Efeu - Die Kulturrundschau

Phrasensalat mit Politfloskelsoße

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27.01.2023. Beim Berliner Theatertreffen soll - außer Theater - viel los sein: Es geht um Green, Diversity, Solidarity, Network, Exchange, Herstory, Transfeminist. Die SZ wüsste gern, was die neue kollektive Leitung für diese Themen qualifiziert. Und die Welt versteht nicht, warum noch das Essen gehen von Theaterleuten zum Prozess für transnationale Solidarität aufgepumpt werden muss. Ist doch innovativ, freut sich der Tagesspiegel. Die FAZ erlebt eine furiose Zweieinhalbstundenirrfahrt durch postsowjetische Bewusstseinslabyrinthe mit Kirill Serebrennikows Film "Petrow hat Fieber". Das Zeit-Magazin schwärmt von den Vorzügen des Kaktusleders. Die SZ hört roten Voodoo von Bob Dylan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2023 finden Sie hier

Bühne

Die Auswahl, achwas, das ganze Prozedere des Berliner Theatertreffens unter der Leitung des neuen Intendanten Matthias Pees lässt Peter Laudenbach in der SZ laut aufstöhnen. Bei der Pressekonferenz gestern stellte sich die neue "selbstverständlich kollektive" Leitung vor: Vier Frauen, darunter die Polin Joanna Nuckowska und die Ukrainerin Olena Apchel, die beide auch karrierefördernde außertheaterliche Kompetenzen mitbringen in Sachen politischer Aktivismus und ökologische Nachhaltigkeit. Die Frage für Lauterbach ist nur, weshalb "Theaterkuratorinnen mehr vom Problem der Nachhaltigkeit verstehen sollten als zum Beispiel Ingenieure, BWLer oder Schreiner? Und was macht sie für Fragen des Weltfriedens kompetenter als zum Beispiel Bundeswehrsoldaten? Das als große Festival-Innovation verkündete Rahmenprogramm ist in zwei Richtungen parasitär: Es nutzt die politischen Großkrisen, um sich mit Bedeutung aufzupumpen. Und es verhält sich parasitär gegenüber dem Kern des Theatertreffens, den zehn eingeladenen Inszenierungen, indem es so tut, als würde erst die Diskurs-Begleitmusik dem Theater Relevanz verschaffen."

In der Welt stellt Jakob Hayner die zehn ausgewählten Produktionen vor und fragt dann, was die neue Leitung noch so in petto hat: "Zehn Veranstaltungen, die sich 'Treffen' nennen und die die eingeladenen Inszenierungen 'umrahmen, umgarnen und umarmen' sollen, auch als Ersatz für den abgeschafften Stückemarkt. Green, Diversity, Solidarity, Network, Exchange, Herstory, Transfeminist, so lauten unter anderem die Titel der Treffen. Was sich dahinter verbirgt, ist teils haarsträubend: Gemeinsames Essen als 'feministischen, politischen Prozess für transnationale Solidarität' zu etikettieren, könnte man noch für einen Witz halten. Oder für eine Umschreibung des üblichen Besuchs im chinesischen Restaurant am Fasanenplatz. Doch offenbar ist mehr gemeint. Und hinter einem aufgespreizten Titel wie 'Emptiness Treffen - Demokratische Meditation' scheint sich nur ein schnöder Ruheraum zu verbergen, ein schlagendes Beispiel für den lustlos präsentierten Phrasensalat mit Politfloskelsoße."

Patrick Wildermann nimmt's im Tagesspiegel gelassen: Klingt doch spannend, findet er. "Und innovativ! Auch wenn bei der Pressekonferenz im Haus der Berliner Festspiele noch nicht ganz klar wurde, was genau sich dahinter verbirgt. Ein 'Responsibility Treffen' soll sich dem Krieg in Europa widmen, das 'Solidarity Treffen' legt den Fokus auf belarussische Kunst, ein 'Transfeminist Treffen' untersucht die Küche als Ort der Zusammenkunft und der Unterdrückung von Frauen (vermutlich jedenfalls, die Kopfhörer mit der Übersetzung aus dem Polnischen haben ein bisschen geknarzt)." Die Provinz bleibt bei diesem Treffen ziemlich außen vor, notiert Simon Strauss in der FAZ: "Auffällig ist also, dass sich der Fokus rasant verengt. Interessantes Theater, so die implizite Botschaft der Jury, findet im Grunde fast ausschließlich in den Großstädten statt. In der Peripherie ist nichts los." Mehr zum Theatertreffen in der Berliner Zeitung und der nachtkritik.

Weitere Artikel: In der NZZ porträtiert Marianne Zelger-Vogt die Schweizer Koloratursopranistin Regula Mühlemann. Reinhard Brembeck unterhält sich mit der Sopranistin Lisette Oropesa über Mozart. Im Interview mit der taz spricht die Regisseurin Paula Rüdiger über ihr Musiktheaterstück zum "Book of Longing" von Leonard Cohen und Philip Glass, das sie im Forum der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg inszeniert hat. Carolina Schwarz fragt sich in der taz, wie man mit dem künstlerischen Werk des Schauspielers Florian Teichtmeister umgehen soll, der wegen Besitzes von Kinderpornobildern angeklagt wurde

Besprochen werden Jette Steckels Inszenierung von Albert Camus' "Die Besessenen" am Thalia-Theater (nachtkritik, SZ), Michael Thalheimers Inszenierung des "Parsifal" in Genf (FAZ, nmz) und Meyerbeers Oper "Die Hugenotten" in Ludwigshafen (FR), ein Pina-Bausch-Abend in Wuppertal (taz).
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Kunst

Rudolf Levy, Blick auf den Pont Marie, 1910. Lehmbruck Museum, Duisburg, Foto: Bernd Kirtz 


Andreas Kilb hat für die FAZ die Ausstellung "Paris Magnétique - 1905-1940" im Jüdischen Museum Berlin besucht, die das Schicksal der - zumeist osteuropäischen - jüdischen Künstler nachzeichnet, die vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris zum Malen kamen: "Ihr Recht, in Paris zu leben und arbeiten, wurde vielfach bestritten, am nachdrücklichsten in einem Artikel in der Zeitschrift Mercure de France, der die in ihm gestellte Frage, ob es 'eine jüdische Kunst' gebe, zwar bejahte, jener Kunst aber zugleich jede ästhetische Qualität absprach. Gegen diese neue Form antisemitischer Demagogie wandte sich der Kritiker André Warnod in einem Aufsatz, in dem er die jüdischstämmigen gezielt neben die nichtjüdischen ausländischen Künstler in Frankreich stellte - also Jules Pascin neben Picasso, Marcoussis neben Juan Gris, Ossip Zadkine und Jacques Lipchitz neben Galanis und van Kees van Dongen. Sie alle fasste er unter einen Begriff, der zuvor für die französische Spitzenmalerei der Spätgotik geprägt worden war: die 'École de Paris'."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung mit Wim-Wenders-Stills in der Berliner Galerie Bastian (Tsp).
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Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Für den Tages-Anzeiger plauscht Matthias Möller über die textgenerierende K.I. ChatPT mit Friedrich Dürrenmatt, dessen digitaler Doppelgänger sich prompt einen bis dahin nicht existierenden Roman "Die Biologen" andichtet.

Besprochen werden unter anderem Annika Scheffels "Winter auf Solupp" (SZ), Franziska Thun-Hohensteins "Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biografie und Poetik" (Standard) und neue Bücher über die Schoah (Standard).
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Film

Gegen den nationalistischen Geist: Serebrennikows "Petrow hat Fieber"

Kirill Serebrennikows "Petrow hat Fieber" nach dem gleichnamigen Roman von Alexej Salnikow bietet "eine furiose Zweieinhalbstundenirrfahrt durch postsowjetische Bewusstseinslabyrinthe", schreibt Kerstin Holm online nachgereicht in der FAZ: Die Titelfigur deliriert sich hier bei seinem Weg durchs triste Jekaterinburg im Fieber durch "Wahnvisionen, Jenseitserscheinungen und Kindheitserinnerungen": Hier wünscht einfach jeder jeden zum Teufel. "Als sich plötzlich die Tür auf ein Bürgerkriegsgetümmel öffnet, in dem willkürlich die Reichen abgeknallt werden, gerät der fiebernde Held in einen Film im Film, worin die Aggressionen des Volkes in die Tat umgesetzt werden." Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland ist von diesem "genial-fiebrigen radikalen Film" regelrecht umgehauen: "Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Traum, Wahrnehmung und Taumel folgen ohne erkennbare Ordnung oder Abstimmung aufeinander", bis man schließlich feststellt, "dass alles, was man gesehen hat, nichts anderes ist, als die Geschichte eines Mannes, der von einem Bild aus seiner Kindheit besessen ist, als die Chronik eines Landes, das in einer Epoche verankert ist, die es gleichzeitig verunglimpft und nach der es sich sehnt. ... Serebrennikov gelingt ästhetisch herausragendes Achterbahnkino, in dem inspirierter Eklektizismus dominiert: Ein fiebriger Film über die chronische Krankheit einer fiebrig-taumelnden russischen Gesellschaft und ein rebellisches Manifest gegen den nationalistischen Geist, nicht nur den russischen."

Fünf deutsche Filme im Berlinale-Wettbewerb ("absurde Übertreibung") und neun Oscarnominierungen für Edward Bergers "Im Westen nichts Neues": Rüdiger Suchsland hält von all dem auf Artechock nichts. "Wir erleben gerade eine Angstblüte. Davon spricht man, wenn ein Baum, kurz bevor er stirbt, noch mal ganz besonders prächtig blüht. So ungefähr geht es womöglich dem deutschen Kinofilm. Neun Nominierungen für 'Im Westen nichts Neues' ist toll für den Film, den man auch einen deutschen Film nennen kann, aber schlimm für die Zukunft. Das lenkt ab, es wird den deutschen Film nachhaltig schädigen. Weil nun alle Förderer sagen: Wir brauchen Netflix, dann kriegen wir Oscar-Nominierungen. ... Der deutschen Filmbranche geht es schlecht, sehr schlecht. Das bestätigen paradoxerweise gerade die Lorbeeren der Berlinale. Denn jede Berlinale-Zusage bedeutet eine Absage aus Venedig, aus San Sebastián, aus Sundance. Von Cannes reden wir jetzt mal gar nicht. Jeder deutsche Film, der in Deutschland gezeigt wird, wird im Ausland erst einmal nicht gesehen."

Weitere Artikel: Axel Timo Purr resümiert auf Artechock das 21. Dhaka Filmfestival. Birgit Schmidt wirft einen Blick auf Stars, die den klingenden Namen ihrer Hollywood-Eltern zu Geld gemacht haben.

Besprochen werden Lukas Dhonts "Close" (FAZ, Filmdienst, Welt, Zeit, Artechock, unsere Kritik), Tine Kuglers und Günther Kurths Langzeit-Dokumentarfilm "Kalle Kosmonaut" über Kindheit in Berlin-Hellersdorf (Artechock, SZ), Davy Chous "Return to Seoul" (Filmdienst, unsere Kritik), Jo Müllers "Schattenkind" (Filmdienst), Florian Zellers Depressionsdrama "The Son" (Welt, Artechock, ZeitOnline), Edward Bergers für die Oscars nominierter Netflix-Kriegsfilm "Im Westen nichts Neues" (taz) und die Apple-Serie "Shrinking" mit Harrison Ford und Jason Segel (Freitag),
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Design

In seiner Stil-Kolumne fürs ZeitMagazin schwärmt Tillmann Prüfer von den Vorzügen von Kaktusleder, für das keine Tiere dran glauben müssen: "Bei der klassischen Lederverarbeitung wird viel Wasser verbraucht. Kakteen hingegen brauchen bekanntlich kaum Wasser. Dazu muss der Kaktus nicht einmal gänzlich verarbeitet und gerodet werden, es kann immer wieder von der gleichen Pflanze geerntet werden. Das Material kann im Freien unter Sonnenlicht getrocknet werden. Es wird somit keine zusätzliche Energie benötigt. Dazu sorgt der Anbau von Kakteen für eine natürliche Senkung von Kohlenstoffdioxid - und Kakteen sanieren Böden, anstatt sie auszulaugen."
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Stichwörter: Kaktusleder, Kaktus, Leder, Mode

Musik

Mit "Fragments" setzt Bob Dylan seine Bootleg-Serie um seine mit Studiomaterialien, Outtakes und ähnlichen Aufnahmen angereicherten Studioalben fort. Diesmal steht "Time out of Mind" im Mittelpunkt: Dylans künstlerisches Comeback-Album aus dem Jahr 1997 liegt hier nun einer neuen Abmischung vor, die Daniel Lanois' (im Streit mit Dylan entstandenen) Original-Mix des Albums aus der Geschichte streicht. Die Unterschiede dürften aber wohl nur ausgefuchsten Dylanologen auffallen, schreibt Joachim Hentschel in der SZ: "Die Gesangsstimme, die in Lanois' alter Abmischung meist gleichauf mit den Instrumenten der Band liegt und oft kurz davor zu sein scheint, im roten Voodoo zu versinken, tritt nun etwas mehr in den Vordergrund. An einigen Stellen wurden Echoeffekte entfernt, laute Orgeln um einen Fledermausschlag leiser getönt. Die Band wurde mit zarten Fingern weiter über die Stereokanäle gefächert, zumindest bei manchen Songs. Insgesamt atmet das neue 'Time Out Of Mind' also stärker mit dem Lungenvolumen einer Ensemble-Performance, klingt etwas weniger nach Design, Beschwörung und dem Studio-Illusionismus, der Daniel Lanois berühmt gemacht hat." In seiner online nachgereichten WamS-Besprechung kann Jan Küveler dem Musiker zu dieser neuen Abmischung nur gratulieren: Von den Konflikten mit Lanois "war Dylan zu Recht genervt; alle Fassungen sind fantastisch. ... Die Gimmicks sind weg, die Atmosphäre ist geblieben." Für die FR bespricht Harry Nutt die Veröffentlichung.

Weitere Artikel: Für die taz spricht Julian Weber mit dem Kurator Jan Rohlf über dessen Pläne des diesjährigen CTM-Festivals in Berlin. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über "Traction in the Rain" des kürzlich verstorbenen David Crosby.



Besprochen werden Michael P. Austs heute beim Berliner CTM Festival gezeigter, im März auch regulär im Kino startender Dokumentarfilm über Irmin Schmidt und Can (taz), PJ Harveys "B-Sides, Demos & Rarities" (Standard), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp), ein Wiener Konzert des SWR-Orchesters unter Teodor Currentzis (Standard) und Sam Smiths Album "Glory" (ZeitOnline).
Archiv: Musik