Efeu - Die Kulturrundschau

Auf der Kippe von Erleuchtung und Delirium

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11.11.2017. Die Kritiker sind zur Eröffnung des Louvre nach Abu Dhabi gereist: Alles politisch korrekt, findet die FAZ. So reingewaschen wie die Emirate es mögen, meint die SZ. Hin- und hergerissen lesen Tagesspiegel und Berliner Zeitung den neuen Roman von Peter Handke. Die taz blickt mit Malick Sidibe in Paris wehmütig auf vergangene Freiheit in Mali. epdFilm fragt, wieviel UFA noch im deutschen Kino steckt. In der Nachtkritik kritisiert Monika Grütters Spardruck und Kritikereminenzen im Feuilleton.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.11.2017 finden Sie hier

Kunst

Bild: Jean Nouvels Louvre in Abu Dhabi. Foto: Louvre

"Was für eine unverschämte Schönheit", entfährt es Laura Weissmüller in der SZ beim Anblick des Louvre in Abu Dhabi und muss dabei sofort an die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Bangladeschi, Inder und Pakistani denken. Auch der Kunstbegriff sei "reingewaschen", die Blickrichtung vorgegeben, meint sie: "Einige nackte Männerskulpturen reichen nicht aus, um zu verschleiern, dass hier doch einiges unter den Tisch gekehrt wurde. Und spätestens im 20. Jahrhundert ist es offensichtlich: Hier wird die Kunstgeschichte so zusammengesetzt, wie die Emirate es gerne haben. Doch das verharmlost die Kunst, es reduziert sie auf einen hehren unbefleckten Schönheitsbegriff. Kunst war aber immer auch das Ringen mit dem Bösen. Sie war Lust und Körperlichkeit, weil der Mensch sich selbst verstehen will, seine Nöte und Ängste. Und sie war Gewalt. Im Louvre Abu Dhabi ist von all dem nur wenig zu sehen. Schlimmer noch: Bei den Zeitgenossen verkommt das Konzept zur Diktatur des Blicks."

"Spek­ta­ku­lär schön, klug be­spielt und po­li­tisch kor­rekt" - und ein "Wag­nis", meint hingegen FAZ-Kritikerin Lena Bopp. Trotz interessanter Einblicke in die islamische Welt habe man den Slogan "See humanity in a new light" allerdings zu wörtlich genommen: "Zu­wei­len fühlt man sich wie ein Kind, das an die Hand ge­nom­men und durch den Paradiesgarten na­mens Er­de ge­führt wird, wo­bei man ihm stets ver­si­chert, dass die Mensch­heit trotz au­gen­fäl­li­ger Un­ter­schie­de doch Teil ei­nes gro­ßen Gan­zen, näm­lich der Schöp­fung ist." Eine Bilderserie zum Louvre Abu Dhabi hat die Presse online gestellt.

Die große Foto-Retrospektive "Malick Sidibé. Mali Twist" in der Pariser Fondation Cartier ist auch ein Rückblick auf die Geschichte des Landes, meint Brigitte Werneburg in der taz und schaut wehmütig auf die Fotografien, die selbstbewusste, ausgelassen tanzende Mädchen und Jungen zeigen: "Man selbst denkt, dass ihre Töchter nicht die geringste Ahnung von der Freiheit haben können, die ihre Mütter einst genossen und heute verdrängt haben, und das sei noch weit schlimmer als die nun neue Kleiderordnung. 'Mali Twist' ist eine große politische Ausstellung, weil sie den international zu beobachtenden Aufbruch der 1960er Jahre, als große Teile der Weltgesellschaft Faschismus, Krieg und Kolonialismus hinter sich ließen, noch einmal nachdrücklich ins Gedächtnis ruft." (Foto: Malick Sidibé, Nuit de Noël, 1963, Collection Fondation Cartier pour l'art contemporain, Paris)

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel verteidigt Christiane Peitz die von dem deutsch-syrischen Künstler Manaf Halbouni nun auch in Berlin errichtete Bus-Installation vor dem Vorwurf des "Katastrophen-Voyeurismus": Seine Arbeit sei "Versinnlichung statt Versinnbildlichung". Melanie Berger spricht im Tagesspiegel mit Halbouni über seine Hassliebe zu Dresden und seine Hoffnungen für Berlin. "Mut zum Theatralischen, zum Emotionalen", Sinnlichkeit und Verzicht auf "elitäre" Arroganz" attestiert Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung dem 3. Gorki-Herbstsalon, der sich unter dem Motto "Desintegriert Euch!" dem Thema Diversität widmet. Die FAZ bringt im Feuilleton-Aufmacher die Rede, die Horst Bredekamp gestern anlässlich der Verleihung des Schiller-Preises in Marbach hielt und in der er Schillers Spieltheorie auf die Museologie anwendet.

Besprochen werden Julius von Bismarcks Ausstellung "Gewaltenteilung" in der Städtischen Galerie Wolfsburg (Tagesspiegel) und Cyrill Lachauers "Foto-Reise" in der Berlinischen Galerie (FR).
Archiv: Kunst

Literatur

Mit "Die Obstdiebin" legt Peter Handke eigener Einschätzung nach sein letztes Alters-Epos vor. Gregor Dotzauer vom Tagesspiegel folgt dem Schriftsteller darin allerdings nur sehr widerwillig auf eine Reise durch die Sprache: Der Autor "steht wieder einmal auf der Kippe von Erleuchtung und Delirium. Man könnte seine Literatur, in der auf Seite 489 lustvoll Eucharistie gefeiert wird, einem theologischen Oberseminar zur Exegese vorlegen, aber auch als Selbstparodie der Titanic unterjubeln. Absätze von betörender Ruhe und Sinnlichkeit wechseln mit pathetischem Geklapper voller Aufzählungsticks und Redundanzfloskeln."

Handkes Buch, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung, ist ein "Zuwachs an Weltflucht" attestierbar: "Die Literatur wird zum 'Schrift-Zug hinter geschlossenen Lidern', zum Flucht-Ort, zur Insel, zum Rück-Zug. Die vielen Bezüge auf Wolfram von Eschenbach sind hierbei nur das äußere Zeichen einer Dichtung im inneren Exil. Ihr Hauptheld ist ohnehin, wie stets bei Handke, die Sprache, die 'gute und schöne deutsche Sprache'. Und auch dieses Buch scheint mitunter einzig geschrieben, um sie hinaufzuheben in einen unermesslichen Himmel der Andeutungen, um überhaupt himmelhebende Worte zu finden."

In einem großen Essay für die Literarische Welt denkt der Schriftsteller Joshua Cohen über Literatur im Zeitalter der Digitalisierung nach: Per Knopfdruck können Forscher heute gewaltige Textkörper nach Stilistika, Wortballungen und -konstellationen durchforsten. Doch beeinflussen diese Tools auch die Schriftsteller, die befürchten, Leser interessierten sich weniger für ihre Romane als für ihr Persönlichkeitsprofil: "Wenn ich mir bewusst bin, dass all meine Wörter eines Tages nicht mehr nacheinander und vielleicht auch gar nicht mehr gelesen werden, sondern nur noch als etymologischer oder grammatischer Datensatz behandelt werden, der nach Suchalgorithmen analysiert und zu Geld gemacht wird, bestünde die einzige anständige Reaktion dann nicht in dem Versuch, das System zu sabotieren und gegen seine Parameter anzuschreiben - also entweder zu plagiieren oder gar nicht mehr zu schreiben?"

Schriftsteller dürfen sich auf ihre Leser nicht verlassen, schreibt der Schriftsteller Michail Schischkin in einem die Frage umkreisenden NZZ-Essay, zu was Literatur noch nütze sein kann, wenn sie die großen Menschheitskatastrophen nicht verhindert hat, und plädiert für eine Literatur, die ihre Schwäche selbstbewusst zur Stärke umwandelt: "Um sich von der Erde zu lösen und aufzufliegen, stützt sich die wahre Literatur nicht auf das lesende Publikum, sondern sie überlässt sich dem Sog nach oben, gegen den Himmel."

Weiteres: Die Schriftstellerin Jhumpa Lahiri, ohnehin schon mehrsprachig bewandert, berichtet in der Literarischen Welt von ihren Versuchen, auf Italienisch zu schreiben. Einst hat George Orwell die BBC im Streit verlassen, jetzt wurde an deren Haupteingang ein Denkmal ihm zu Ehren errichtet, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ. Annabelle Hirsch porträtiert für die taz die Autorin Aurelie Silvestre, deren Ehemann beim Anschlag aufs Bataclan ums Leben kam, worüber sie jetzt ein Buch geschrieben hat. Comiczeichner Bela Sobottke plädiert im Tagesspiegel im Zeitalter von Graphic Novels für die Ehrenrettung der Comic-Kurzgeschichte. Benjamin Trilling hat für die taz Thomas Medicus' Berliner Präsentation seines Buches "Nach der Idylle" besucht. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um David Foster Wallace' "Unendlicher Spaß". Im Feature für Deutschlandfunk Kultur befasst sich Paul Stänner mit Leonard Cohen als Romancier. Andreas Platthaus stellt in der FAZ die Tanka-Gedichte der japanischen Kaiserin Michiko vor, die demnächst in einer Übersetzung des Japanologen Peter Pantzer auch auf Deutsch erscheinen.

Besprochen werden Juli Zehs "Leere Herzen" (SZ), Daniel Kehlmanns "Tyll" (taz), Leïla Slimanis "Dann schlaf auch du" (ZeitOnline), Fred Dewildes Comic über den Anschlag auf das Bataclan vor zwei Jahren (Freitag), eine Lenin-Biografie von Victor Sebestyen (taz), Stephen Kings "Sleeping Beauties" (Welt) und Catherine Millets "Traumhafte Kindheit" (FAZ).
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Musik

Mit seiner Konzertreihe beim Jazzfest Berlin hat der Schlagzeuger und Komponist Tyshawn Sorey wirklich einen bleibenden Eindruck beim Feuilleton hinterlassen. Heute ist es an Jan Kedves in der SZ, sich in die Reihe der feuilletonistischen Lobeshymnen einzureihen: Er staunt Bauklötze darüber, welche Vielzahl musikalischer Einflüsse Sorey "universalisiert und harmonisiert ausspielen kann und dabei doch gleichzeitig auch immer zu fragen scheint, was Musik, was Harmonik, was Rhythmus überhaupt ist. ... Man glaubt kaum, was für wunderschöne gespenstische Töne Tyshawn Sorey auf der Snaredrum entstehen lassen kann, wenn er sie nicht trommelt, sondern singen lässt. Er drückt dann das dickere Ende des Drumsticks dahin, wo Fell und der metallene Spannreifen aufeinandertreffen, und fährt dann am Rand der Trommel im Kreis." Das schauen wir uns gerne genauer an - in dieser Live-Aufnahme, die allerdings nicht beim Jazzfest Berlin entstanden ist (in der fast sechsstündigen ARD-Jazznacht ist auch ein Berliner Mitschnitt zu finden, allerdings gibt es keine näheren Zeitangaben):



Weiteres: Für die taz plaudert Julian Weber mit Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann über die Geschichte ihres auch verlegerisch tätigen Musiklabels Trikont Records. Inga Barthels gibt im Tagesspiegel eine Zwischenstandsmeldung vom feministischen Musikfestival We Make Waves. Das Berliner Konzert von Pussy Riot beim No Music Festival fand taz-Kritiker Thomas Mauch "mitsamt seiner musikalischen Belanglosigkeit lähmend langweilig". Lars Fleischmann empfiehlt in der taz unterdessen das Kölner Konzert der Gebrüder Alan und Richard Bishop. Für die FAZ resümiert Jan Brachmann die Badenweiler Musiktage. Im Bayerischen Rundfunk begibt sich Klaus Walter im Zündfunk-Feature "Black, proud und missverstanden" auf eine Spurensuche nach James Brown.

Besprochen werden das neue Morrissey-Album (NZZ), drei wiederveröffentlichte Alben von Pharoah Sanders (Pitchfork), das neue Album von Taylor Swift (SZ) sowie Konzerte von Dälek (Tagesspiegel) und Harry Styles (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Film

Georg Seeßlen fragt sich im großen Essay auf epdFilm, wie viel Ufa heute noch im deutschen Kino steckt und führt diese Frage in einem weiteren Essay an konkreten Beispielen für den "Neo-Ufa-Stil" aus. Diesen charakterisiere eine Verweigerung gegenüber "den Methoden der künstlerischen Moderne: Man akzeptiert keine Verfremdungseffekte, keine Abstraktion. Alle Personen folgen einer gleichbleibenden mittelständisch-gegenwärtigen Logik von Diskurs und Gefühl. Die Menschen haben Probleme, gewiss. Aber sie haben sich zweifelsfrei, sie bieten Identität als Trost. Als Realismus wird hier eine konstante Analogie zur wirklichen Welt verstanden, in der sich Menschen menschlich und Automobile automobilistisch verhalten. ... Dies also ist ein weiteres Vergnügen in Ufa-Filmen und in Filmen im Ufa-Stil, dass sich Menschen niemals fremd in ihrer Umwelt finden, es sei denn, ein dickes 'fremd' steht im Drehbuch."

Weiteres: Reinhard Kleber befasst sich im Filmdienst mit Kino-Neueröffungen in Zeiten des diagnostizierten Kinosterbens. Das ZeitMagazin bringt eine Strecke mit Fotos aus einem neuen Coffeetable-Book über die Dreharbeiten von Nicolas Roegs "Der Mann, der vom Himmel fiel" mit David Bowie in der Hauptrolle. Harry Nutt schreibt in der FR zum Tod des Schauspielers John Hillermann, der in der Serie "Magnum" Higgins gespielt hat.

Besprochen werden Delphine und Muriel Coulins "Die Welt sehen" über Kriegsveteraninnen (Tagesspiegel), Ulrike Pfeiffers Porträtfilm "Werner Nekes - Das Leben zwischen den Bildern" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Max Kestners Dokumentarfilm "Amateurs in Space" (SZ), George Clooneys "Suburbicon" (Standard, ZeitOnline) und Nicolas Wackerbarths Filmbetriebs-Satire "Casting" (Freitag, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Architektur

Rettet die Architektur des Brutalismus, fordert Marcus Woeller in der Welt, denn sie seien als "Skulpturen ihrer Zeit" zu verstehen: "Vielfach droht der Abriss, wenn der Denkmalschutz nicht eingreift."

Weiteres: Im Tagesspiegel freut sich Stefanie Borowsky auf das Bauhaus-Jubiläumsjahr 2019, das neben zahlreichen Ausstellungen auch mit neuen Museumsbauten aufwarten wird: 54 Millionen Euro habe der Bund dafür bereit gestellt.
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Bühne

Bild: Szene aus "Eine Frau - Mary Page Marlowe". Foto: Julian Röder

David Bösch
hat Tracy Letts' Stück "Eine Frau − Mary Page Marlowe" am Berliner Ensemble nun erstmals auf Deutsch inszeniert, mit gleich vier Frauen, die die Höhen und Tiefen eines siebzigjährigen Lebens auf die Bühne bringen. Nachtkritikerin Simone Kaempf bescheinigt nicht nur Letts "Schreibkunst erster Güte", sondern auch dem Regisseur "Affenliebe zum Detail". Und: "Was die Akteure aber an feinstem Schauspielertheater bieten, geht weit über die Situation hinaus, ist immer suggestiv, spannt unterschiedliche Kräfte zusammen. Es sind Frauen, die in wechselnden Situationen versuchen, die Familie zusammenzuhalten."

In der Berliner Zeitung wird Ulrich Seidler hingegen entschieden zu viel geredet und: "Ähnlich deutlich wird auch gespielt. Mit teilweise stampfiger aber auch bewunderungswürdiger Kurzstrecken-Seelenathletik wie Tränenausbrüchen aus dem Stand. Spielideen gibt es wenig, stattdessen verliert man die Alltag simulierenden, dabei aber symbolisch aufgeladenen Worte und bedient die abgeschabt naturalistische Ausstattung."

Weiteres: Die Nachtkritik hat die Rede online nachgereicht, die Monika Grütters anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens hielt: "Ihr Verdienst ist es, im Internet jenen Resonanzraum für das deutschsprachige Theater geschaffen zu haben, der im Zeitungsfeuilleton keinen Platz hat, dem allgegenwärtigen Spardruck wie auch dem Selbstverständnis grauer Kritikereminenzen geschuldet, deren Urteile dem Leser im analogen Zeitalter als letztinstanzlich präsentiert wurden." Viel Zeitkritik und noch mehr Wucht erlebt Andrea Heinz in der Nachtkritik in Thomas Köcks und Elsa-Sophie Jachs Stück "Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!) am Wiener Schauspielhaus. Weitere Besprechungen in der Presse und im Standard.
Archiv: Bühne