Efeu - Die Kulturrundschau

Alles, was dem Publikum gefallen könnte

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2021. Der Standard erkundet im Kunsthistorischen Museum die Manifestationen Höherer Mächte. Die FR erlebt mit Rameaus Barockoper "Hippolyte et Aricie" in Mannheim, wie sich das Streaming verselbständigt. Die taz lässt sich von David France erklären, warum er für seine Doku über Homophobie in Tschetschenien auf Deep Fakes zurückgriff. SZ und FAZ schreiben zum Tod des deutsch-iranischen Dichters SAID.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2021 finden Sie hier

Kunst

Maskenkostüm des Sturmdämons O'ma. Brasilien, Tikuna, um 1830. Foto: KHM

Wo sind sie, wenn man sie braucht?, seufzt Standard-Kritikerin Katharina Rustler nach der Ausstellung "Höhere Mächte" im Kunsthistorischen Museum Wien, die dem Glauben und der Herrschaft nachspürt: "Unter dem Titel der irdischen Mächte werden Symbole der Herrschaft ausgestellt. Eine türkische Krone, ein äthiopisches Schild, ein koreanisches Kriegskleid, ein europäischer Tropenhelm. Dazwischen pludert sich eine aus unzähligen orangen Papageienfedern bestehende kongolesische Kopfbedeckung auf. Wo es Macht gibt, gibt es auch Machtlosigkeit. Das Finale (und auch Highlight) der Schau bildet das dritte Kapitel, das sich den höheren Mächten wohl im wahrsten Sinne widmet: der menschlichen Sehnsucht, mit ihnen in Verbindung zu treten. Auf einem altarähnlichen Plateau treten Objekte des Rituals, des Glaubens sowie der Magie auf. Das Gemälde des kränklichen und deshalb mit Amuletten versehenen Infanten Philipp Prosper von Diego Velázquez hängt hier ebenso wie Schamanengewänder und eine Kasel des Papst-Ornats."

Hervorragend bestückt und effektvoll in Szene gesetzt findet Wolfgang krische die Ausstellung "Magische Wirklichkeit" mit Werken von Giorgio de Chirico. Dass die Hamburger Kunsthalle ganz auf die metaphysische Phase des italienischen Malers setzt, leuchtet dem Kritiker sofort ein: "Von den zwanziger Jahren an lebte de Chirico im Schlagschatten seines eigenen Ruhms. Die Pittura metafisica war so sehr zu seinem Markenzeichen geworden, dass er in den zwanziger bis fünfziger Jahren Imitationen und Variationen dieser Bilder produzierte und diese Repliken rückdatierte, um sie als Werke seiner künstlerischen Hochphase verkaufen zu können."

Weitere Artikel: Als "Botschafterin der Unendlichkeit" feiert Vojin Saša Vukadinovic im Tagesspiegel die japanische Künstlerin Yayoi Kusama, deren Retrospektive im Berliner Gropiusbau demnächst zu sehen sein wird. Der Tagesspiegel gibt außerdem einen Überblick über die demnächst öffnenden Museen und Galerien. Alexander Menden blickt in der SZ auf die Lage der Kunstvereine. Im Observer besucht Laura Cumming eine Ausstellung mit Gipsabgüssen von Rodins Skulpturen in der Tate Modern.
Archiv: Kunst

Bühne

Neobarocke Reizüberflutung: Rameaus "Hippolyte et Aricie" am Nationaltheater Mannheim. Foto: Christian Kleiner

Fast ein wenig überrascht bemerkt Judith von Sternburg in der FR, dass sich das Opern-Streaming selbständig macht. Bei Benjamin Brittens "Turn of the Screw" in Hannover zum Beispiel, aber noch mehr bei Rameaus Barockoper "Hippolyte et Aricie" in Mannheim. Hier treffen innigste Traurigkeit und prärevolutionäre Aufmüpfigkei auf rigorose Reizüberflutung, wie Sternburg gluckst: "In der patchworkhaften Üppigkeit der Ausstattung - mit feurigen Balletteinlagen, einem Auto, mehr als einem Sturm - spiegeln sich Lust und Irrsinn von großen Opernaufführungen, in denen alles passieren darf, was dem Publikum gefallen könnte. Daraus entsteht ein Theaterfilm mit einer eigenen Ästhetik, die sich nachher nicht mehr wird wiederholen lassen. Angesichts der sängerischen Leistungen wird schon allein der Szenenapplaus echt und echt nervend sein."

Weiteres: Als künftigen Hort der freien Bühnen Wiens stellt Margarete Affenzeller im Standard das Brut Nordwest vor. In der taz berichtet Katrin Bettina Müller von Podiumsdiskussion zum Machtmissbrauch an den Bühnen am Rande des Theatertreffens. In der Nachtkritik unterhält sich Stephanie Drees mit Tim Etchells vom britischen Theaterkollektiv Forced Entertainment über die Folgen des Brexits.

Besprochen wird die zwölfstündige Performance "Show me a Good Time" des deutsch-britischen Truppe Gob Squad beim Theatertreffen (für die Irene Bazinger in der FAZ nur Attrtibute wie beliebig, dürftig, öde übrig hat).
Archiv: Bühne

Film

Patrick Heidmann unterhält sich in der taz mit dem Journalisten David France, dessen zuvor auf der Berlinale gezeigte Doku "Welcome to Chechnya", die Aktivisten bei Fluchtvorbereitungen angesichts der bedrückenden Homophobie in Tschetschenien beobachtet, gerade bei Arte zu sehen ist. Um die Menschen zu schützen, griffen France und sein Team auf Deep-Fake-Technologie zurück, für die Schauspieler den Menschen ihre Gesichter liehen: "Allen Menschen, die mutig genug waren, vor meiner Kamera zu erscheinen, habe ich versprochen, dass ich am Ende nicht bloß die Gesichter verwische und die Stimmen verzerre. Mir ging es wirklich darum, dass selbst die eigene Mutter sie nicht mehr erkennt." Daneben "hatten wir für jede Aktion genaue Verhaltensprotokolle, für den Fall, wenn wir angehalten, verraten oder verhaftet werden. Das gab mir ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Worauf ich allerdings nicht vorbereitet war, war die Angst, die jeder Einzelne von uns ausgerechnet in diesen Safe Houses spürte. Außerhalb dieser vier Wände lauerte allzeit die Gefahr, und jedes Mal, wenn es dunkel wurde, stand die Möglichkeit im Raum, dass die Gewalt über uns hereinbrechen würde, weil irgendjemand unser Versteck aufgetan hat. Jeder knackende Ast vor dem Fenster ließ uns den Atem gefrieren."

Weitere Artikel: Esther Buss widmet sich im Filmdienst der österreichischen Experimentalfilmemacherin Antoinette Zwirchmayr. Felix Wemheuer begeistert sich in der Jungle World über reich gefüllte Mediatheken (etwa diese, jene oder selbige) zum 75-jährigen DEFA-Jubiläum. Johanna Adorján blättert für die SZ in David Nivens Memoiren "Bring on the Empty Horses" von 1975.

Besprochen werden Joe Wrights Netflix-Thriller "Die Frau im Fenster" mit Amy Adams (SZ), ein neuer Actionfilm mit Bruce Willis (SZ) und der russisch-patriotische Kriegsfilm "Dewjatajew", mit dem der Regisseur Timur Bekmanbetow laut FAZ-Kritikerin Kerstin Holm "Russlands Popkultur endlich einen frischen und zugleich historisch fundierten Heldenmythos beschert".
Archiv: Film

Literatur

Der iranisch-deutsche Dichter SAID ist in München gestorben. Vom deutschen Exil aus, in das er 1965 kam und wo er die Studentenbewegung hautnah miterlebte, schrieb er gegen die Schahs und Mullahs in seinem Heimatland an, erinnert sich Stefan Weidner in der SZ. "Mit Metaphern ging SAID sparsam um. Er liebte die persische Literatur, pflegte seine Muttersprache, las die alten Dichter ebenso wie die neuesten, mit denen er oft in Kontakt stand. Aber nie bediente er die geläufigen Klischees von der Blumigkeit der orientalischen Poesie. Sein Deutsch - hart, kühl, schneidend - war das Gegenteil der Sprachverliebtheit, welche die persische Lyrik teils heute noch prägt. Sprachliche Nüchternheit, wenngleich auf verspieltere Weise, prägte auch seine Prosa und seine Essays." Andreas Platthaus ergänzt in der FAZ: "Die Trennung der Kulturen, die wechselseitige Abgrenzung von Orient und Okzident, nannte SAID vor elf Jahren in einem Interview 'tödlich', aber ungeachtet seiner eigenen Erfahrungen sah er in den Religionen die Hoffnung zur Überwindung dieser Gegensätze. Die Mystik war ihm ein Rückhalt."

In der SZ spricht die Schriftstellerin Lena Gorelik, die 1992 mit ihren Eltern aus St. Petersburg kam, über ihren Roman "Wer wir sind", der die Geschichte ihrer Familie erzählt. Das Buch greift immer wieder auch auf kyrillisch geschriebene, russische Wörter auf, erklärt sie: "Eine Sprache wird bereichert durch den Einfluss anderer Sprachen, und ein Roman, in dem russische Worte vorkommen oder auch arabische oder sonst irgendwelche, ist für mich wie ein Geschenk an die deutsche Sprache. Ich habe die russischen Wörter sehr bewusst gewählt und geschaut: Wo hat die deutsche Sprache ihre Lücken, und wo wiederum hat die russische Sprache ihre Lücken?"

Weitere Artikel: Im Freitag spricht Thomas Wagner mit Merle Kröger über ihren Thriller "Die Experten". Monika Gemmer schreibt in der FR zum 250. Geburtstag der Salonière Rahel Varnhagen. In der Dante-Reihe der FAZ schreibt Ulf von Rauchhaupt darüber, was Dantes Kosmologie mit Einstein gemeinsam hat.

Besprochen werden unter anderem Ling Mas "New York Ghost" (Tagesspiegel), Hannes Steins "Der Weltreporter" (taz), Mary Gaitskills Erzählung "Das ist Lust" (Tagesspiegel), Erzählbände von Asja Bakić und Rumena Bužarovska (ZeitOnline), Ulla Hahns Gedichtband "stille trommeln" (Dlf Kultur), Helen Macdonalds "Abendflüge" (Dlf Kultur), Amy Waldmans "Das ferne Feuer" (FR), Fatima Daas' "Die jüngste Tochter" (Tagesspiegel), John Greens "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" (SZ) und Markéta Pilátovás "Mit Bat'a im Dschungel" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Ulrich Stock porträtiert in der Zeit die New Yorker Jazztrompeterin Jaimie Branch, die spätestens seit ihrem Auftritt beim Jazzfest 2018 in Berlin auch hierzulande ihren Ruf als Punk-Jazzerin weg hat. Aktuell gibt es eine neue Live-Aufnahme von ihr zu hören: "Ein elastisch-driftender Rhythmusteppich, auf dem die Melodien fliegen. Chad Taylor ... versieht seinen Groove mit Extrasystolen, Lester St. Louis am Cello und Jason Ajemian am Kontrabass bilden eine holzwarme Tiefen-Doppelfront. Zu Beginn nehmen sich die vier alle Zeit. Chad Taylor spielt ein langes Intro auf der Mbira, dem subsaharischen Daumenklavier, das ursprünglich half, bei Zeremonien Verbindung zu den Ahnen aufzunehmen. Der Klang ist federnd und weich, vielschichtig; er öffnet die Ohren. Es dauert Minuten, bis die Trompete sich anpirscht. Die eigentlich ungläubige Jaimie Branch streut dann ein wortreiches Prayer for Amerikkka ein, ein Bluesgebet mit KKK, in dem sie das Böse beschwört, das ihr Land quält, um es ein für alle Mal abzuschütteln, den Rassismus zuvörderst." Ein Ausschnitt des Konzerts:



Weitere Artikel: Michael Stallknecht porträtiert für die SZ den Oboisten James Austin Smith, der im Juni eine neue Komposition von Siegfried Thiele aufführen wird. Für die NZZ spricht Hanspeter Künzler mit dem Schweizer Komponisten Dominik Scherrer, der die Titelmelodie zur BBC-Serie "The Serpent" geschrieben hat. Simon Reynolds schreibt für Tidal über Musique Concrète. In der FAZ gratuliert Christiane Wiesenfeldt dem Brahmsologen Kurt Hoffmann zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden neue Alben von St. Vincent (Welt), Girl in Red (SZ) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter das neue Album von Sons of Kemet (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik