Efeu - Die Kulturrundschau

Gute Nacht, Schepenese

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18.11.2022. Die Welt erzählt, wie Monica Bonvicini von einem anonymen Kollektiv mit dem sozialen Medienpranger gedroht wurde, falls sie sich nicht von ihrem Galeristen Johann König trenne. Die SZ entdeckt im Kupferstichkabinett Dresden den letzten Romantiker: Albert Venus. taz und Pitchfork empfehlen das neue Album von Weyes Blood. Die FAZ beugt sich in der Pariser Bibliothèque Nationale freudig über die Späne von Marcel Prousts Werk.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Das anonyme Kollektiv "Soup du Jour" hat versucht Monica Bonvicini, die von dem Galeristen Johann König vertreten wird, mit einem Facebook-Post unter Druck zu setzen, sich von König, dem - bisher gerichtlich nicht aktenkundige - sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde, endgültig zu trennen, berichtet Marcus Woeller in der Welt. Sie hatte die Zusammenarbeit mit König schon vor Wochen ausgesetzt, bis die Vorwürfe gegen ihn geklärt seien (mehr dazu hier). Bonvicini war auch angreifbar, weil am 25. November ihre Ausstellung "I do You" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eröffnet wird. Sie dürfte den Post richtig verstanden haben, meint Woeller: "als kaum verhohlene Drohung, an den sozialen Medienpranger gestellt zu werden. Die Schauprozessordnung wird von 'Soup du Jour' festgelegt: Man sei schon ganz 'aufgeregt' wegen Bonvicinis bevorstehender Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, wo noch nie zuvor eine in Deutschland lebende feministische Künstlerin derart geehrt worden sei. Aber es würden 'Gerüchte brodeln', dass ihre inkriminierte Galerie die Ausstellung 'großzügig unterstützt'. Bonvicini dürfe daher nicht glauben, ihren 'Moment der Karrieresichtbarkeit kritiklos zu genießen' und gleichzeitig eine 'lukrative Beziehung mit der König Galerie fortführen zu können'." König hat sich inzwischen von Bonvicini getrennt, um sie "vor 'erheblichen Anfeindungen' zu schützen", so Woeller.

Albert Venus, Campagnalandschaft, 1866/1869, Kupferstich-Kabinett

Im Kupferstichkabinett Dresden kann man eine echte Entdeckung machen: dort hat man das Werk des "letzten Romantikers", Albert Venus, nach über 100 Jahren endlich aus dem Depot befreit, schwärmt in der SZ Peter Richter. Venus, Sohn eines Kammerdieners, "kam jung in die Lehre des bekannten Spätromantikers und Märchenbuchillustrators [Ludwig Richter], der ihm auch künstlerisch zur Vaterfigur wurde." Bei einer Fahrt ins Böhmische kam es dann "zu einem sagenhaften Emanzipationsprozess, fast einem Vatermord: Venus tilgt nach und nach alles, was ihm an Hilfsmitteln und Gerüsten mitgegeben wurde, die Hänsels, die Gretels, die Brückerl, die Hirten und endlich, endlich auch die grasenden Kühe. Venus malt wie ein berauschtes Kind, dem die Stützräder abfallen und das deshalb sicherheitshalber schneller in die Pedale tritt. Flach und weit und flimmernd werden die Landschaften dadurch, und als alle Menschen endlich getilgt sind, werden Licht und Schatten zu dramatischen Akteuren."

Weiteres: Maxi Broecking besucht für die taz in New York die nicht-binäre südafrikanische Fotografin Zanele Muholi, die mit dem diesjährigen ICP Spotlights Award ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Susanna - Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo" im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (NZZ), eine Ausstellung des Illustrators Henning Wagenbreth im Innsbrucker Weissraum (Standard), Ausstellungen anlässlich des 20. Todestages von Michel Majerus in Berlin, Hamburg und Hannover (BlZ), die Schau "In Between" in der Potsdamer Villa Schöningen (Tsp), eine Ausstellung der Baumhaus-Bildern der Leipziger Malerin Mirjam Völker in der Galerie Eigen + Art in Berlin (FR), die Ausstellung "Empowerment" im Kunstmuseum Wolfsburg (SZ) und die Ausstellung "100 Prozent Baumwolle" im Überseemuseum Bremen (taz).
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Literatur

Heute vor 100 Jahren starb Marcel Proust. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus ist aus diesem Anlass nach Paris gereist, wo in der Bibliothèque François Mitterrand mittlerweile schon die dritte Pariser Proust-Großaustellung in diesem Jahr läuft. Mit großer Freude beugte er sich dort über Prousts Manuskripte, die wie ein Palimpsest den Entstehungsprozess seines größten Werks nachvollziehen lassen: "Was diese Ausstellung vorführt, ist die Genese der 'Recherche' durch den Raum, viel mehr als durch die Zeit. Es gab kein chronologisch lineares Schreiben an diesem Werk, aber ein ausuferndes, das über tausend Versionen der immergleichen Szenen auf der Suche war nach der einen gültigen. Die dann doch nur wieder durch einen Zwang der Zeit erreicht wurde: den Publikationstermin. Doch danach stand das Werk: keine Umarbeitung mehr durch Proust anlässlich von Nachauflagen oder Neuausgaben. ... Die eindrucksvollste Vitrine versammelt denn auch 'Späne' (wie sie hier heißen): zahllose Zettel, Papierfetzen, Marginalien, die sich unsortiert im Nachlass fanden. Jeder Span gehörte einmal zum Lebensbaum, aus dem Proust seine Geschichte herausschnitzte."

Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte erhellt in der FAZ Prousts Verhältnis zu Tieren. Und Gerrit Bartels wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf das Verhältnis zwischen Proust und Balzac. Lothar Müller (SZ) und Alexander Kuy (Standard) lesen Neuerscheinungen zu Proust. Dlf Kultur widmet sich mit einer Langen Nacht von Sabine Franges Proust. Mehr Proust im Audioangebot der ARD-Anstalten.

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Erich Kästners "Konferenz der Tiere" ist im Grunde das Buch für die "Letzte Generation", findet Michael Pilz in der Welt.

Besprochen werden unter anderem eine Lesung von Constanze Becker und Matthias Brandt aus Ingeborg Bachmanns und Max Frischs eben erschienenem Briefwechsel (Tsp), dazu passend eine Bachmann-Ausstellung im Literaturmuseum Wien ("ein klarerer Fokus und kreativerer Zugang wären fruchtbarer und spannender gewesen", seufzt Michael Wurmitzer im Standard), Gusel Jachinas "Wo vielleicht das Leben wartet" (NZZ) und Andreas Isenschmids "Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische" (SZ).
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Film

Erst Corona, dann das aus dem Lockdown nicht mehr zurück kommende Publikum, schließlich die davon galoppierenden Energiekosten und die Inflation, die Leute aufs Geld achten lässt: Das Kino geht den Bach runter, stellt David Steinitz in der SZ fest. Doch ausgerechnet deutsche Produktionen, die für gewöhnlich eher die unteren zwei Drittel der Jahresbilanz andicken, erweisen sich gerade als bemerkenswert stabil oder übertreffen sogar Erwartungen, muss er im weiteren feststellen. "Um deutsche Kinofilme noch öfter und noch nachhaltiger zum Erfolg zu führen, wird spätestens zum Jahreswechsel aber auch die Politik gefragt sein - genauer gesagt Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Ihre Vorgängerin Monika Grütters hat die Novellierung des Filmfördergesetzes erfolgreich so lange vor sich hergeschoben, bis sie nicht mehr im Amt war, und auch Roth hätte die Sache in ihrem Haus durchaus schon mit mehr Tempo voranbringen können. Nun wird es wohl 2023 - und es gibt viel zu tun. ... Andere Länder, vor allem Frankreich, zwingen mächtige Streamingdienste wie Netflix oder Disney+ längst gesetzlich zu mehr Investitionen in die heimische Branche. Ein Modell, das sich viele Filmschaffende auch in Deutschland wünschen würden, um die lokale Industrie zu stärken."

Besprochen werden Alejandro González Iñárritus auf Netflix gezeigter Film "Bardo" (SZ), Karoline Herfurths Komödie "Einfach nur was Schönes" (Welt), die deutsche Netflix-Serie "1899" (FAZ), Mark Mylods Krimi "The Menu" (Tsp) und die Amazon-Serie "Mammals" mit James Corden (TA).
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Bühne

Milo Rau, der heute von der Kulturstiftung St. Gallen mit dem Großen Kulturpreis ausgezeichnet wird, hat "unerschrocken hochtrabend in einer 'St. Galler Erklärung für Schepenese' bekannt" gegeben, erzählt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung, "dass er das Preisgeld von 30.000 Franken (30.400 Euro) 'reinvestieren' wolle. Er habe die Absicht, das Geld an Schepenese weiterzureichen, eine berühmte ägyptische Mumie, die in der St. Galler Stiftsbibliothek in einem gläsernen Sarg aufgebahrt liegt. ... Mit dem Geld solle nun eine pietätvolle Zwischenlösung finanziert werden. Ziel der Aktion ist die Rücküberführung oder 'Heimkehr' der Mumie in den Hatschepsut-Tempel von Luxor, zu Schepeneses Zeiten noch Theben". Tatsächlich hat aus Ägypten allerdings noch niemand um die Rückführung der Mumie gebeten, informierte laut Nadine A. Brügger (NZZ) auf einer Podiumsdiskussion Cornel Dora, Leiter der Stiftsbibliothek: "Dort habe man bereits genug Mumien und Sarkophage - und man trage ihnen oft nicht so viel Sorge, wie dies in St. Gallen geschehe. Wichtig sei den alten Ägyptern zudem gewesen, ihre Toten an einem Ort ruhen zu lassen, an dem sie mit Respekt behandelt würden und an dem es für sie einen Sinnzusammenhang gebe. Dieser finde sich in St. Gallen, wo die Mumie einen wunderschönen Grabraum habe. Und wo sie jeden Abend mit einem 'Gute Nacht, Schepenese' abgedeckt werde."

Weiteres: In der SZ stellt Helmut Mauró den Countertenor Alois Mühlbacher vor. Besprochen werden Rossinis "La gazza ladra" am Theater an der Wien (Standard, nmz, SZ), Isabelle Redferns Inszenierung von Golda Bartons "Sistas!" an der Volksbühne Berlin (nachtkritik, BlZ) und die Uraufführung von Patty Kim Hamiltons "Sex Play am Schauspielhaus Graz (nachtkritik).
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Musik

Wer wissen will, was die Millennials umtreibt, muss "And in the Darkness, Hearts Aglow", das neue Album von Weyes Blood, hören, schreibt Stephanie Grimm in der taz: "Was macht die Digitalisierung mit emotionalen Bedürfnissen; wieso lassen wir uns von der drohenden Apokalypse lähmen?" Weyes Blood "denkt Entfremdung, die Popkünstler:Innen immer wieder zum Thema gemacht haben, eine Umdrehung weiter. Sie fragt nicht nur, wo es zwischen Mensch und Umgebung knirscht, sondern wie überhaupt Sinn erschaffen werden kann, wenn wir uns als Spezies immer überflüssiger machen. Zugleich will Weyes Blood in ihren Songs abklopfen, was in unserer Kultur überhaupt noch als Material für Mythen taugt - denn Erzählungen, so glaubt sie, werden dringend gebraucht."

Andy Cush von Pitchfork ist hin und weg: "Ihre Idiosynkrasien als Autorin und Performerin bewahren der Musik das Persönliche und Lebendige. Da ist zum einen ihre außergewöhnliche Stimme, die so selbstsicher und präzise ist, dass kleine Abweichungen - eine überraschende Blue Note hier, ein wohlüberlegter Wechsel in eine höhere Tonart dort - eine Tiefe an Gefühlen freilegen, für die andere Sängerinnen sich deutlich mehr ins Zeug legen müssten. Zum anderen ist da die Art, wie sie die Form einer Komposition eher aus ihrem Thema fließen lässt, statt sich auf etablierte Formen zu verlassen, die bestimmen, was in sie passt. Der in dieser Hinsicht beeindruckendste Song ist 'God Turn Me Into a Flower", der Sanftheit und Anschmiegsamkeit eher als Stärken denn als Schwächen preist."



Weitere Artikel: Thomas Mauch resümiert in der taz das Berliner Festival Cosmic Awakening. In der Jungle World gratuliert Magnus Klaue Kimya Dawson zum 50. Geburtstag. Thomas Wochnik freut sich im Tagesspiegel auf den Schwerpunkt zu Iannis Xenakis beim Atonal-Festival in Berlin. Ebenso gespannt blickt Georg Rudiger in der NZZ auf das kommende Wochenende beim Lucerne Festival mit der neuen Reihe "Forward". Jan Brachmann erinnert in der FAZ an den Pianisten und Komponisten Louis Ferdinand von Preußen, der heute vor 250 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Honey Dijons "Black Girl Magic" ("Lebensfreude wird bei ihr zur Überlebensstrategie, der Dancefloor zum Ort des Widerstands", schreibt Aida Baghernejad auf ZeitOnline), ein Kino-Dokumentarfilm über Leonard Cohens Klassiker "Halleluja" (ZeitOnline), eine Doppelaufführung von Elżbieta Sikoras "The Sixth Commandment" und Luigi Nonos "Quando Stanno Morendo" in Berlin (Freitag), das Debütalbum 'Lamina' der Münchener Band Pirx (taz), Bonos Autobiografie (NZZ) und das neue Tokio-Hotel-Album "2001" (Standard).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Tobias Lehmkuhl über den Jazzstandard "Autumn Leaves". Hier die Version von Cannonball Adderly und Miles Davis:

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