Efeu - Die Kulturrundschau

Subtil ins Opernhafte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2018. Die FR feiert Nicolas Cages großartiges Comeback in Panos Cosmatos' Horrorfilm-Grandezza "Mandy". Die NZZ porträtiert die britische Künstlerin Sarah Lucas, die Sex wie keine andere heute inszenieren kann. Warum kam #metoo so spät, fragt der emeritierte Kunstprofessor Klaus vom Bruch auf Zeit online. In der taz knöpft sich Musiker Jens Friebe die Theorie-Alphatiere vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2018 finden Sie hier

Film

Mit magischem Motorrad zurück in Höchstform: Nicolas Cage in "Mandy"


Hin und weg ist FR-Kritiker Daniel Kothenschulte von Panos Cosmatos' Horrorfilm-Grandezza "Mandy", die sich mit großem Willen zur Kunst einmal quer durch die Niederungen des Horrorfilms der achtziger Jahre sampelt und gleich zwei künstlerische Hochleistungen vereint: "Zum einen ist das die Filmmusik von Jóhann Jóhannsson, die letzte große Arbeit des Isländers, der im Februar in Berlin gestorben ist. Der fast durchgehende Soundtrack zwischen Art Rock, Psycheldelic und Heavy Metal überhöht das Geschehen subtil ins Opernhafte." Und dann, als Naturgewalt, Nicolas Cage, der lange Zeit im Direct-to-Video-Bodensatz verschwunden war. "Wie ein magisches Motorrad, das den Highway rückwärts in die Vergangenheit rast, bringt er ihn zurück zu seiner prägenden Rolle in David Lynchs 'Wild at Heart'. Wie das Paar Sailor und Lula begegnen uns Cage und seine Spielpartnerin Andrea Riseborough zu Beginn, fast so als hätten sie im Holzfällerwald ein Refugium gefunden. Der zärtliche Ton, mit dem 'Mandy' diese Weltflüchtigen in ihrem morbiden Idyll einfängt, ist unwiderstehlich."

EIn Film spaltet die Filmkritik: Adina Pintilies "Touch Me Not"


Adina Pintilies Experimental-Anordung "Touch Me Not" (mehr dazu schon im gestrigen Efeu) spaltet die Kritik: Der Riss geht mitten durch den Tagesspiegel, wo sich Dunja Bialas und Andreas Busche ein Pro und Contra liefern. In dem intimen Film über Menschen, deren Körper gängigen Normen nicht entsprechen, "geht es nicht um Transgression als Selbstzweck, sondern um Selbstbefragung. Auf und vor der Leinwand", sagt Busche und findet den Film "vor allem als Beitrag zu aktuellen Diversitätsdebatten überzeugend, weil der Film landläufigen, kulturalistisch geprägten Vorstellungen von Identität ein nur selten formuliertes Körperbewusstsein jenseits von Sexus und Gender vorhält." Bialas hingegen geht gezwungenermaßen auf Abstand: "Cleaner Therapiesprech bestimmt 'Touch Me Not', wo es um Gefühle und Körperlichkeit gehen könnte. Der Film bleibt auf Distanz. Zu den Emotionen, vor allem zu den Körpern, die sich unter der gestaffelten Inszenierung der Blicke entfernen. ... Steril und emotionslos signalisiert er jedoch in jedem Moment: Ich lass dich nicht zu nahe heran. Berühr mich nicht. Didaktisches Kino, das sich konterkariert."

Dieser Film ist ein "Monstrum", entsetzt sich Andreas Kilb in der FAZ: Er sah "einen Film, in dem selbst die Wirklichkeit wie eine Lüge aussieht. Die Erfahrung, die man mit diesem Film macht, ist die eines Betrugs." Sehr einfühlsam schreibt hingegen Elisabeth von Thadden in der Zeit: "Über die Finger, die tastend die Eigenart eines Menschen erkennen, wird die Wirklichkeit der individuellen Existenz erst erfahrbar. Darin sind die Finger und die Kamera einander verwandt: Die Grenzen zwischen Filmkunst, Therapie und zwischenleiblicher Zuwendung sollen unter Adina Pintilies Regie verschwimmen. ... Der Ekel, die Wut, der Trost und die Fremdheit, die Pintilies Protagonisten erfahren, wollen übergreifen auf ein Publikum, das ihnen bei ihren Entdeckungen zusieht. Allein dieses Wagnis hat die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären verdient."

Besprochen werden zahlreiche auf der Viennale gezeigte Dokumentarfilme (Perlentaucher), Orif Raul Graizers Spielfilmdebüt "The Cakemaker" (taz), Bryan Singers Queen-Biopic "Bohemian Rhapsody" (Standard, mehr dazu hier und hier), Detlef Helmbolds umfangreicher Bildband "Mehr Kunst als Werbung: Das DDR-Filmplakat 1945-1990" (Tagesspiegel), die von Netflix produzierte Finalisierung von Orson Welles' Filmruine "The Other Side of the Wind" (NZZ, mehr dazu hier), Gustav Möllers Thriller "The Guilty" (Standard), Markus Gollers Komödie "25 km/h" (SZ), die zweite Staffel der Arte-Serie "Mammon" (FR), die auf dem gleichnamigen Podcast basierende Thriller-Serie "Homecoming" mit Julia Roberts (FAZ) und die letzte Staffel von "House of Cards" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

In der NZZ stellt Ulf Meyer den chilenische Architekten Alejandro Aravena vor, dem das Louisiana Museum in Dänemark derzeit eine Ausstellung widmet. Die SZ lernt, dass das innovativste Hochhaus der Welt in Mexiko steht und von L. Benjamín Romano erbaut wurde (mehr im Architekturmuseum Frankfurt).
Archiv: Architektur

Kunst

Sarah Lucas, Self Portrait with Fried Eggs, 1996
Mit viel Sympathie - vor allem für ihre Wurzeln aus der Arbeiterklasse - porträtiert Sarah Pines in der NZZ die britische Künstlerin Sarah Lucas, die derzeit im New Yorker New Museum ausstellt: "Lucas' Selbstporträts hingegen, die überall die Wände des Museums zieren, sind keine Selfies, sondern von ihren Ex-Freunden aufgenommene Fotografien. Stets schaut die Künstlerin darauf direkt in die Kamera, das Kinn vorgereckt. Es sind intime Aufnahmen, aber nicht solche einer sich lasziv räkelnden Freundin. Lucas hockt maskulin-lässig und breitbeinig da wie ein Kerl, auf ihrer Brust lagern zwei Spiegeleier. 'Was begehren wir?', fragen Lucas' Werke. Das Androgyne? Einfach nur das Genital? Das Nichtschöne, Unglatte? Sex ist überall, auch noch nach #MeToo. Wir sind umgeben von Nacktheit und Anzüglichkeiten, vermittelt durch Fernsehen und Glanzbilder. Sex ohne Klischees und ohne Moral darzustellen, einfach so, wie er ist, ist kaum mehr möglich, außer Lucas tut es."

#metoo kam ganz schön spät, meint Klaus vom Bruch, emeritierter Kunstprofessor in Karlsruhe und München, im Interview mit Zeit online. Hatten Frauen nicht schon in den Siebzigern "Nein heißt Nein" gefordert? Auch heute noch gebe es sexuellen Missbrauch, überhaupt Machtmissbrauch an Kunstakademien. Was wohl auch mit der Verletztlichkeit vieler Studenten zu tun hat: "Als Professor steht man vor enormen psychologischen Herausforderungen: Die Hälfte aller Studierenden studieren Kunst gegen den Willen ihrer Eltern und werden teilweise auch enterbt. Viele wenden sich deshalb noch enger ihrem Professor zu, weil die meistens so alt sind wie die Eltern, und das birgt noch mehr Risikopotenzial, dass Macht missbraucht wird ... Man reflektiert seine eigene Rolle und die Machtposition, die man im Umgang mit Studenten einnimmt, nicht ständig. Ich habe mal eine Ex-Studentin getroffen und sie gefragt: 'Wie hast du meine Anwesenheit empfunden?' Sie meinte: 'Immer, wenn du den Raum betratst, hättest du von uns verlangen können, was du wolltest.' Das war mir überhaupt nicht bewusst."

Weitere Artikel: Jörg Hunke war für die Berliner Zeitung dabei, als die Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Berliner Kulturforum digitale Projekte für die Museumswelt der Zukunft vorzustellte. Gunnar Lützow gratuliert in der Berliner Zeitung dem Künstler Bernd Koberling zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Baden Baden Baden" der amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman in der Kunsthalle Baden-Baden(taz), die archäologische Sonderausstellung "Bewegte Zeiten" im Martin-Gropius-Bau in Berliner (Berliner Zeitung), die auditive Ausstellung "Radiophonic Spaces" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (Tagesspiegel), die Ausstellung "Florenz und seine Maler" in der Alten Pinakothek in München (Welt), eine Ausstellung von Max-Beckmann-Bildern aus der Sammlung Göpel im Berliner Kulturforum (FR), eine Ausstellung des georgischen Maler Niko Pirosmani in der Wiener Albertina (FAZ), die "sensationelle" Ausstellung der amerikanischen Installationskünstlerin Cady Noland im Frankfurter MMK (SZ) und die Ausstellung "Verhüllt, enthüllt! Das Kopftuch" im Wiener Weltmuseum (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Besprochen werden Georg Schmiedleitners Inszenierung der Komödie - frei nach Flaubert und Carl von Sternheim - "Der Kandidat" am Wiener Akademietheater (dabei geht's "mit Holzhammer und Brechstange" gegen den Populismus, seufzt Martin Lhotzky in der FAZ, aber "optisch ist die Aufführung ein Coup", lobt Gabi Hift in der nachtkritik, Standard) und Milena Michaleks Stück "Mütter" am Kosmostheater Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Besprochen werden Karen Duves "Fräulein Nettes kurzer Sommer" (Tagesspiegel), Kathrin Gerlofs "Nenn mich November" (FR), Manja Präkels' "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" (Tagesspiegel), der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger (online nachgereicht von der FAS), Ulf Erdmann Zieglers "Schottland und andere Erzählungen" (NZZ) und Arnulf Meiferts Studie "Robert Kraft. Avanturier und Selbstsucher" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Für die taz plaudert Sven Sakowitz mit Jens Friebe, der sich auf seinem neuem Album "Fuck Penetration" all jene Männer vorknöpft, die zwar denkbar heterosexuell vor sich hinleben, aber dennoch mit dem Label "queer" kokettieren. "Vor allem meine ich damit Theorie-Alphatiere, die in Diskussionen das große Wort führen. ... Auch ein heterosexueller Mann kann an der Auflösung der binären Geschlechtsidentitäten interessiert sein. Aber sich so ein Attribut anzuhängen, finde ich von jemandem, der so gar nicht dafür gestritten und gelitten hat, zu billig. Ich denke dann immer: Du bist nicht queer, du hast Frau und Kind."



Weitere Artikel: "In der spezifisch österreichischen Popmusik zählt seit Jahrhunderten der Todesschlager zu den herausragendsten kulturellen Leistungen, die dieses Land jemals hervorgebracht hat", hält Christian Schachinger im Standard fest. Josef Oehrlein berichtet in der FAZ von den Kasseler Musiktagen.

Besprochen werden Julia Holters "Aviary" (Pitchfork), der Auftakt des Zürcher Festivals Jazznojazz (NZZ), ein Konzert des Pianisten Arcadi Volodos (Standard), neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Orchestra of Spheres (ZeitOnline), und der Berliner Auftritt von Khruangbin (Tagesspiegel), die live tatsächlich schön entspannt ins Wochenende wabern:

Archiv: Musik