Efeu - Die Kulturrundschau

Von Natur aus polarisiert

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16.09.2021. In der Zeit erklärt Hito Steyerl, weshalb sie das Bundesverdienstkreuz ablehnt - und auch sonst nicht für "Diversity-Washing" zur Verfügung steht. Die Filmkritiker erliegen dem Charme von Maria Speths "Herrn Bachmann und seiner Klasse", die FR fragt aber: Ist es legitim, so viel Intimität von Kindern abzuschöpfen? In der SZ erzählt Ahmad Sarmast, wie er versucht, Musikerinnen und Musiker vor den Taliban in Sicherheit zu bringen. In NMZ und VAN spricht Barbara Beuys über die wagemutige Komponistin Emily Mayer. Hyperallergic bewundert im MoMA den Modernismus brasilianischer Fotografie der Vierziger bis Sechziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.09.2021 finden Sie hier

Kunst

Roberto Yoshida. Skyscrapers (Arranha-céus).. 1959. Collection Fernanda Feitosa and Heitor Martins. © 2020 Estate of Roberto Yoshida

Eine kleine feine Ausstellung zur Fotografie Brasiliens der Vierziger bis Sechziger entdeckt Julia Curl (Hyperallergic) im New Yorker Museum of Modern Art mit der Schau "Fotocubismo: Brazilian Modernist Photography", die ihr zeigt, dass die Moderne nicht nur ein europäisches Phänomen war: "Fotoclubismo präsentiert monografische Ausstellungen von drei Künstlern - Geraldo de Barros, German Lorca und Gertrudes Altschul - sowie thematische Abschnitte, die sich an den Vorgaben der internen Fotowettbewerbe des FCCB orientieren. Eines dieser Themen, 'Einsamkeit', untersucht den Menschen im Verhältnis zu Brasiliens sich rasch urbanisierenden Landschaften. In Eduardo Salvatores Bild des neu errichteten Wohnkomplexes Várzea do Carmo wird die triumphierende Silhouette eines einsamen Mannes von Reihen identischer, minimalistischer Wohnblöcke in den Schatten gestellt. Die Kurven aus der Vogelperspektive von André Carneiros 'Rails (Trilhos)', einem Highlight der Ausstellung, erinnern an André Kertész' Aufnahmen des Washington Square Park oder Alexander Rodtschenkos Ansichten sowjetischer Straßen."

Die Künstlerin Hito Steyerl lehnt das Bundesverdienstkreuz ab, da sie den Umgang der Politik mit Kultur und Bildung während der Pandemie kritisiert. Die Zeit veröffentlicht Steyerls Brief an den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: "Die regierenden Parteien haben es (...) vorgezogen, einen disproportionalen Anteil der sozialen Konsequenzen der Pandemie auf den nichtkommerziellen Kultur- und den Bildungsbereich abzuwälzen, auf Freischaffende, Schüler, Schülerinnen und Studierende - auf Menschen also, die ohnehin eher weniger Ressourcen haben und vom Digitalisierungsrückstand doppelt hart getroffen werden. Online-Schulunterricht? Weitgehend Fehlanzeige. Der Markt - der digitale Kartellkapitalismus also - sollte mit unsichtbarer Hand die Digitalisierung besorgen." Außerdem möchte sie nicht zum "Diversity-Washing" in einem Land mit einem "Fake-Schloss voll kolonialer Raubkunst" dienen.

"Wer hier von Bildersturm, also der bewussten Zerstörung, spricht, ist schlicht geschichtsvergessen", meint Hannes Soltau im Tagesspiegel zu der Aufregung, die die Umbenennung einiger Werktitel durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ausgelöst hat (Unser Resümee). In der FAZ wendet Stefan Locke allerdings ein, es sei zwar weltweit üblich, "Werksnamen zu überarbeiten ... Gerade bei Titeln wie 'Frau im Pelz mit Neger', 'Figur des Hottentottenpaares' oder 'Tanzende Negersklaven' leuchten sprachliche Überarbeitungen durchaus ein. Die Frage ist freilich, ob mit der öffentlichen Tilgung oder Überarbeitung der Fall erledigt sein und damit quasi ungeschehen gemacht werden kann oder ob Museen nicht in der Tat auch die Aufgabe haben, die Dinge öffentlich in den historischen Kontext zu stellen."

Weitere Artikel: Philipp Demandt hat seine Verträge verlängert, bis 2026 bleibt er Direktor des Städel Museums und der Liebighaus Skulpturensammlung, für die Schirn Kunsthalle wird allerdings ab Juni 2022 eine neue Leitung gesucht, meldet Sandra Danicke in der FR, die das begrüßt, da man "den Eindruck eines monopolistischen Patriarchats nie vollständig loswurde." Im Standard fragt Stefan Brändle nach dem künstlerischen Mehrwert der Verhüllung des Pariser Arc de Triomphes, in der FAZ freut sich Bettina Wohlfahrt auf die Verhüllung. In der Zeit erzählt Thomas E. Schmidt einen Kunstkrimi um ein angeblich gefälschtes Werk von Lucio Fontana. Einem Drittel aller Museen in den USA droht durch die Pandemie die Schließung, meldet Claudia Steinberg ebenfalls in der Zeit, die Abhängigkeit von Stiftungen wächst.

Besprochen werden die Ausstellung "Ersatzkunst. Die Wüsten-Jahre 1975-1985" in der Frankfurter Ausstellungshalle 1a (taz) und die Tony-Cragg-Ausstellung "Drawing as Continuum" im Haus am Waldsee (Tagesspiegel).
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Film

Kostbare Vertrautheit: "Herr Bachmann und seine Klasse"

Schon bei der Berlinale waren die Kritiker völlig hingerissen von Maria Speths Überlängen-Doku "Herr Bachmann und seine Klasse" über einen idealistischen Lehrer und wie er das Herz der ihm anvertrauten Kinder gewinnt. Hin und weg ist FR-Kritiker Daniel Kothenschulte vom Protagonisten: Dieser "alternde Rockfan mit Wollmütze und AC/DC-Pullover hat eine Leinwandpräsenz, wie sie auch im Spielfilm nur schwer zu erreichen ist. In Hollywood würde ihn vielleicht Tom Hanks verkörpern." In diesem Film "entsteht das Gefühl einer kostbaren Vertrautheit, als hätten uns diese Kinder persönlich eingeladen, an ihrem Leben zu partizipieren. Auch das berührt möglicherweise Fragen der dokumentarischen Ethik. Ist es überhaupt legitim, so viel Intimität von Kindern abzuschöpfen? "

FAZ-Kritikerin Andrea Diener erliegt Bachmanns Charme nur zu gern: "Dreieinhalb Stunden lang schaut man ihm dabei zu, wie er mit seinen Schülern diskutiert, Dinge umformuliert, bis es jeder verstanden hat, wie er ihnen Fragen stellt, sie fordert, enttäuscht ist. Oft singen die Schüler oder machen Musik. In der Klasse gibt es Schlagzeuge und Gitarren und das eine oder andere versteckte Talent. Manchmal ist es gerade wichtiger, Regina zu trösten, deren Großvater in Russland gestorben ist, als Akkusativobjekte zu üben." Weitere Kritiken in Tagesspiegel, auf Artechock und in der taz. Außerdem haben Filmdienst und Freitag mit Speth über ihren Film gesprochen.

Weitere Artikel: Martin Schwickert spricht für ZeitOnline mit Christian Schwochow über dessen neuen, rassismuskritischen Film "Je Suis Karl" (mehr dazu auf Artechock und im Tagesspiegel), In der Zeit resümiert Katja Nicodemus das Filmfestival Venedig. Dort gab es auch interessante Kurzfilme von Tsai Ming-liang und Radu Jude zu sehen, informiert uns Janick Nolting auf Artechock.

Besprochen werden Denis Villeneuves "Dune" (Perlentaucher, Artechock, FR, NZZ, weitere Kritiken hier). Robert Connollys auf DVD erschienener Film "The Dry" mit Eric Bana (taz), Natalija Yefimkinas Dokumentarfilm "Garagenvolk" (Perlentaucher), Daniel Sagers Dokumentarfilm "Hinter den Schlagzeilen" (Filmdienst), Kim Strobls "Madison - ungebremste Girlpower" (Artechock) und Jonathan Butterells auf Amazon gezeigtes Musical "Everybody's Talking About Jamie" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Die Zeit erscheint heute mit einem "Spielzeit"-Spezial zur Eröffnung der Bühnensaison, in dem unter anderem Susanne Kaiser fragt, ob es sinnvoll sei, dass nur noch Homosexuelle Homosexuelle spielen sollen: "Es ist ein Rückschritt hin zu essenzialistischen Identitäten und bringt uns biologistischen Erklärungsmodellen wieder sehr nah: Ein Merkmal wie Schwulsein wird für wesenhaft, für 'echt' gehalten. So wie man früher dachte, es sei angeboren, als biologische Eigenschaft unabänderlich. So wird Identität zementiert. Dabei richtete sich das Konzept von LGBTQ+ doch genau gegen biologistische Erklärungsmodelle. Es feierte im Gegenteil die Uneindeutigkeit, die Durchlässigkeit und Prozesshaftigkeit von Identitäten. Welcher Bereich, wenn nicht die Schauspielkunst, schafft denn Raum für genau das: für Experimente, performative Prozesse und Empathie?"

Außerdem: Im nachtkritik-Interview mit Elena Philipp und Christian Rakow sprechen die ehemalige Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler und der Soziologe Manuel Riviera über den von ihnen mitinitiierten "Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit" (FÄN), der sich zum Ziel setzt, interdisziplinäre Arbeitsbeziehungen in Nachhaltigkeitsfragen zwischen Kunst, Wissenschaft und weiteren Arbeitsfeldern zu fördern.

Besprochen werden Milena Michaleks "Koralli Korallo" am Wiener Kosmotheater (nachtkritik), Leonie Böhms Ibsen-Inszenierung "Noorrrraaaaaaaa" am Berliner Gorki Theater (Tagesspiegel), Calixto Bieitos Inszenierung von Tolstois "Krieg und Frieden" in Genf (SZ) und Tina Engels Monolog zu Yasushi Inoues "Das Jagdgewehr" am Berliner Renaissance Theater (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Besprochen werden unter anderem Garry Dishers Krimi "Moder" (Tages-Anzeiger), Dorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik" (Jungle World), Hervé Le Telliers "Die Anomalie" (Intellectures), Douglas Stuarts "Shuggie Bain" (Standard), Tomas Espedals "Lieben" (FR), Walter Boehlichs "Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen" mit Briefen von 1944 bis 2000 (FR), Jan Eike Dunkhases "Provinz der Moderne" über die Geschichte des Deutschen Literaturarchivs in Marbach (SZ) und Felicitas Hoppes "Die Nibelungen" (FAZ).
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Design

Richard Avedon: Nadja Auermann, Christy Turlington, Claudia Schiffer, Cindy Crawford, Stephanie Seymour, 1994, for Versace Fall/Winter 1994/1995 © The Richard Avedon Foundation


Mit der von Claudia Schiffer kuratierten Schau "Capivate! - Modefotografie der 90er" im Düsseldorfer Kunstpalast unternimmt SZ-Kritiker Alexander Menden eine nostalgische Zeitreise in das "in der Rückschau vielleicht unbeschwerteste Nachkriegsjahrzehnt" (wer damals im Osten lebte und von Arbeitslosigkeit oder rechstextremen Übergriffen betroffen war, sieht das vielleicht anders). In der Modefotografie war es die Zeit eines neuen, selbstbewussten Glamours, wie die Supermodel-Fotostrecken von Herb Ritts belegen: "Auf solchen Gruppenbildern fanden Frauen zusammen, die jede für sich seit den ausgehenden 80ern allmählich Star-Status erlangt hatten - gleichsam eine Super-Group der Modewelt. Sie hatten die Kategorien 'Laufsteg', 'kommerziell' und 'Editorial', in die Modemagazine weitgehend namenlose Models bis dahin einteilten, aufgebrochen und durch ihre eigene Persönlichkeit ersetzt. .... Das, was Glamour ist, jene 'scharfe Mischung aus Projektion, Verlangen, Bewunderung und Ambition', erlebte in den Neunzigern eine Blüte, denen die Düsseldorfer Schau mehr als angemessen Rechnung trägt."

In der FR präsentiert Judith Kohl ihre schönsten Fundstücke bei der Berlin Fashion Week.
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Musik

Helena Zacher porträtiert in der SZ Ahmad Sarmast, den Leiter des Afghanistan National Institute of Music, der sich vom Ausland aus gerade händeringend darum bemüht, Musikerinnen und Musiker vor den Taliban in Sicherheit zu bringen. Ihren Angriffen - wie etwa einem Selbstmordattentat, das er verletzt überlebte - ist Sarmast seit Jahren ausgesetzt. Auch weil sich an seinem Institut "unter dem Namen Zohra ein reines Frauenorchester formierte, das Tragen von Kopftüchern auf dem Schulcampus ist freiwillig, Mädchen machen ein Drittel der Schülerschaft aus - schon deshalb weil Sarmast und seine Kollegen bislang benachteiligte Kinder fördern wollten. ... Viele der im Heimatland verbliebenen Mitarbeiter und Schüler befinden sich aktuell in Verstecken , sagt Sarmast, er sei in ständigem Kontakt mit ihnen."

NMZ und VAN sprechen beide sehr ausführlich mit Barbara Beuys über die weitgehend in Vergessenheit geratene Komponistin Emilie Mayer (1812-1883), über die die auf Künstlerbiografien spezialisierte Autorin gerade ein Buch geschrieben hat. Die Komponistin hatte sich damals bei aller Bescheidenheit, die ihr nachgesagt wurde, gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt, erklärt Beuys in VAN:  Denn mit der Aufklärung habe sich "der Gedanke durchgesetzt, dass Frauen und Männer von Natur aus polarisiert sind. Das heißt: Die Frau ist für ihren Beruf als Frau und Mutter bestimmt - auch von Gott, aber neu ist damals, dass sie es von Natur aus ist. Ihr Raum ist das Wohnzimmer, die Privatsphäre. Der Mann dagegen ist von Natur aus für die Öffentlichkeit geschaffen, die Welt. ... So widerspricht das, was Emilie Mayer gewagt hat - und später auch andere Künstlerinnen in anderen Sparten, ob Malerei oder Literatur - völlig dem herrschenden Frauenbild, denn eine Frau kann nicht kreativ sein, sie kann nicht Musik schreiben, schon gar nicht bestimmte männliche Arten von Musik wie Sinfonien. " Hier ihre Faust-Ouvertüre:



Außerdem: Zwei Milliarden Sonder-Fördermittel wurden für die Musik bereit gestellt, um die schlimmsten Corona-Verheerungen abzuwenden - dennoch gibt es gerade in der freien Szene erhebliche Probleme, an die Mittel auch ranzukommen, berichtet Ludwig Greven in einer großen Reportage für die NMZ. Dominika Hirschler spricht für VAN mit dem Schriftsteller, Historiker und Geiger Philipp Blom unter anderem über die Aufmerksamkeitsökonomie, die auch im Klassikbetrieb zusehends marktförmige Strukturen schafft: "Das drängt viele Musiker in eine Richtung, Musik auf technisch höchstem Niveau wie ein Rennfahrer zu performen, anstatt sie zu erleben und erlebbar zu machen, was viel schwieriger ist." Arno Lücker spricht in VAN mit Stefan König über den Stand der Dinge in der Max-Reger-Forschung. Außerdem widmet sich Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen diesmal Anne Boyd. In ihrer Standard-Kolumne schreibt Amira Ben Saoud über den Vorwurf des Queerbaitings im Pop, also wenn heterosexuelle Musiker aus Marktkalkül Homosexualität performen - eine Kritik, die sie in ihrer Pauschalität ablehnt.

Besprochen werden ein Frankfurter Liederabend mit Martin Mitterrutzner und Gerold Huber (FR), sowie neue Alben von Nala Sinephro (Pitchfork), Sleater-Kinney (FR) und Leon Bridges ("ein Vintage-Schleicher in der Tradition eines Otis Redding", schreibt Karl Fluch im Standard). Wir hören rein:

Archiv: Musik

Architektur

Im Guardian kann sich Oliver Wainwright nicht entscheiden, welches Projekt den diesjährigen Stirling-Preis am meisten verdient hätte. Die hauchzarte Fußgängerbrücke von Tintagel Castle? Oder doch die Moschee, die Marks Barfield, der Architekt des Riesenrads London Eye, entworfen hat: Hier wird "eine betörende Lichtung der Anbetung mit modernster Technik geschaffen. Ein Gitter aus hohen, baumartigen Säulen verzweigt sich nach außen und verwebt sich zu einem filigranen strukturellen Baldachin, der sich über der Gebetshalle wölbt, die Form gotischer Steingewölbe aufgreift und das Tageslicht durch die runden Öffnungen darüber filtert. Das 23 Millionen Pfund teure Gebäude mit seinem Ziegelmauerwerk aus Cambridge Gault, das mit dekorativen arabischen Kufi-Inschriften verziert ist, und den Waschräumen, die einem Luxus-Spa würdig sind, ist eine überzeugende Verschmelzung lokaler und islamischer Traditionen und stellt einen überzeugenden Prototyp für eine moderne britische Moschee dar."

In der FAZ berichtet Matthias Rüb von dem Streit um das in Bozen geplante neue und erweiterte Archäologische Museum, das Ötzi beherbergen soll: Bozens Geschäftsleute und Gastronomen protestieren dagegen, dass mit dem von dem Innsbrucker Investor Rene Benko geplanten Kultur- und Veranstaltungszentrum auch das Archäologische Museum auf den Bozener Hausberg Virgl ziehen soll.

Besprochen wird die Installation "neues bauen 13629" der Künstlerin Ahu Dural in der Berliner Siemensstadt (taz).
Archiv: Architektur