Efeu - Die Kulturrundschau

An der Grenze des Hörbaren

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19.08.2022. Die SZ lässt sich von Teodor Currentzis mit Schostakowitsch und Purcell ins düstere Todesreich geleiten. Und sie bewundert hinreißende Göttinnen in einer Ausstellung mit naiver Malerei. In der NZZ erinnert Bora Ćosić an den serbischen Architekten des Todes, Bogdan Bogdanović. Die FAZ feiert die Imitationskunst der Schauspieltruppe von Thorsten Lensing. In der Welt erklärt der ukrainische Autor Andrej Kurkow, warum er weiter auf Russisch schreiben wird. Jean-Pierre Thibaudat erzählt in seinem Blog bei Mediapart, wie er in den Besitz verschollener Céline-Manuskripte gekommen ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.08.2022 finden Sie hier

Musik

Ein von Teodor Currentzis dirigierter Abend in Salzburg mit Schostakowitsch und Purcell geriet für SZ-Kritiker Helmut Mauró zu einer dankbar angenommenen Reise ins "düstere Todesreich. ... Für Schostakowitschs 14. Symphonie bedeutete dies, dass die Anklage des Todes einerseits noch schärfer ausfällt als gewohnt, das Orchester sich noch depressiver zurückhält." Wer auf Trost und Erbauung bei Purcell hoffte, "sah sich auf beeindruckende Weise getäuscht. Denn so breitbeinig Currentzis hier auch vor dem Riesenaufgebot an Chor und Orchester seiner Ensembleformation musicAeterna steht, so fein gesponnen, manchmal an der Grenze des Hörbaren, vollzieht sich auch hier der Abschied vom Leben. Immerhin, ein bisschen Liebe kommt vor dem Leid." Für den Standard saß Heidemarie Klabacher im Saal.

Weitere Artikel: Stefan Hochgesand unterhält sich für die taz mit der Band Hot Chip, die sich gegen toxische Männlichkeit ausspricht und die Kolonialgeschichte anprangert. In der Schweiz ist es, sehr zum Ärger von NZZ-Kommentator Ueli Bernays, erneut zu einem dreadlock-bedingten Konzertabbruch gekommen. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über "Riders on the Storm" von den Doors. Hans-Jürgen Schaal erinnert in der NMZ an Jean-Philippe Rameaus vor 300 Jahren erschienene Harmonielehre.

Besprochen werden das gemeinsame Album von Black Thought und Danger Mouse (Freitag, mehr dazu bereits hier) und der zweite Abend des Lucerne Festivals (NZZ).
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Literatur

In der FAZ hatte der russischsprachige ukrainische Schriftsteller Wolodymyr Rafejenko vor kurzem erklärt, dass er nie mehr Russisch schreiben und sprechen wolle (unser Resümee). In der Welt antwortet ihm heute der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow, warum er - auch wenn er sich weder für Russland, noch dessen Kultur interessiert - weiterhin auf Russisch schreiben wird: "Will Rafejenko die russische Sprache bestrafen? Die russischsprachigen Leser? Die Bevölkerung Russlands? Russland? Oder ist das ein Versuch, sich selbst dafür zu bestrafen dafür, dass er nicht schon vor den Ereignissen von 2013/2014 ukrainischsprachig war? ... Mein Russisch gehört mir und ist Teil eines Phänomens, das Russophonie heißt." Und "ein einsprachiger Staat wird die Ukraine nie sein. Die ukrainische Gesellschaft wird nach dem Krieg zu ihrer traditionellen Toleranz gegenüber nationalen Minderheiten zurückfinden müssen."

Wenn Jean-Pierre Thibaudat in seinem Blog auf der Website des französischen Magazins Mediapart in einer neunteiligen Serie davon erzählt, wie er in den Besitz der Céline-Manuskripte gekommen ist, die auf dem französischen Büchermarkt gerade ausgewertet werden, dann liest das FAZ-Kritiker Marc Zitzmann mit roten Ohren vor Spannung. Unter anderem deckt Thibaudat - in Absprache mit dessen Erben - endlich den Namen desjenigen auf, der das Konvolut so lange bei sich hatte und sich ausbedingte, dass die Manuskripte erst nach dem Ableben von Célines Witwe restituiert werden sollten: Yvon Morandat, "Résistant der ersten Stunde, Gaullist mit sozialer Ader, Staatssekretär in der letzten Regierung Pompidou. ... Laut Thibaudat hatte der Widerständler Morandat die Kiste in Célines requirierter Wohnung gefunden, als diese ihm zugeteilt wurde." Als Céline aus seinem Exil zurückkehrte, "soll ihm Morandat brieflich die Rückgabe der eingelagerten Möbel angeboten haben - und auch jene der Manuskripte." Doch "Céline habe rundheraus abgelehnt, die Zahlung der Lagerkosten verweigert und Morandat einen 'aufgeblähten gaullistischen Furz' geschimpft."

Am Sonntag um 18.30 Uhr findet im Berliner Ensemble eine Solidaritätslesung für den von einem islamistischen Attentäter schwer verletzten Salman Rushdie statt, meldet die Berliner Zeitung. Lesen werden unter anderen Deniz Yücel, Eva Menasse, Günter Wallraff, Sven Regener, Can Dündar und Thea Dorn.

Weitere Artikel: Gustav Seibt hat für die SZ die Waldhütte am Rande einer Brandenburger Ortschaft besucht, in der der 2020 gestorbene Schriftsteller Günter de Bruyn gelebt hat - und dies von 1968 bis 1986 gar ohne Strom. In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Und Bernd Noack erdichtet sich ein Gespräch mit Goethe, darüber, dass dessen "Faust" von den bayerischen Lehrplänen geflogen ist. Die Schriftstellerin Mirna Funk erinnert sich in der SZ an ihre schlimmste Lesung. Außerdem verrät der Schriftsteller Heinz Helle der SZ, was er gerade liest - nämlich "Zusammenkunft" von Natasha Brown.

Besprochen werden unter anderem zwei Gedichtbände von Marieke Lucas Rijneveld (ZeitOnline), Giulia Caminitos "Das Wasser des Sees ist niemals süß" (Welt), Thomas Perrys Thriller "Pantherjagd" (TA) und Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" (SZ).
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Bühne

Baby? Falscher Clownfisch? Perlhuhn-Kugelfisch? Devid Striesow ist "Verrückt nach Trost". Foto: Salzburger Festspiele / Armin Smailovic


Total hingerissen ist FAZ-Kritikerin Sandra Kegel bei der Salzburger Dernière von Thorsten Lensings Stück "Verrückt nach Trost". Es geht um das Erwachsenwerden zweier Geschwister, deren Eltern gestorben sind und die Trost in der Imitation finden: "Der Schwere des Anfangs gibt [Devid] Striesow als brüllender Säugling auf einem Parkplatz gehörigen Raum, während [Ursina] Lardi als betagte Heimbewohnerin in ihrem Flirt mit einem Pflegeroboter ein versöhnliches Ende zumindest in Aussicht stellt. Wenn hingegen André Jung sich in den servilen Automaten hineinversetzt wie auch zuvor schon in einen Schimpansen, der minutenlang allein auf der Bühne mit einer Tube Bodylotion experimentiert, dann ist das Lee-Strasberg-haftes Einfühlungstheater, wie es im Lehrbuch steht - wonach bekanntlich noch einem Telefonbuch dramatische Tiefe abzugewinnen ist. Insofern hat Lensings Spielästhetik mit postdramatischem Theater so wenig am Hut wie mit der videoinstallationsgetriebenen Gegenwartsbühne. Ist solch intensives Schauspielertheater schon wieder Avantgarde?"

Außerdem: Nikolaus Bernau besucht für die FAZ das Barocktheater in Schloss Drottningholm bei Stockholm.
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Architektur

Bogdan Bogdanovićs Denkmal für die jüdischen Opfer des Faschismus auf dem sephardischen Friedhof in Belgrad. Foto: Carl Ha - CC BY-SA 4.0


In der NZZ erinnert der serbische Schriftsteller Bora Ćosić an den Architekten Bogdan Bogdanović, der vor hundert Jahren in Belgrad geboren wurde: "Seine frühen Desillusionierungen als Partisan am Ende des Zweiten Weltkriegs, als geachteter Professor an der Fakultät für Architektur in Belgrad während der Tito-Epoche brachten ihn zur Gedächtnissymbolik, er wurde Architekt des Todes, Schöpfer monumentaler Grabstätten eines heute ebenfalls verstorbenen Landes. Es ist kein Wunder, dass seine erste Arbeit dem ewig verfolgten Volk, dem jüdischen, galt, sein riesiges Denkmal auf dem sephardischen Friedhof in Belgrad zeigt gleichzeitig die tiefe Verwurzelung dieser arbeitsamen Menschen, meist arm, aber gesittet; ein ganzes Stadtgebiet bewohnten diese fleißigen israelitischen Hände, von Handwerkern und Händlern, als wären wir in Haifa."
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Film

In der toxischen Familienhölle: Louis C.K.s "Fourth of July"

Eigentlich war der Komiker Louis C.K. nach von ihm eingeräumten MeToo-Vorwürfen - er hatte Frauen dazu genötigt, ihm beim Masturbieren zuzusehen - ziemlich abgemeldet. Mit seinem im Selbstvertrieb veröffentlichten Film "Fourth of July" versucht er nun, seine Karriere als Komödienregisseur wieder anzukurbeln. Es geht um verzwickte Familiendynamiken, schreibt Jochen Werner im Perlentaucher, dem das Ende des Films allerdings nach einer Aussicht auf ein reinigendes Gewitter allzu versöhnlich vorkommt. "All hugging, no learning, um die Maxime eines anderen großen New-York-Komikers zu variieren. Im Grunde geht 'Fourth of July' in seinen unerwartet harschen emotionalen Ausbrüchen und Verletzungen gar noch einen Schritt weiter - und folgt darin Louis C.K.s vielleicht wirklich wegweisendem Vorbild Woody Allen. Denn in der Art und Weise, wie er eine durch und durch toxische Familienhölle porträtiert, aus der sich zu lösen der Protagonist wohl auf ewig unfähig bleiben wird, ist 'Fourth of July' Louis C.K.s Bergman-Film. Da hilft alles Lachen und Umarmen nichts."

Weitere Artikel: Sarah Pines verabschiedet sich in der NZZ von der Netflix-Serie "Better Call Saul". Michael Ranze schreibt im Filmdienst zum Tod von Wolfgang Petersen (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Aron Lehmanns Komödie "Jagdsaison" (FAZ), das Drama "The Souvenir: Part II" mit Tilda Swinton und deren Tochter Honor Swinton Byrne (Tsp), Olivia Newmans Verfilmung des Bestsellers "Der Gesang der Flusskrebse" (SZ), die erste Folge des "Game of Thrones"-Nachfolgers "House of the Dragon" (NZZ), Adrian Goigingers Alpendrama "Märzengrund" (Standard), die Disney-Serie "She-Hulk" (FAZ, Tsp), die Netflix-Serie "Kleo" (Freitag, Presse) und die Apple-Serie "Five Days at Memorial" (Freitag).
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Kunst

Udo Kittelmann hat im Baden-Badener Museum Frieder Burda eine Schau mit Werken des Zollbeamten Henri Rousseau, des Gärtners André Bauchant, des Straßenarbeiters Camille Bombois, der Haushälterin Séraphine Louis und des Postboten Louis Vivin kuratiert - fünf "Maler des heiligen Herzens", so der Ausstellungstitel, die vor allem eins verbindet: ihre proletarische oder kleinbürgerliche Herkunft. Die Klassenfrage wird in der Ausstellung leider nicht thematisiert, bedauert Kito Nedo in der SZ. Aber die Kunst ist "überwältigend großartig", schwärmt er. "Da sind zum Beispiel die unglaublichen Gemälde von André Bauchant, der der Sohn eines Gärtners und einer Schneiderin war und später selbst die Familiengärtnerei vom Vater übernahm. Als Soldat der französischen Armee verschlug es ihn 1914 nach Griechenland. Von dort kam er mit einem Interesse an antiken Sagen zurück, dass sich auch in seinen fantastischen Ereignisbildern niederschlägt. 'Ihr Werk ist voll von Göttinnen, von Helden und Sirenen, und auch von Gott' schwärmte der Architekt Le Corbusier 1949 anlässlich einer Pariser Bauchant-Ausstellung in einem Brief an den Maler, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband."

Weiteres: Die Kippa in einem der Documenta-Bilder sei gar keine Kippa, sondern eine Hajj-Mütze, und darum sei die Figur auch nicht antisemitisch, hat Ruangrupa Elke Buhr erklärt, die darum jetzt bei Monopol dem Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, die die Figur entdeckt hatten, "peinliche Ignoranz" vorwirft.
Archiv: Kunst