Efeu - Die Kulturrundschau

Mehr so eine Todesparty

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03.08.2022. Die FAZ bestaunt in einer Berliner Ausstellung das fantastisch düstere Comic-Tokio des Manga-Künstler Katsuhiro Ōtomo. Verweigerung kann heilsam sein, aber sie braucht ein Gegengift, das der Tagesspiegel in der Bayreuther "Walküre" vermisst. Musikalisch war die Sache aber tiptop, lobt die taz. Im Interview mit dem Standard warnt Yana Ross: Vorsicht vor Stiftungen mit Sitz im Schweizerischen Zug. Auf Zeit online macht Lilian Peter kurzen Prozess mit dem patriarchalen Schreiben. Die taz zieht den Bauch ein und probiert in der Münchner Pinakothek einen "Go FlyEase"-Schuh.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2022 finden Sie hier

Kunst

Katsuhiro Ōtomo, Akira, Schnitt Nr. 182. Finaler Produktonshintergrund. Toshiharu Mizutani.


Kevin Hanschke betrachtet in der Berliner Tchoban Foundation für die FAZ interessiert das Comic-Tokio, das sich der Manga-Künstler Katsuhiro Ōtomo in den Achtzigern für seinen Manga und das anschließende Anime "Akira" für die Zukunft vorgestellt hat. Beeinflusst wurde er dabei von der "Arbeit des Architekten Kenzo Tange. Die Idee, neue Quartiere für die schnell wachsende Stadt auf einer Mülldeponie in der Bucht von Tokio zu errichten, stammt direkt aus dessen städtebaulichem Plan von 1961." Für das Anime wiederum wurden "Tausende Skizzen angefertigt, die die Betrachter in die surreale Stadtlandschaft eintauchen lassen. Eine Zeichnung der Müllkippe, auf der Neo Tokyo errichtet ist, unterstreicht das: Trümmer ragen aus dem Moder heraus, im Hintergrund fällt ein Sonnenstrahl durch den schwarzen Himmel. Violett-weiß leuchten in einer weiteren Zeichnung die Wolkenkratzer im Hintergrund auf. Sie strahlen das Versprechen jeder großen Stadt aus: Freiheit und Anonymität. Im Vordergrund stehen die Gebäude der Vergangenheit: Art-déco-Häuser, stumme Zeugen der Zwanzigerjahre."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Surreal! Vorstellung neuer Wirklichkeiten" im Wiener Sigmund-Freud-Museum mit Werken von Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, André Masson und anderen Surrealisten (SZ) und eine Installation in Form einer Schrankwand von Henrike Naumann im Berliner Gropius-Bau (SZ).
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Bühne

Die Regisseurin Yana Ross hatte zusammen mit Lukas Bärfuss einen offenen Brief über problematische Sponsorings - etwa durch das Schweizer, aber einem Oligarchen gehörende  Bergbauunternehmen Solway - bei den Salzburger Festspielen veröffentlicht. Das Festival hatte daraufhin das Sponsoring mit Solway aufgelöst. Im Interview mit dem Standard kennt sie keine Gnade mit dem Dirigenten Teodor Currentzis, den sie als Geisel des russischen Systems beschreibt, in das er sich selbst begeben habe: "Stillschweigen ist eine Waffe, die tötet." Noch härter geht sie mit der Schweiz ins Gericht, wo russische Oligarchen bevorzugt ihr Geld in Stiftungen parken, darunter auch Solway: "In Russland herrscht null Transparenz. Viele Stiftungen sind zu nichts anderem da, als Geld zu waschen, jene des Dirigenten Valery Gergiev ist das beste Beispiel dafür. Aber es gibt noch einige weitere. Die meisten dieser Stiftungen oder Unternehmen sitzen in der Schweiz, vor allem in Zug. Als das Land nach dem Fall der Sowjetunion regelrecht geplündert wurde, wurde viel Geld ins Ausland geschafft. Das passiert bis heute. ... Unternehmen, die ihren Sitz in Zug haben, sollte man allgemein mit großer Skepsis betrachten. Schätzungsweise 80 Prozent der russischen Rohstoffe werden über Firmen in Zug gehandelt. Die Schweiz ist für mich leider einer der dunkelsten Orte Europas."

Todesparty mit Walküren. Foto: Enrico Nawrath


In Bayreuth hatte der zweite Teil des Rings in der Inszenierung von Valentin Schwarz Premiere. Zu gucken gabs viel, der Wotan fiel vom Stuhl und musste mitten in der Aufführung ersetzt werden, blieb aber ein "übergriffiger Typ, der sich an Tochter Sieglinde zu vergreifen droht", erzählt im Standard ein mäßig amüsierter Ljubiša Tošić. "Wotans Griff unter den Rock der Schlafenden erklärte auch, warum Sieglinde hier bereits vor der Begegnung mit Zwillingsbruder Siegmund, mit dem sie ja Siegfried zeugen soll, hochschwanger wirkt. Es hat sie wohl Vatermonster Wotan geschwängert, der bei Schwarz gleich auch Siegmund erschießt und dann kurz zusammenbricht. Dazu hätte Wotan schon zu Beginn der Walküre Gelegenheit gehabt. Schwarz zeigt eine Begräbnisszene. Offenbar hat Familienmitglied Freia Suizid begangen. Doch viel Trauer herrscht nicht. Um den Sarg herum gruppieren sich die Walküren, Brünnhilde und ihr Freund machen Selfies mit Wotan. Es ist mehr so eine Todesparty, und die Walküren sind auch sonst schmerzbefreit. Die Scheintraurigen halten sich Lustboys. Und schminken bedeutet für sie nur, Farbe auf jene Gesichtsteile aufzutragen, die zuvor von Skalpellen modelliert wurden."

Im Tagesspiegel findet Christiane Peitz die Inszenierung immer unstimmiger: "Es stimmt ja, wie Dramaturg Konrad Kuhn im Programm ausführt, dass es für den 'Ring' heutzutage keinen Speer, kein Schwert, keine Riesen oder Drachen braucht. Und dass auf der Bühne nicht ständig verdoppelt werden muss, was die Musik oft überdeutlich erzählt. Also enthält Valentin Schwarz dem Publikum nicht nur den Walkürenritt vor, sondern sogar den finalen Feuerzauber. ... Verweigerung kann heilsam sein, der Entzug der Droge Wagner. Aber das Gegengift müsste kräftig, der Kontrast zwischen musikalischer Erregung und theatraler Ernüchterung erhellend sein. Dafür fehlt es allerdings an Personenregie, ausgerechnet, wo Schwarz doch das trauma-durchwirkte Beziehungsgeflecht des Nibelungen-Clans ergründen will."

Immerhin musikalisch konnte diese "Walküre" überzeugen, lobt Regine Müller in der taz. "Musikalisch ist die 'Walküre' eine fulminante Steigerung zum 'Rheingold', Klaus Florian Vogt (Siegmund) und Lise Davidsen (Sieglinde) mit fulminanter Sopran-Kraft sind Idealbesetzungen, ebenso Georg Zeppenfeld als Hunding, Iréne Theorins flirrende Brünnhilde fällt dagegen ab. Die Walküren sind famos ausgewogen besetzt und präzis eingetaktet, Tomasz Koniecznys Wotan mit seinen Vokalfärbungen ist Geschmackssache, sein Einspringer Michael Kupfer-Radecky ungleich heller timbriert und textverständlicher. Cornelius Meister im Graben sorgt teils für ungewöhnlich gedehnte Tempi, nimmt aber im Laufe des Abends merklich Fahrt auf. Großer Jubel fürs Musikalische." Weitere Besprechungen in der nmz, NZZ, FAZ und SZ.

Weiteres: Das Theater Erfurt will seine ganze Saison 2022/23 dem antiken Griechenland widmen, staunt im Tagesspiegel Frederik Hanssen und dankt dem Himmel für das deutsche Stadttheatersystem, das solches möglich macht: Geplant sind u.a. Raritäten wie Felix Weingartners "Orestes", Glucks "Telemaco oder die Insel der Circe", Richard Rodgers' Musical "The Boys From Syracuse" und Rossinis "Belagerung von Korinth".

Besprochen werden Ivo van Hoves Inszenierung von Marieluise Fleißers "Ingolstadt" bei den Salzburger Festspielen (nachtkritik, Standard, SZ), Yana Ross' Inszenierung von Schnitzlers "Reigen" in Salzburg (nachtkritik) und Ernest Chaussons Opernrarität "Le roi Arthus" und die Symphonien von Brahms bei den Tiroler Festspielen in Erl (FAZ).
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Design

Werksentwurf (Tobie Hatfield), Go FlyEase, 2021. Foto: Pinakothek


Die Ausstellung "20 Jahre Pinakothek der Moderne" spiegelt anhand von 21 Designobjekten - eines für jedes Jahr - unter anderem auch unsere Gegenwart wider, schreibt Johanna Schmeller in der taz: "Covid und Co. mit UV-Licht killen, einer verkniffenen Gesellschaft mit zentimetergroßen Plastik-Gedächtnisstützen den Weg zu mehr Toleranz weisen, und dann dieser Schuh namens 'Go FlyEase', der perfekt sitzt, wenn der Bauch im Lockdown zu groß zum Schnürsenkelbinden geworden ist. Man schaut sie sich an, findet Querverbindungen und fragt sich verwundert, ob es wohl diese Dinge sind, die von uns einmal bleiben werden." Die Objekte der letzten Jahre zeigen "die Momentaufnahme einer um die eigene Gesundheit, Unterhaltung und zuletzt auch ums Überleben besorgten Gesellschaft."

Szene aus "Les Amants magnifiques". Kostüme: Erick Plaza-Cochet für die Opéra de Massy 2017. Foto: Sigrid Colomyès


In diesem Jahr feiert Frankreich Molières vierhundertsten Geburtstag. Aus diesem Anlass zeigt das Centre national du costume de scène in Moulins einen Ausstellung mit knapp 130 Kostümentwürfen vom 19. Jahrhundert bis heute. Marc Zitzmann bestaunt die Pracht für die FAZ: "Für seinen 1986 in Lissabon aus der Taufe gehobenen 'D. João' ließ Jean-Marie Villégier den Kostümbildner Patrice Cauchetier für jeden der fünf Akte ein Outfit schaffen, das eine Facette der Figur beleuchtet: den Frauenjäger im Reisegewand, den goldglänzenden Aristokraten, den philosophierenden Gotteslästerer in Studententracht, den Schlossherrn im Schlafrock, endlich den schwarz geschniegelten Scheinheiligen. Das Kapitel 'Religion und Libertinage' befasst sich dann spezifisch mit den beiden Heuchlern Don Juan und Tartuffe. Die Tartüfferie des Letztgenannten versinnbildlichte Christian Lacroix 2017 mit einem fuchsienfarbenen Ensemble, dessen sinnlicher Seidentaft den Blick freigibt auf ein grob gestricktes Büßerhemd aus rauer, grauer Wolle."

Außerdem: Die für dieses Jahr geplante erste Ausgabe der Messe Design Miami in Paris fällt wegen Sicherheitsbedenken aus, meldet Ursula Scheer in der FAZ: "Offenbar werden Demonstrationen vom Typus der 'Gelbwesten'-Proteste oder andere Störungen befürchtet."
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Literatur

In der Reihe "10 nach 8" auf ZeitOnline hat die Schriftstellerin Lilian Peter genug vom patriarchalen Schreiben, das sich ihr vor allem in der Form des geschlossenen Romans manifestiert - "möglichst groß anschwellend, möglichst kontinuierlich, möglichst aus einem Guss, mit einem in ein 'eindeutiges' Ziel treffenden Pfeil" - und insbesondere in Deutschland hochgehalten werde. Dabei war man früher schon mal weiter, heute herrsche wieder Versessenheit auf Eineindeutigkeit: "Das hat auch damit zu tun, dass der literarische Diskurs es über die Jahrzehnte nie zugelassen hat, dass sich feministische literarisch-philosophische Theorie, wie auch das, was aktuell (im Rekurs auf die französischen Siebziger- und Achtzigerjahre) vielfach 'weibliches Schreiben' oder 'weibliche Schreibtraditionen' genannt wird, in ihm wirklich niederlassen konnte. So, dass daraus eigene, weithin sichtbare, ihrerseits mächtige literarische Linien, Traditionen, Netze und Netzwerke hätten werden können. ... Anstelle des essenzialistisch-antiquierten Terminus 'weibliches Schreiben' wäre es vielleicht besser, von Schreib- und Denkformen des anderen zu sprechen - denn es geht eben nicht nur um Frauen. Es geht um jegliche Formen, jegliche Schreib-, Denk- und Erzähltraditionen, jegliche literarische Figuren und Gestalten, die der deutsche Kanon als unlesbar oder unliterarisch befand."

Besprochen werden unter anderem Steinunn Sigurdardóttirs Gedichtband "Nachtdämmern" (SZ), Isabel Allendes "Violeta" (online nachgereicht von der FAZ), Anna Fodorovás "Lenka Reinerová - Abschied von meiner Mutter" (NZZ), Andrea Roedigs "Müttern kann man nicht trauen" (Tsp) und Carsten Gansels "Kind einer schwierigen Zeit" über Otfried Preußler (FAZ).
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Film

Darstellungsoptimismus: Barry Levinsons "The Survivor"

Ziemlich ärgerlich findet Bert Rebhandl in der FAZ (online nachgereicht) Barry Levinsons Auschwitz-Drama "The Survivor" über den Boxer Harry Haft, ein Film, der in Konventionen verhaftet ist und lediglich an Überbietungen interessiert scheint. "Inszenierte Aufnahmen von Leichen, die zur Verbrennung gebracht werden, erwecken nicht so sehr den Eindruck, hier entstünde eine Verbindung zu den frühesten Filmzeugnissen aus den gerade befreiten Lagern oder eben zu den unter Todesgefahr erstellten vier Bilddokumenten von den Abläufen des Mordens, sondern wirken wie eine obszöne Überbietung früherer Darstellungen des Unrepräsentierbaren. Levinson war als Hollywood-Regisseur immer Pragmatiker ('Rain Man'), nun hat er mit einem Alterswerk, das ihm zweifellos großes Anliegen war, einen signaturhaften Film über den Darstellungsoptimismus des Streaming-Zeitalters gemacht."

Außerdem: Vor dem Beginn des 75. Filmfestivals in Locarno sorgt sich Andreas Scheiner von der NZZ um die Zukunft des Schweizer Dokumentarfilms: Selbst gezielt auf Dokus spezialisierte Verleihe bringen kaum noch Filme in die Kinos.

Besprochen werden die Actiongroteske "Bullet Train" mit Brad Pitt nach dem gleichnamigen Roman von Kotaro Isaka (Presse, Welt), Hanna Bergholms Horrorfilm "Hatching" (Presse, unsere Kritik) und die auf Netflix gezeigte Comedy-Serie "Mom, Don't Do That!" aus Taiwan (FAZ).
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Musik

Ziemlich gut findet es Nadine Lange im Tagesspiegel, dass Lizzo und Beyoncé "respektlose" Begriffe von ihren jeweiligen neuen Alben (unsere Resümees hier und dort) entfernt haben, nachdem diese kritisiert worden waren (Spaz - im Deutschen etwa Spasti für Spastiker). Daran sollten sich andere ein Beispiel nehmen, findet Lange: "Statt bei berechtigter Kritik gleich rumzuheulen, dass der Cancel-Culture-Mob sie mundtot machen möchte", sollten sie lieber "die Chance zur eigenen Weiterentwicklung erkennen." In der NZZ lobt Daniel Haas das neue Beyoncé-Album, an dem alles stimme, "auf den klanglichen, formalen und semantischen Ebenen ist alles top, top, top. Die politische Ausrichtung: ultra-woke - eine Feier der queeren Kultur mit lässigen Sound-Reverenzen an die Dance-Tradition zwischen den Achtziger- und den frühen Zehnerjahren."

Robert Mießner freut sich in der taz über die geplante Wiederveröffentlichung von insgesamt elf Alben des portugiesischen Singer-Songwriters José Afonso. Vier liegen schon vor, als Einstieg empfiehlt er "Cantigas do Maio" von 1971, das Afonsos "künstlerische, soziale und politische Erfahrungen" bündelt. "Der hier singt, hatte bereits als Schüler und Student in den (einstigen) portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik gelebt, später dann als Geschichts- und Philosophielehrer wieder in Mosambik gearbeitet und den sich ab den sechziger Jahren zuspitzenden Unabhängigkeitskrieg erlebt. Die afrikanische Erfahrung hatte Afonso radikalisiert, sagt Helena Afonso. Dabei ist 'Cantigas do Maio' mit seinen eigenständigen Perkussionseinwürfen und Keyboardtupfern eine brüderlich-schwesterliche, regelrecht psychedelische Angelegenheit, auch dank der Experimentierfreudigkeit des Produzenten José Mário Branco." Wir hören rein:



In der SZ ist Helmut Mauró abwartend gespannt auf Teodor Currentzis' neues Orchester "Utopia" (unser Resümee), schließlich "ist Currentzis, der noch immer als junger Wilder durch die Klassik-Szene tobt und dabei immer wieder erstaunlich neue Sichtweisen auf Altbekanntes findet, musikalisch seriöser, als er manchen auf den ersten Blick erscheint".
Archiv: Musik