Efeu - Die Kulturrundschau

Versiegelt unter einer Glanzschicht

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19.04.2022. Die SZ geht in die Knie vor der Unerschrockenheit und Vitalität des Wundertenors Andreas Schager. Der Standard recherchiert weiter zu Putins Netzwerk in Salzburg. Der Guardian huldigt mit Dominique Gonzalez-Foerster Genies, Visionären und anderen Fremdlingen. ZeitOnline hat kein Interesse mehr an Literatur von Männern über Männer. Die Filmkritiker bewundern mit Philipp Fussenegger die tanzenden Muskelmassen der Bodybuilderin Tischa Thomas. Und der Guardian trauert um den radikalen Neutöner Harrison Birtwistle.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2022 finden Sie hier

Musik

Harrison Birtwistle ist im Alter von 87 Jahren gestorben, der schärfste Neutöner, den die britische E-Musik-Szene je hervorbrachte. Imogen Tilden erinnert im Guardian an den Effekt, den sein Saxofonkonzert "Panic" 1995 bei den Proms auslöste:  "Einige Kritiker bezeichneten die rasante Energie und die raue und gewalttätige Klangwelt des Werks als 'schreckliche Kakofonie', und die Telefonzentrale der BBC wurde mit Beschwerden von Zuschauern überschwemmt, die sich über den Anschlag auf ihre Ohren ärgerten."



Im Standard legt Axel Brüggemann nochmals seine Recherchen zum insbesondere österreichisch-russischen Filz in der Klassikszene dar (mehr dazu bereits hier): Die Hotspots sind Linz und Salzburg. "Am Brucknerhaus ist modellhaft zu beobachten, wie Putins Netzwerk sich durch die Kultur in eine Bürgergesellschaft einschleicht. Salzburg könnte von Linz lernen, dass russisches Geld in der österreichischen Kultur in erster Linie eine Strategie des Kreml ist. Gerade Mozarts Geburtsstadt und ihr Sommerpublikum sind ein Paradies für Putins Netzwerker. Doch Österreich tut sich schwer, so klar zu handeln wie die USA. ... Es erstaunt, mit wie viel Leidenschaft Salzburg-Intendant Markus Hinterhäuser weiter an den Auftritten von Currentzis festhält. Diese Woche scheiterte die Schützenhilfe, die er dafür aus dem Wiener Konzerthaus bekommen sollte." Als reine Heuchelei tut Jan Brachmann im Leitartikel der FAZ dagegen ab, dass sich alle Welt jetzt auf russische KünstlerInnen einschießt: "Wie aber hätten Orchester, Chöre und Theater in Russland anders finanziert werden sollen als durch den Staat oder Oligarchen? Sie hatten nicht die Freiheit der Wahl."

Christian Schachinger vom Standard vertreibt sich die Ostertage mit dem Hören deutscher Schlager, denn auch wenn man die Schlagermusik "in ihrer scheinbaren Naivität belächeln mag, sie ist wahrhaftig". In den letzten drei Jahrzehnten ist sie allerdings spürbar auf den Hund gekommen. "Die großen Themen abseits des Ballermanns auf Mallorca und der Schneebar in Obertauern müssen wieder her. Es dürfen dann auch einmal Der letzte Sirtaki von Rex Gildo oder Howard Carpendale sein: 'Deine Spuren im Sand, die isch gestern nock fand...' Schlager beruht auf Tragödie. Das Leben ist voll davon. Ab und zu ist Erlösung in Sicht."

Weitere Artikel: Valentin Goldbach und Ralf Fischer schreiben in der Jungle World über Querdenkertum in der Deutschrap-Szene, wo von Kollegah bis Staiger gegen die Impfung gewettert wird. Matthias Benz wirft für die NZZ einen Blick auf den erneuten Börsengang von Steinway.  Und noch ein Todesfall: Alex Ross schreibt in seinem Blog einen Nachruf auf den Pianisten Radu Lupu: "Für mich war Lupu der sublimste lebende Praktiker seines Instruments, ein Musiker und Künstler von höchstem Rang." Mehr Nachrufe hier.

Besprochen werden ein Konzert der ukrainischen Band Dakh Daughters in Hamburg (taz), das Comeback-Album von Placebo (Jungle World), Axel Bomans Album "Luz" (Pitchfork) und neue Jazzsingles, darunter ein neues Stück von Kamasi Washington, dem große Epiker des Jazz, der auch in der knappen Form besticht, schreibt Jazzkolumnist Andrian Kreye, der seine aktuellen Entdeckungen auch in dieser Spotify-Playlist präsentiert.

Archiv: Musik

Film

Masse ist Klasse: Tischa Thomas in "I Am Tigress"

Ziemlich beeindruckend findet SZ-Kritiker Philipp Bovermann nicht nur Philipp Fusseneggers Dokumentarfilm "I Am Tigress", sondern auch dessen Sujet, die Bodybuilderin Tischa Thomas: Deren Körper "scheint aus allen Nähten zu platzen. Osmanoviçs Kamera folgt ihm wie einem außerirdischen Objekt, das sich nicht richtig scharfstellen lässt - beim Training, beim Posen, beim Ausgehen mit ihrem treuen Kumpel, einem nuschelnden, alten Ex-Bodybuilder, verliert sich gelegentlich in den tanzenden Fleischmassiven ihres Rückens. Etwas Urzeitliches, Unmenschliches scheint daraus hervorzutreten - je länger man hinschaut, desto weniger sieht man Tischa. ... Die Geschichte, aus der ihr Körper hervorgegangen ist, die soziale Ordnung, die sich darin spiegelt, ist versiegelt unter einer Glanzschicht, scheint unter der Haut zu pulsieren und aus ihr hervorbrechen zu wollen." Auch Andreas Platthaus staunt: "Kann das wirklich echt sein: dieses Kreuz, das Arnold Schwarzenegger erblassen ließe?" Für den FAZ-Kritiker ist der Film ein Plädoyer für mehr Liberalität: Sie "widerspricht den allgemeinen Vorstellungen von einer Frau", "doch Thomas ist bereits mehrfache Großmutter und will nur eines: als die Frau auftreten dürfen, die sie ist, eine Bodybuilderin, die ihren Körper schön findet." Der Film "den Alltag einer Frau, die ihre ganze Kraft darauf verwenden muss, das Leben zu führen, das sie führen will", schreibt Arabella Wintermayr auf queer.de.

Weitere Artikel: In der FR plaudert die Schauspielerin Meltem Kaptan über ihre Rolle in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush". In der taz erklärt Emeli Glaser, was es mit dem Motiv der toten Frau mit langen schwarzen Haaren auf sich hat, das durch zahlreiche japanische Horrorfilme buchstäblich geistert.

Besprochen werden die Tagebücher des Experimentalfilmers Jonas Mekas (Jungle World), Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (Jungle World), François Ozons Sterbehilfedrama "Alles ist gutgegangen" (SZ), der Kinderfilm "Geschichten vom Franz" nach Geschichten von Christine Nöstlinger (Standard), Lawrence Richards' Dokumentarfilm "Son of Cornwall" über seinen Vater, den Operntenor John Treleaven (FAZ), Antje Schneiders Dokumentarfilm "Vier Sterne plus" über einen Bau des Architekten Matteo Thun (SZ) und Tarik Salehs Actionfilm "The Contractor" (SZ, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Bühne

In den Tod verliebt: Andreas Schager als Tristan. Foto: Michael Pöhn / Staatsoper Wien

Reinstes Liebesunglück schlägt SZ-Kritiker Reinhard Brembeck aus Calixto Bieitos Inzenierung von Wagners "Tristan und Isolde" an der Wiener Staatsoper, mit dem "Wundertenor" Andreas Schager als Tristan und Philippe Jordan am Dirigentenpult: "Schagers Tristan ist ein in den Tod verliebter Selbstmörder. Der in Blutgemetzeln erfahrene Regisseur Calixto Bieito lässt ihn schon früh mit einem Messer auf sich selbst losgehen, sodass Schager einen großen Teil des Abends blutverschmiert und taumelnd zubringt. Aber seiner Sängervitalität tut das keinen Abbruch. Dieser Mann schont sich nie, nimmt jede Herausforderung an und hat dann unglaublicherweise auch noch Riesenkräfte, um seine endlosen Todesmonologe im Schlussakt nicht nur durchzuhalten, sondern sie souverän zu gestalten. Gibt es derzeit einen Sänger, der auch nur ansatzweise über eine solche Kraft und Unerschrockenheit verfügt? Nicht auf dieser Welt." In der FAZ ist Reinhard Kager überhaupt nicht überzeugt von dieser Aufführung: "Alles wirkt tadellos und tönt dennoch falsch: Denn Jordan entwickelt weder ein Sensorium für die Ekstasen noch für die Abgründe dieser Musik." Der anschließende "Buh-Orkan" wirkte auf Kager allerdings "organisiert".

Weiteres: In der taz annonciert Tom Mustroph die heute beginnende Veranstaltungsreihe mit belarussischen KünstlerInnen im Berliner HAU und das Hellerau in Dresden. Im Tagesspiegel porträtiert Sandra Luzina die aus Kiew stammende Primaballerina Iana Salenko des Staatsballetts Berlin.

Besprochen werden Tschaikowskys Oper "Pique Dame" mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern bei den Osterfestspielen in Baden-Baden (NZZ), Krzysztof Garbaczewskis Inszenierung des "Faust I" am Theater Freiburg (Nachtkritik), Wagners "Parsifal" am Theater Koblenz (FR), Choreografien von Xie Xin und Sharon Eyal am Hesischen Staatsballett in Darmstadt (FR) sowie das Stück "Semiotiken der Drecksarbeit" im HAU 3 in Berlin (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Dominique Gonzalez-Foerster: Metapanorama, 2022. Foto: Hugo Glendinning / Serpentine


Im Observer erliegt Laura Cumming dem Zauber der französischen Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster, die in der Londoner Serpentine Gallery ein riesiges Metapanorama als gemeinsame Erlebniswelt entfaltet: "Es handelt sich um ein 360-Grad-Bildpanorama von - sozusagen - Aliens, die man auch einfach einsame Genies nennen könnte. Vor einem dunklen, intergalaktischen Himmel sind Bilder von William Blake und Ada Lovelace, Joseph Cornell und Andrei Tarkowski, Alan Turing und Gustav Metzger zu sehen. Es sind Visionäre aller Art, von Emily Dickinson bis Odilon Redon, von Rudolf Steiner bis David Bowie. Loie Fuller, Tänzerin und Pionierin der Theaterbeleuchtung (deren Tanz nicht zufällig als 'Serpentine' bekannt war), tritt neben Hannah Höch auf, der deutschen Dadaistin und Pionierin der Collage. Es ist ein 'all-together-now' der schönen Geister. Und die Anspielung auf Höch ist voller Anmut, denn diese Installation ist nicht weniger als eine kolossale Collage, bezaubernd konzipiert und digital umgesetzt. Aus dem voluminösen Dunkel des Weltalls materialisieren sich seltsame Planeten: nur dass sie sich als Kunstwerke entpuppen, wie die leuchtenden, gestreiften Scheiben der visionären Malerin Hilma af Klint und die Wolkenlandschaften von Georgia O'Keeffe, die in ihrer abstrakten Anordnung von weißen Rauten auf Kobalt fast außerirdisch wirken."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay dem kolumbianischen Künstler Fernando Botero zum Neunzigsten, dessen Liebe nach wie vor der runden Form gilt.

Besprochen werden die Renoir-Ausstellung im Badener Museum Langmatt (NZZ), die Schau "American People" der Künstlerin Faith Ringgold im New Museum in New York (FAZ) und David Hockneys Landschaften in der Berliner Gemäldegalerie (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Ein neuer Knausgård (mehr dazu hier) erscheint und Doris Knechts Interesse am nächsten Werk des großen Selbstprotokollanten reicht gerade so weit, um festzustellen, dass sie sich dafür nicht interessiert, schreibt sie in der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline. Sie und viele weitere Frauen "haben uns satt gelesen, überlesen an Geschichten von Männern über Männer, am männlichen Blick auf Frauen. Wir wurden seit unserer Kindheit und Schulzeit derart aufgetankt mit männlichen Befindlichkeiten, dass wir sie verinnerlicht haben: Sie sind uns Frauen mitunter vertrauter als unsere eigenen. ...  Wenn derlei doch unbedingt zwischen zwei Buchdeckeln stattfinden musste, dann bitte mit dem 'Frauenliteratur'-Sticker darauf, der das Schreiben und das Werk von Frauen marginalisiert und entwertet."

In einem Dlf-Essay meditiert der Schriftsteller Thomas Glavinic über Schach, das ihn zu geradezu psychedelischen Gedankengängen antreibt: "Es ist ein Organismus. Es ist das Einzige seiner Art. Und wie die Kunst oder das einzelne Kunstwerk stammt Schach aus einer anderen Welt - die Menschen, die es entworfen und langsam weiterentwickelt haben, wussten nicht einmal ansatzweise, was ihnen da eingefallen oder in die Hände gefallen war. So betrachtet, könnte Schach von Außerirdischen bei einem Picknick am interstellaren Wegesrand vergessen worden sein. ... Genau das glaube ich: Schach lebt. Es ist eine Lebensform, die wir nicht einmal im Ansatz verstehen."

Langsam wird das Wetter wieder schöner, da erinnert Wieland Freund in der Welt an T.S. Eliots vor 100 Jahren erschienenes "Wasteland" und damit "an ein sagenhaft schlecht gelauntes Gedicht, das schon in der ersten Zeile den knospenden Frühling beschimpft."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw, hier die 40., 41. und 42. Folge. Magnus Klaue erinnert im Tagesspiegel an die Schriftstellerin Alice Salomon., die vor 150 Jahren geboren wurde und deren Namen zwar Straßen und Schulen tragen, während ihr Werk kaum noch jemand kennt.

Besprochen werden unter anderem Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern" (Freitag), Lucy Frickes "Die Diplomatin" (online nachgereicht von der FAZ), Martin Mittelmeiers "Freiheit und Finsternis. Wie die "Dialektik der Aufklärung" zum Jahrhundertbuch wurde" (Jungle World), Yade Yasemin Önders "Wir wissen, wir könnten und fallen synchron" (ZeitOnline), Christiane Hoffmanns "Alles, was wir nicht erinnern" (online nachgereicht von der FAZ), Andrea Scrimas "Kreisläufe" (taz), Tobias Boes' "Thomas Manns Krieg. Literatur und Politik im amerikanischen Exil" (Standard), Pieke Biermanns Neuübersetzung von Ann Petrys "The Narrows" (Tsp), Elizabeth Georges "Was im Verborgenen ruht" (Freitag), Vitali Konstantinovs Sachcomic "Alles Geld der Welt" (Tsp), Patrick McGuinness' "Den Wölfen zum Fraß" (Freitag), Miljenko Jergovićs "Der rote Jaguar" (NZZ) und neue Hörbücher, darunter eine Hörspielbearbeitung der Orestie durch Raoul Schrott (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Kolbe über Klaus Merz' "Buchzeichen":

"Kürzlich beim Rasieren
fielen mir die kleinen Narben von
1945 wieder auf..."
Archiv: Literatur