Klarheit im Ausdruck der Rede manchmal zu wünschen übrig lässt, Winkels zu Schlangensätzen und einer gewissen intellektuellen Gespreiztheit neigt und Begriffe wie 'aprotopäische Reaktion' verwendet. Doch nehmt dies, Medienverantwortliche!"

"Es gab schon leichter verständliche Reden zur Literatur in Klagenfurt", seufzt auch Jan Wiele in der FAZ. Aber gerade darin lag ja vielleicht auch die Pointe, meint er: "In ihrem Zentrum stand ein Begriff, der auch in den Debatten um Kürzung und Banalisierung von Kultursendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuletzt wieder aus der Scham-Ecke in die Mitte des Raumes geholt wird: der des Bildungsbürgertums. Für manche ist das ein Schimpfwort, und ebenda liegt der Hase im Pfeffer, wenn Intendanten und Programmverantwortliche ihr inzwischen immergleiches Unternehmensberater-Vokabular auf Kultur anwenden, um Niveausenkungen zu verbrämen. Dem trat Winkels entgegen, indem er noch einmal ganz stark für die Kritik als eigene Kunstform plädierte."

Der erste Lesetag in Klagefurt hingegen war eher nicht sonderlich ergiebig, schreiben Gerrit Bartels (Tagesspiegel), der allerdings Necati Öziri als Ausnahme hervorhebt, und Michael Wurmitzer (Standard).

Außerdem: In der Dante-Reihe der FAZ erzählt Ursula Scheer, wie sich die Schmuckdesignerin Rosh Mahtani von Dante zu einem ganzen Schmuckzyklus inspirieren ließ. Im Standard gratuliert Ronald Pohl dem Schriftsteller Peter Rosei zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Judith Kellers "Oder?" (NZZ) und Leïla Slimanis "Das Land der Anderen" (NZZ).
Archiv: Literatur

Architektur

In Berlin will eine Initiative den drohenden Abriss des verfallenden Hauses Poelzig im Westend verhindern. "Es ist das einzige Gebäude, für das Marlene Moeschke-Poelzig, die von 1894 bis 1985 gelebt hat, alleine verantwortlich war", erklärt Jan Schultheiß von der Initiative im Interview mit der taz. "Sie war Architektin und Bildhauerin, eine wichtige Gestalterin des frühen 20. Jahrhunderts, zweite Frau des berühmten Architekten Hans Poelzig, der etwa das Haus des Rundfunks entworfen hat. Damals war das eine Ausnahme, dass Frauen ihre architektonischen Entwürfe auch bauen konnten. Und das hat sich 100 Jahre später nicht grundlegend verbessert. Das Haus Marlene Poelzig ist ein bemerkenswertes Gebäude, mit dem Garten zusammen ein Gesamtkunstwerk. Das Gebäude wurde damals zu einem Treffpunkt in Westend. An diese Tradition möchten wir anknüpfen." Die Initiative demonstriert heute von 16-18 Uhr vor dem Haus in der Tannenbergallee 28, S-Bahnhof Heerstraße, gegen den Abriss, mehr Infos hier.
Archiv: Architektur

Film

Orte des nationalsozialistischen Terrors in "Zustand und Gelände" (Grandfilm)

Ute Adamczewskis Dokumentarfilm "Zustand und Gelände" befasst sich mit den weitgehend in Vergessenheit geratenen Häusern, in denen die nationalsozialistische Terrorherrschaft schon in den ersten Monaten des Jahren 1933  eskalierte. "Die SA sperrte Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, seltener Zeugen Jehovas und Juden in Sporthallen, Jugendherbergen, Schlössern, Fabriken und Gaststätten ein, unter den Augen der Bevölkerung, in Zusammenarbeit mit Polizei, Kommunalverwaltungen, Gewerbevereinen", erklärt Sabine Horst auf ZeitOnline. "Es wurden Stellen ausgeschrieben, Waren geordert, Kosten verrechnet. Aus dem Volkshaus Reichenbach, wo man die Gaststube für Vernehmungen hergerichtet hatte, drangen die Schreie der gepeinigten Häftlinge auf den Marktplatz, was eine gewisse Unruhe erzeugte. Für Abhilfe sorgte die NS-Frauenschaft; sie schickte ein 'dickes Federkissen, etwa 50 Zentimeter im Quadrat', in das die Gesichter der Opfer gedrückt wurden."

Der Film "steht in der Tradition von Claude Lanzmanns Shoah", schreibt Julia Hertäg im Freitag. "Er verweigert sich der Dramatisierung, stattdessen geht es ihm um Bestandsaufnahme, Betrachtung, Zuhören, Reflexion. Doch statt wie Lanzmann Menschen aus Fleisch und Blut sprechen zu lassen, zieht Adamczewski das geschriebene Wort heran. ... Doch auch in den Bildern fällt die Abwesenheit von Menschen auf. Auch bei intakten Gebäuden bleiben die, die sich dort aufhalten, im Film unsichtbar. Lediglich ein paar Passanten durchqueren das Bild. In vielen Einstellungen wirken die Gebäude wie Exponate in einem Freiluftmuseum, das gerade geschlossen ist."

Weitere Artikel: Bei der Sommerberlinale geht es allein um Stadtmarketing, ärgert sich Rüdiger Suchsland auf Artechock. Gunda Bartels porträtiert im Tagesspiegel den Schauspieler Tom Schilling. David Steinitz erinnert in der SZ an Paul Verhoevens Skandalthriller "Basic Instinct", der vor 30 Jahren in die Kinos kam.

Besprochen werden Aleksandre Koberidzes auf der Berlinale gezeigter "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" (Perlentaucher), neues iranisches Kino auf der Berlinale (Tagesspiegel), der Horrorfilm "A Quiet Place 2" (NZZ, Standard) und die Serie "Sweet Tooth" (Presse).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Alles unter Kontrolle", Foto: Ute Langkafel/Maifoto


Im Gorki Theater lotst Regisseur Oliver Frljić in Zehnergruppen durch einen Parcour mit zehn Stationen, die an Käfige erinnern. Das ganze ähnelt einem Gefängnistrakt, meint in der nachtkritik Simone Kaempf, die den Abend angenehm abwechslungsreich und überraschend fand. Zum Beispiel an dieser Station: "Wie bei einem Verhör sitzen sich Maryam Abu Kahled und Emre Aksızoğlu gegenüber, es geht um Juliano Mer-Khamis, Gründer des Freedem Theatre und den Mord an ihm. Aber auch ganz theaterselbstreferenziell darum, ob der Wunsch, auf der Bühne sich selber zu spielen, nur ein falscher Versuch von Kontrolle ist - Einlassungen mit eindeutiger Gorki-Handschrift, die von Aksızoğlu sogar ironisch kommentiert werden: 'We are both trapped - this is the hell of representation'." In der taz lobt Tom Mustroph den Abend als "szenisch ambitionierten Versuch, vorpandemische wie auch durch die Pandemie zugespitzte Machtkonstellationen aufzuzeigen. Auswege sind nicht in Sicht. Spürbar wird vor allem das Unbehagen am Wollen, alles in den Griff zu kriegen, und jedem und jeder den adäquaten Platz im Repräsentations- und Seinsspektakel zuzuweisen." Ein virtuoses "Ein Aufklärungsstück der Finsternis", sekundert Doris Meierheinrich in der Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: Sidi Larbi Cherkaoui wird neuer Leiter des Balletts in Genf, meldet Dorion Weickmann in der SZ. In der taz unterhält sich Petra Schellen mit der Hamburger Choreografin Yolanda Gutiérrez über deren Performance-Projekt "Decolonycities Kigali - Hamburg".

Besprochen werden außerdem Thomas Sutters Inszenierung "Beethoven - ein Leben" auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin (nmz), die Uraufführung von Marie NDiayes Stück "Berlin mon garçon" am Odéon Théâtre de l'Europe in Paris in der Inszenierung von Stanislas Nordey (nachtkritik), "lonely ballads EINS + ZWEI" von Martin Grubers aktionstheater ensemble im Werk X in Wien (Standard, nachtkritik), Marlene Monteiro Freitas' Tanz-Musiktheater zu Schönbergs "Pierrot lunaire" im Wiener Museumsquartier (Standard, nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

"XXXX", das neue, weitgehend ins Assoziative hineinimprovisierte Album des Jazzpianisten Michael Wollny mit seiner Band, steht in einer Traditionslinie von Miles Davis' "Bitches Brew" und "Leucocyte" des Esbjörn Svensson Trios, schwärmt Thomas Lindemann in seiner online nachgereichten FAS-Kritik. Denn zu hören gibt es "Musik ohne Regeln. Musik, die ihren Sinn selbst erfindet und sich selbst ihre Grundlage gibt. ... Sie fängt an mit unheimlichem Klopfen und Krachen, heulenden Schauergeräuschen und einem Zischen wie von einer künstlichen Lunge. Ist das der Kommentar der Musik zur Coronakrise? Becken und Hi-Hats mischen sich ein, vibrierende Synthesizer, und dann marschiert ein Beat los, das Saxofon wirft ein Thema herein, der Bass spielt ein Ostinato in hohen Lagen. Und man ist mittendrin. In einer Welt, die aus Science-Fiction-Film, Edgar-Allan-Poe-Hörbuch, Videospiel, Krautrock oder 1970er-Fusion-Musik stammen könnte." Wir hören rein:



Hin und weg ist Dorothee Vögeli in der NZZ von der nach langer Sanierung und Restaurierung neu erstrahlenden Tonhalle in Zürich, die sie früher nicht sonderlich mochte: "Wo es einst düsteren Beton statt Aussicht gab, schweift nun der Blick durch die wandfüllende Fensterfront über eine großzügige Terrasse bis hin zu den weißen Gipfeln der Glarner Alpen. Es ist, als hätte das lichtdurchflutete Foyer meine Wahrnehmung verändert. ... Alles ist noch da, Kronleuchter, Säulen, Stuck und Deckenmalereien. Festlich und trotzdem nicht pompös, elegant, aber nicht auftrumpfend - ich entdecke die Schönheit der 1895 erbauten Tonhalle."

Weitere Artikel: In Wien freut man sich auf die Rückkehr der Clubs, berichtet Amira Ben Saoud im Standard. Die FAZ spricht mit Michael Nass und Tina Powileit von der Band Die Seilschaft, die nach der Wende mit Gerhard Gundermann zusammengearbeitet hat.

Besprochen werden das ohne Publikum gegebene Berliner Konzert der ESC-Gewinner Måneskin (ZeitOnline), neue Alben von Japanese Breakfast (taz) und Kings of Convenience (Freitag), sowie Herbert Blomstedts erste Abschiedskonzerte von der Tonhalle-Maag in Zürich, die ab Juli ihre Pforten schließt (NZZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Manfred Prescher über "Boris the Spider" von The Who:

Archiv: Musik