Efeu - Die Kulturrundschau

Pauken, dickes Blech, hibbelige Flöten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2021. Die FAZ findet mit dem Psychiatrie-Patienten Maurice Blin den französischen Otto Dix in der Sammlung Prinzhorn. In der Welt erklärt Klaus Biesenbach, wie er die Neue Nationalgalerie diverser machen will. Die English Touring Opera entlässt derweil die Hälfte ihres Orchesters: Sie sind zu weiß, melden FAZ und Daily Mail. Auf 54books beklagt Till Raether einen Mangel an Fundamentalkritik gegenüber der Polizei im Krimi. Die Theaterkritiker taumeln mit Oliver Frljics "Brüdern Karamasow" am Hamburger Schauspielhaus von Debatte zu Debatte. Und die SZ spürt das pralle Leben im locker aus dem Handgelenk geshuffelten Groove von Little Simz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Egon Schiele: "Selbstbildnis mit herabgezogenem Augenlid". 1910 Albertina, Wien

Unter den Blicken Egon Schieles vergisst Standard-Kritikerin Katharina Rustler fast die anderen zwölf KünstlerInnen, darunter Cindy Sherman, Georg Baselitz oder Maria Lassnig, die die Wiener Albertina Modern dem Maler in der Ausstellung "Schiele und die Folgen" gegenüberstellt: "Im ersten Bild der Ausstellung zieht sich der Künstler das Augenlid als Ausdruck höchster Skepsis nach unten - und zwar sich selbst gegenüber. Es existiert ein zweites Bild mit demselben Motiv, nur ist es noch im Stil der Secession gehalten. Weil er diesem braven Schönheitsideal nicht mehr gerecht werden wollte, verzerrte Schiele seinen Körper in der zweiten Version. Zu den Gründen dieses Wandels zählten die Armut, in der Schiele aufgewachsen war, sowie der frühe Tod seines Vaters. Der psychische Zerfall des an Syphilis Erkrankten kann als Indikator dafür verstanden werden, dass Schiele Menschen mit Geisteskrankheit und Hysterie studierte und die Beobachtungen in seine Arbeit einfließen ließ."

Klaus Biesenbach gibt dieser Tage Interviews am Fließband. Gestern sprach der designierte Direktor der Neuen Nationalgalerie und des Museums des 20. Jahrhunderts mit der SZ (unser Resümee), heute mit dem Tsp (hinter Paywall), der FR und der Welt, in der er Boris Pofalla unter anderem seine Pläne für die Neue Nationalgalerie verrät: "Man muss analysieren, was die Nationalgalerie nicht gesammelt hat und warum. Die Sammlung muss diverser werden, mehr Künstler aus anderen Regionen umfassen, es müssen mehr Frauen vertreten sein. Vor allen Dingen muss man mit einem zeitgenössischen Blick, mit dem Blick des 21. Jahrhunderts, sowohl reflektieren als auch antizipieren. Sowohl nach vorn und als auch zurückschauen. Entweder dadurch, dass man mit zeitgenössischen Künstlern arbeitet, oder dadurch, dass man die Kunst der Moderne auf eine ganz überraschende, neue zeitgenössische Weise zeigt."

Beim Anblick der Karikaturen, Tiersatiren, "Obszönitäten" und weiteren Werke von Psychiatrie-Patienten, die die Heidelberger Sammlung Prinzhorn in Zusammenarbeit mit ihrem französischen Äquivalent, dem Pariser Musée d'Art et d'Histoire de l'Hopital Saint-Anne, derzeit in der Ausstellung "Wahnsinnig komisch - Follement drôle. Humor in der Psychiatrie" zeigt, bleibt Edo Reents in der FAZ bisweilen das Lachen im Halse stecken: "Als besonders produktiv erweist sich der Franzose Maurice Blin; aber der hatte auch am meisten Zeit und verbrachte einen großen Teil seines Lebens in psychiatrischen Anstalten. Seine vielseitige, farbenprächtige Satire lässt in ihrer gleichsam verspätet neusachlichen Bissigkeit zuweilen an Otto Dix denken. Über die manchmal recht drastischen Züge seiner Arbeiten zur Rede gestellt, wiegelte er regelmäßig ab und sprach stur nur von 'geometrischen Konstruktionen'."

Außerdem: Ai Weiwei hatte in einem Interview mit der Schweizer Zeitung 20 Minuten gesagt, die Schweiz sei der "scheinheiligste Staat der Welt, sie gebe sich neutral, profitiere von den Verbrechen anderer", meldet Marcus Woeller in der Welt. Und weiter: "Die Finanzwirtschaft verurteilte er als Handlanger Chinas, vor allem der Schweizer Großbank Credit Suisse machte Ai Weiwei Vorwürfe. Die will jetzt das Konto seiner Stiftung auflösen." Woeller kommentiert: "Man muss Ai Weiweis Sorge über die Einschüchterungspolitik Chinas ernst nehmen. Gerade erst hat das M+ Museum in Hongkong, das im November für das Publikum eröffnen soll, ein berühmtes Werk Ai Weiweis von der Webseite genommen." Vom 18. September bis 3. Oktober wird der Pariser Arc de Triomphe in Gedenken an Christo und Jeanne-Claude verhüllt sein, meldet der Tagesspiegel. Für die taz-Reihe zu deutschen Kunstvereinen erkundet Hajo Schiff heute den Harburger Bahnhof, der derzeit die Ausstellung "Grind&Shine Inc. by Cake&Cash presents Francis Kussatz" zeigt. Im Standard-Interview spricht der Galerist Johann König über seine Pläne für Martin Hos Kleines Haus der Kunst in Wien.

Besprochen werden die Ausstellung "Antlitz Hermann Gitter" im Kunstpavillon Innsbruck (Standard) und die bei Netflix gezeigte Bob-Ross-Doku "Glückliche Unfälle, Betrug & Gier" über den Streit um das Millionenerbe des TV-Malers (SZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Mit sanfter Skepsis beobachtet Dirk Lüddecke in der SZ, wie der vor 700 Jahren verstorbene Dante Alighieri zum Zeitgenossen unserer Tage stilisiert wird. Bei einer genauen Lektüre "bleibt die Ahnung eines Abstands. Zu Recht bedenkt Kurt Flasch zunächst einmal Gründe für 'Dantes Ferne'. Dante lesend auf seine Jenseitsreise zu begleiten, bedeutet Aufenthalt in einem Hochrisikogebiet zu wagen, ohne zu wissen, wie man zurückkommt und wie einem, verwandelt, die Gegenwart danach erscheint. ... Es waren die Sterne eines geordneten, geschlossenen Kosmos, dessen gewaltiger Stufenbau durch Dantes kosmologische Dichtung erhellt und durchmessen wurde. Und während heute erste Sonden den Mars erreichen, die Himmelsphäre, die der Dichter den Kämpfern für den Glauben zugedacht hat, ist uns Dante heute fern wie die Sterne eines offenen Universums."

Der Krimiautor Till Raether geißelt sich in einem 54books-Essay dafür, dass er, wie auch seine Genre-Kolleginnen und -Kollegen, in seinen Romanen der Polizei gegenüber nicht fundamentalkritisch genug gewesen sei: Dies führe "zu einer merkwürdigen Vermischung und Nähe von Staatsapparat und Literatur, in ästhetischer wie in räumlicher Hinsicht." Die selbstattestierte "Verantworungslosigkeit" betreffe "auch die Sprache. An einer Stelle benutzt ein Polizist das deutsche N-Wort, damit die Leser*innen begreifen, wie rassistisch diese Figur sich verhält. In der neuen Ausgabe des Buches, die jetzt erscheint, habe ich das N-Wort gestrichen. Die Figur wird ohne das Wort genauso begreifbar."

Außerdem: Jens Uthoff porträtiert in der taz Gunnar Cynybulk, der gerade mit einer Neuauflage von Bov Bjergs Debütroman "Deadline" und Katharina Volckmers "Der Termin" den unabhängigen Kanon-Verlag gegründet hat. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schrifsteller Ivan Klíma zum 90. Geburtstag. Gustav Seibt (SZ), Magnus Klaue (Tagesspiegel) und Patrick Bahners (FAZ) gratulieren dem Schriftsteller Eckhard Henscheid zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Friedrich Christian Delius' "Die sieben Sprachen des Schweigens" (Dlf Kultur), Bae Suahs "Weiße Nacht" (Intellectures), Sarah Jägers "Die Nacht so groß wie wir" (Dlf Kultur), George Orwells "Reise durch Ruinen" mit Reportagen aus Deutschland und Österreich im Jahr 1945 (Tagesspiegel), Felicitas Hoppes "Die Nibelungen" (SZ) und Jean-Philippe Toussaints "Die Gefühle" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Audrey Diwans Venedig-Gewinner "Das Ereignis" (nach dem gleichnamigen Roman von Annie Ernaux) wurde gestern doch eher skeptisch beäugt (unser Resümee). In seinem Artechock-Fazit vom Festival kommt Rüdiger Suchsland dem Film über eine Abtreibung im Frankreich der Sechzigerjahre zu Hilfe: Dessen Auszeichnung war berechtigt, denn er "hinterlässt auch acht Tage nach seiner Premiere einen sehr starken Eindruck. Weil er im Gegensatz zu vielen seiner Vorläufer auf sehr bestimmte, zum Teil ungewöhnliche Art erzählt. Mit den Mitteln des alten Kinos - 16mm und 4:3-Format - erzählt die Regisseurin ganz nüchtern, konzentriert, in einer filmischen Ästhetik, die sich an die Bilder der frühen Sechziger anlehnt. ... Der Film rückt ein Individuum ins Zentrum, und die Frage der Freiheit; er bewegt sich weg von schlichten Gegensätzen wie dem zwischen Männern und Frauen, hin zum Gedanken an Solidarität, und Anteilnahme. Und er instrumentalisiert sein Thema nie für weitere politische Agenden."

In epdFilm empfiehlt Gerhard Midding eine Filmreihe im Berliner Kino Arsenal, die den japanischen Drehbuchautorinnen Yoko Mizuki und Sumie Tanaka gewidmet ist: "Die Bedeutung eines solchen Perspektivenwechsels kann man nicht oft genug betonen, denn wir schätzen den Beitrag von Drehbuchautoren immer noch zu gering. Sie sind unbesungene Helden, nicht nur kraft der Missgunst der Regisseure, sondern unserer eigenen Bequemlichkeit."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Katrin Hillgruber das neue Fellini-Museum in Rimini besucht. Besprochen werden Lothar Herzogs "1986" (Filmdienst), Václav Marhouls "The Painted Bird" (Filmdienst), Mariejosephin Schneiders "Notes of Berlin" (Filmdienst), James Cordens auf Amazon gezeigtes "Cinderella"-Musical (FAZ), die vom ZDF online gestellte Serie "Fett und Fett" (ZeitOnline) und Arthur Carys auf Sky gezeigter Dokumentarfilm "Surviving 9/11" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Die Brüder Karamasow". Sandra Gerling. Bild: Thomas Aurin

Ziemlich erschlagen kommen die TheaterkritikerInnen aus Oliver Frljics Inszenierung von Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" am Schauspielhaus Hamburg. Wo ist Frljics "Radikalität" geblieben, seufzt in der taz Katrin Ullmann, die zwischen dem zweieinhalbstündigen "Gebrülle" den roten Faden sucht: "Statt einen klaren inhaltlichen Fokus zu setzen, muss in seiner Inszenierung reichlich (Text-)Strecke gemacht werden. Dazu wird mal ein schwarzer Gazevorhang eingesetzt, mal ein Plastikherz an der Angel, mal ein zehn Meter langer Bart. Immer wird Klavier gespielt, mal wird dämonisch gelacht oder um Rubel gebettelt und oft wird einfach nur verloren im Raum herumgestanden." Dostojewski hätte seine Freude gehabt, glaubt zwar Nachtkritiker Stefan Forth, der auch das Ensemble lobt, die Inszenierung ingesamt aber ebenfalls "langatmig" und wenig zeitgemäß findet: "Stattdessen springt der Abend oft ausgesprochen ruckartig, ausgesprochen laut, ausgesprochen aufgeregt und ausgesprochen deutlich von Debatte zu Debatte, von Szene zu Szene. Auch den Spieler*innen bleibt dabei wenig Ruhe, wenig Raum."

Besprochen werden Andreas Homokis Inszenierung von Richard Strauss' "Salome" am Opernhaus Zürich (NZZ), Karen Stones Inszenierung von Verdis "Falstaff" am Theater Magdeburg (nmz), Leonie Böhms Inszenierung "NOORRRRAAAAAAAA" nach Henrik Ibsen am Berliner Maxim Gorki Theater (Nachtkritik), Stefan Bachmanns Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" am Schauspiel Köln (SZ) und Amir Reza Koohestanis Bearbeitung von Anna Seghers' Roman "Transit" beim Kunstfest Weimar (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Mark Fisher, Bühnenbildentwurf für U2, Popmart, 1997. Abbildung © Mark Fisher Collections (Courtesy Cristina Garcia/Stufish Entertainment Architects)


Ganz überwältigt kommt NZZ-Kritiker Ulf Meyer aus dem Berliner Museum für Architekturzeichnung, das Mark Fisher, dem "Architekten der Musik", der opulente Bühnenbilder unter anderem für Mick Jagger, Peter Gabriel, Tina Turner und Janet Jackson entwarf, eine Ausstellung widmet: "Ein großer Teil der Berliner Kabinettausstellung ist dem legendären 'The Wall'-Konzert gewidmet, angefangen bei Fishers erster Idee 1978 für eine gigantische aufblasbare Schnecke für Pink-Floyd-Konzerte inklusive ausgeklügelter Lichttechnik und multimedialer Effekte. Die Tournee der Band 1980/81 ging wegen ihrer Riesenfiguren wie der von dem Karikaturisten Gerald Scarfe entworfenen geifernden Lehrer und Pinks düsterer Übermutter in die Geschichte der Pop-Kultur ein. "

In der FR ist heute auch Judith von Sternburg ganz hingerissen vom neuen Romantik-Museum in Frankfurt: "Ein Wunder, und es sieht auch wunderbar aus, von außen, von innen, von innen nach außen, denn der Architekt Christoph Mäckler hat treffliche Durchblicke und Effekte eingeplant, so dass das Publikum beispielsweise im Foyer die historische Brandmauer des benachbarten Goethe-Hauses bestaunen kann."
Archiv: Architektur

Musik

Die English Touring Opera entlässt die Hälfte ihres Orchesters, darunter einige, die dort seit 20 Jahren und länger tätig waren, meldet Gina Thomas sehr kurz und knapp in der FAZ. Der Grund: Sie sind weiß und entsprechen daher nicht den Diversitätskriterien. Daily Mail bringt etwas mehr Informationen und dokumentiert den (mit viel Dankbarkeitskosmetik garnierten) Kündigungsbrief des Orchesterleiters an die freiberuflich tätigen und damit leicht zu schassenden Musiker: Man folge den Auflagen des Arts Council England, das es wiederum von sich weist, jemals verlangt zu haben, dass Musiker auf die Straße gesetzt werden. "Es ist der jüngste Schlag für die Musiker, die während der Pandemie größtenteils nicht arbeiten konnten und auf Stipendien und Kredite angewiesen waren. Sie sagten, sie hatten gehofft, dass sie in der Saison 2022 wieder arbeiten könnten, um die Schulden, die sie während der Pandemie angehäuft hatten, zurückzuzahlen."

Komplett umgehauen ist SZ-Kritiker Jakob Biazza vom neuen, von Dean Wynton Josiah Cover produzierten Album von Little Simz, für ihn eines der besten in diesem Jahr: "Da ist also der Orchester-Pomp. Ganz breite, Filmmusik-wuselige Partituren. In Teilen live eingespielt in den Abbey Road Studios übrigens und deshalb randvoll mit diesem Leben, dieser luftdurchlässigen, atmenden Herrlichkeit und Dynamik, die die Samples und Plug-ins und Midi-Tools inzwischen wirklich vollkommen trügerisch imitieren können. ... Man höre stellvertretend 'Standing Ovations', noch so ein großes, sanft bedrohliches Ungetüm: Pauken, dickes Blech, hibbelige Flöten, Stakkato-Streicher. Darunter ein schwer locker aus dem Handgelenk geshuffelter Groove, der in einen lieblich umzwitscherten Slow-Jam kippt - und von da sofort wieder lossprintet." Dieser enthusiatischen Anweisung folgen wir gern:



Weitere Artikel: Berthold Seliger resümiert im ND die Chorgesänge beim Musikfest Berlin. Besprochen werden ein von Teodor Currentzis dirigiertes Konzert des SWR-Symphonieorchesters mit Yulianna Avdeeva (Standard) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Magin-Aufnahme des Kremerata Baltica mit dem Pianisten Lucas Debargue (SZ).
Archiv: Musik