Efeu - Die Kulturrundschau

Das ganze peinliche Nazi-Kapitel

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2022. Die Welt lernt in einer Lese-Ausstellung in Wuppertal-Vohwinkel, wie der Kanon der deutschen Nachkriegskunst zustande kam. In der FAZ gibt Judith Hermann Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Der ukrainische Staatspräsident Selenski wünschte sich in seiner Eröffnungsrede für das Filmfestival von Cannes einen neuen Charlie Chaplin: Tagesspiegel und FR nicken zustimmend. Die SZ bewundert den Mut Marija Aljochinas. In der nachtkritik empfiehlt der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz ein Stück über Verlust von Rimini Protokoll. Und im Van Magazin denkt Thomas von Steinaecker darüber nach, wie Werner Herzog Musik in seinen Film einsetzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.05.2022 finden Sie hier

Film

"Wir brauchen einen neuen Chaplin um zu beweisen, dass das Kino nicht schweigt", forderte der ukrainische Staatspräsident Selenski in einer Ansprache zur Eröffnung der Filmfestspiele von Cannes und spielte damit auf "Der große Diktator" an, Chaplins unsterbliche Hitler-Satire. Diese Ansprache war eine gute Entscheidung des Festivals, findet Andreas Busche im Tagesspiegel, dem es nach diesen zehn Minuten allerdings auch schwerfällt, in den Glitz-und-Glam-Modus der Gala zurückzufallen. Es ist ganz und gar nicht "banal angesichts Putins mörderischen Angriffskriegs in diesem Augenblick an die Unsterblichkeit eines Films zu denken", mahnt FR-Kritiker Daniel Kothenschulte. "Wie viel Kraft muss Selenski gerade aus diesem Film seines Idols gezogen haben und aus dessen Kampf gegen Goliath; schon als er noch selbst als Komiker die Missstände seines Landes ansprach, bevor man ihn zum Präsidenten wählte, um etwas dagegen zu tun. Und was hätte diese Nachwirkung seines Films Chaplin selbst bedeutet, der bis zu seinem Lebensende Zweifel hegte, ob das Lachen über Hitler moralisch richtig war." Selenskis Ansprache wirkte dringlich, aber auch etwas zwiespältig, findet Tim Caspar Boehme in der taz: "Die Grenze zwischen Ernst und Show verschwamm."

Lässt Tschaikowsky schlecht aussehen: Aljona Michailowa

Selenski gab sich mit seiner anspielungsreichen Ansprache als Cinephiler von "rhetorischer Cleverness" zu erkennen, der jeden Auftritt für sich gewinnt, meint Andreas Kilb in der FAZ und findet es spannend, dass Cannes als ersten Wettbewerbsbeitrag mit Kirill Serebrennikows "Tschaikowskys Frau" dann einen russischen Film gesetzt hat. Dass Serebrennikow Tschaikowskys Homosexualität in dem Drama nicht recht ins Bild gesetzt bekommt, "ist die eine große Schwäche des Films. Die andere hat mit der Hauptdarstellerin Aljona Michailowa zu tun. Serebrennikows Kamera liebt diese Frau, sie kann sich nicht sattsehen an ihr. Die Vorstellung, dass die schöne Antonina in ihren blauen, roten und gelben Ballkleidern Unrecht haben könnte, ist dem Film fremd. So lässt er Tschaikowsky schlechter aussehen, als der Erzählung guttut." Auf den Eröffnungsfilm, Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Coupéz!" (unser Resümee), blicken nochmal Dominik Kamalzadeh (Standard) und Anke Leweke (ZeitOnline).

Außerdem: Claudia Reinhard wirft für die Berliner Zeitung einen Blick auf die handfeste Krise, in der sich Netflix gerade befindet. Besprochen werden Leander Haußmanns "Stasikomödie", bei der sich die Filmkritik die Frage stellt, ob man über die Stasi lachen darf (SZ, Welt, Zeit, Tsp, Freitag), die "Top Gun"-Fortsetzung mit Tom Cruise (Presse, SZ), Ti Wests Horrorfilm "X" (SZ), Bastian Günthers "One of These Days" (taz, Tsp), eine DVD des Films "Beyond the Infinite Two Minutes" der Theatergruppe Europe Kikaku (taz), Neus Ballús' "Sechs Tage unter Strom" (SZ) und Jola Wieczoreks "Stories from the Sea" (Standard). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche im Kino lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst

Felix Nussbaum - Trostlose Straße, 1938/1939, © Zentrum für verfolgte Künste, Dauerleihgabe durch privaten Leihgeber


Wer wissen will, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland Kunstgeschichte geschrieben und ein neuer Kanon etabliert wurde, sollte nach Wuppertal-Vohwinkel reisen, ins Rathaus. Dort findet er das "Zentrum für verfolgte Künste", dass in einer Lese-Ausstellung die "Vierte Große Kunstausstellung Kassel" des Jahres 1929 mit der ersten Kasseler Documenta 1955 vergleicht, erzählt ein höchst interessierter Hans-Joachim Müller in der Welt. Das verbindende Element ist Documenta-Erfinder Arnold Bode, der an beiden Veranstaltungen beteiligt war. Doch 1955 interessierte er sich nicht mehr für die Künstler von 1929, stellt Müller fest. "Kaum zu erwarten, dass sich die welt- und zukunftsoffenen Documenta-Erfinder kritisch mit der Geschichtslast abmühen und vor europäischem Publikum die eigenen Verfehlungen korrigieren. Zumal im Team Überlebende aus den alten Nazi-Kadern wie Kurt Martin und Werner Haftmann das große Wort führen. Gerade die Entstehung der ersten Documenta zeigt, wie der 'Neubeginn' nicht anders als verbogen und verlogen ausfallen konnte. Das Team Bode wählt den sicheren Weg. Es schließt nicht an 1929 an, sondern geht zurück auf die Zehnerjahre, auf die frühe Moderne, die überall, nur eben nicht mehr in Deutschland, zu den gesicherten Museumsbeständen gehört hat. Und mit dem Rückgriff auf Traditionen vor dem Ersten Weltkrieg wird gleichsam das ganze peinliche Nazi-Kapitel mitsamt der politisch schwankenden und kulturell hochexplosiven Epoche der Weimarer Zeit überblendet."

In der taz berichtet Katrin Gänsler aus Cotonou in Benin, wo 26 Künstler*innen derzeit gemeinsam die 660 Meter lange Hafenmauer bemalen: "Zu den Zielen gehört, die Hafenmauer zum Freiluftmuseum zu verwandeln und Kunst allen zugänglich zu machen. Die Neugierde ist tatsächlich groß, und immer wieder bleiben Fußgänger*innen stehen. Wer im Hafen arbeitet, kann seit Wochen beobachten, wie sich die riesige weiße Mauer langsam verändert. ... 'Das Festival macht sichtbar, dass beninische Künstler Talent haben', sagt Drusille Fagnibo. Gespräche mit Passant*innen seien sehr motivierend. Daraus können spätere Kooperationen entstehen, etwa mit Unternehmen, die eine Wandmalerei oder ein Graffito für ihr Betriebsgelände möchten. Eltern würde das wiederum zeigen, dass sich Kunst zu einem Berufszweig entwickelt. Mittlerweile gibt es mehrere Schulen, die eine Ausbildung anbieten."

Malerei von Verena Loewensberg. Austellungsansicht. Foto: Annik Wetter


Verena Loewensberg gilt neben Max Bill, Richard Paul Lohse und Camille Graeser als Hauptvertreterin der Konkreten Kunst in der Schweiz. Aber zugleich unterscheidet sie sich deutlich von ihren Kollegen, meint in der NZZ Angelika Affentranger-Kirchrath, die im Genfer Museum für moderne und zeitgenössische Kunst vor allem das Rhythmische von Loewensbergs Kunst bewundert: "Die großzügigen Hallen des Museums erlauben es, ganze Serien aus dem Schaffen von Loewensberg panoramaartig zu präsentieren. So entfaltet sich ihr musikalisches Empfinden nochmals anders. Sie spielt ein motivisches Thema in Variationen durch, sie dekliniert, konjugiert und moduliert ihren Formenschatz in je anderen Farbkonstellationen. Jedes Bild ist eine Einheit für sich und leitet doch zum nächsten der Reihe über. Im Raum mit den lichten Streifenbildern aus den siebziger Jahren möchte man gerne lange verweilen, so wohltuend für Geist und Auge ist seine Ausstrahlung."

Weitere Artikel: Michael Bienert besucht für den Tagesspiegel das neue George-Grosz-Museum in Berlin. Susanna Petrin berichtet in der NZZ von ihrem Versuch mit NFT "endlich Millionärin" zu werden.

Besprochen werden eine Schau von Guðný Guðmundsdóttir im Pavillon der Lübecker Overbeck-Gesellschaft (taz), eine Ausstellung zum Werk des Performance-Künstlers Klaus Rinke in der Berliner Haubrok Foundation (taz), Installationen der afroamerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems im Württembergischen Kunstverein Stuttgart (die "seit Jahrzehnten ungelöste Fragen von Diskriminierung, Identität, Gender" verhandelt, so Georg Imdahl in der FAZ) und Grafiken von Edvard Munch im Kunstforum Ingelheim (FAZ)
Archiv: Kunst

Literatur

In Frankfurt hat Judith Hermann ihre Poetikvorlesung abgeschlossen - Judith von Sternburg (FR) und Andreas Platthaus (FAZ) berichten. Bereits gestern brachte die FAZ im Rhein-Main-Teil - und daher von uns leider übersehen - ein Gespräch mit der Schriftstellerin. Unter anderem geht es um das Verhältnis von Wirklichkeit und Vorstellung: "Während des Schreibens verschwimmen die Grenzen. Ich möchte zu Beginn so unbewusst wie möglich bleiben, ich habe keine Absence, aber ich versuche, meiner inneren Stimme zu folgen, meinem Gefühl. Dann geht die Vorstellung in die Wirklichkeit über. Oder die Wirklichkeit in die Vorstellung? Das ist der Anfang, dann gibt es eine zweite, eine dritte Fassung, für diese Fassungen brauche ich ein deutliches Korrektiv, muss ich wacher sein, brauche ich eine Disziplin, die die Dinge zurechtrückt."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Dave Eggers hat die Literaturzeitschrift The Believer , die er einst abgestoßen hatte, zurückgekauft, berichtet Miryam Schellbach in der SZ. Der Übersetzer Eike Schönfeld erzählt in der Welt, welche Bücher ihn geprägt haben. Ein Rechtsstreit hat die geplante Fortsetzung des franko-belgischen Comicklassikers "Gaston" verhindert, berichtet Gerhard Matzig in der SZ. In der SZ verrät Daniel Kehlmann, was er gerade liest. Marc Reichwein erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" daran, wie James Joyce' einmal ins Bordell ging.

Besprochen werden unter anderem ein 3sat-Porträt über Uwe Tellkamp (NZZ, FAZ, ZeitOnline) und dessen neuer Roman "Der Schlaf in den Uhren" (Standard), Peter Sloterdijks "Wer noch kein Grau gedacht hat" (NZZ) und Wei Zhangs "Satellit über Tiananmen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "All right, good night" von Rimini Protokoll. Foto © Merlin Nadj-Toma


Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz hat sich für die nachtkritik am Berliner Hau "All right, good night. Ein Stück über Verschwinden und Verlust" von Rimini Protokoll angesehen. Reckwitz, der selbst zu Verlusterfahrungen forscht, ist beeindruckt und bescheinigt dem Stück "seismografische Bedeutung. Denn die Erfahrung von Verlusten lässt sich gerade in der Spätmoderne kaum mehr unsichtbar machen: Der Klimawandel konfrontiert mit Verlusten, was die Bewohnbarkeit der Erde in der Zukunft angeht und mit Verlusten, was die generellen Fortschrittshoffnungen für die Zukunft angeht. Die 'Modernisierungsverlierer', also die Gruppe derjenigen, die vom sozialen Wandel nicht profitiert haben, sondern erreichte soziale Positionen räumen mussten, sind zu einer festen Größe im politischen Feld geworden. Schließlich werden kollektive und individuelle Traumata, werden 'historische Wunden' (Chakarabarty) in einer Intensität zum Thema, wie es die Moderne bisher nicht kannte. Alle drei Aspekte der spätmodernen Verlustsensibilisierung sind mittlerweile auch im zeitgenössischen Theater angekommen."

Im Interview mit dem Van-Magazin kritisieren die Filmemacherin Hai-Hsin Lu und die Komponistin Duoni Liu Asienklischees in Opern- und Ballettklassikern. Ihnen möchte man Satoko Ichiharas "Madame Butterfly" bei den Wiener Festwochen empfehlen: "Bei Ichihara wird die Butterfly nämlich zur 'Gaijin'-Jägerin", erzählt Lisa Kammann im Standard. "Als 'Gaijin' werden in Japan ausländische Männer bezeichnet, die bei Frauen begehrt sind. Die Protagonistin, gespielt von Kyoko Takenaka, möchte das Sperma eines weißen Mannes ergattern, um ein 'Hafu-Baby' zu bekommen. Denn große Augen und blonde Haare gelten in Japan als Schönheitsideal. Der fremde männliche Blick hingegen dürstet nach asiatischer Exotik. Aus dem importierten Schönheitsbild und der stereotypen Außenperspektive auf 'die Japanerin' entsteht diese Tragödie, die Ichihara mit einem hohen Maß an Witz und Selbstreflexion anreichert."

Besprochen werden die Uraufführung von Thorsten Schmid-Kapfenburgs Oper über den Bischof von Galen "Ein Rot, das bleibt" - "Galen" am Theater Münster (nmz), die Uraufführung von Ulrike Syhas Stück "Das Institut" am Theater Drachengasse in Wien (nachtkritik), Karol Szymanowskis Oper "Król Roger" in Cottbus (nmz), Pınar Karabuluts Inszenierung von Sivan Ben Yishais "Like Lovers Do" für die Münchner Kammerspiele beim Theatertreffen (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Michael Keegan-Dolans Tanzstück "MÁM" bei den Maifestspielen in Wiesbaden (FR), Dušan David Pařízeks Adaption von Viktor Martinowitsch Roman "Revolution" für das Hamburger Schauspielhaus (Zeit) und Ottmar Gersters Oper "Enoch Arden", mit deren Inszenierung Roland Geyer sich als Intendant des Theaters an der Wien verabschiedet (Reinhard Karger singt ihm in der FAZ ein dankbares Abschiedslied).
Archiv: Bühne

Musik

"Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich um sie kämpft", rief die gerade aus Russland geflohene Musikerin Marija Aljochina dem Münchner Publikum beim Konzert ihrer Band Pussy Riot zu, berichtet eine beeindruckte Mareen Linnartz in der SZ. "Bei dem Pussy-Riot-Auftritt in München flackert plötzlich eine Zahl auf der Leinwand: 442. So viele politische Gefangene gibt es nach Erkenntnissen der Band in Russland. Unbekannte Gesichter, unbekannte Namen tauchen auf. Menschen, verurteilt, weil sie auf überklebten Supermarktetiketten die Kriegsgräuel in der Ukraine anprangerten, ein Schild mit 'No to fascism' hochhielten oder posteten, was nun unter das verschärfte russische Mediengesetz fällt, nach dem der Krieg in der Ukraine nicht als solcher benannt werden darf. 'Diese Leute bekommen nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie ich', sagt Aljochina im Gespräch vor dem Auftritt, 'also nutze ich meine.'" Die russische Musikerin "sendet in einer Zeit, in der hierzulande das Canceln russischer Kultur manchmal als Ersatzhandlung herhalten muss, ein Signal der Selbstermächtigung aus, das beeindruckt, weil es von ihr teuer bezahlt wurde", berichtet Kerstin Holm in der FAZ von der Pressekonferenz der Band.

Für das VAN-Magazin denkt der Schriftsteller Thomas von Steinaecker darüber nach, wie Werner Herzog (über den er gerade einen Film gedreht hat) Musik in seinen Film einsetzt und stößt dabei auf einen "vielfältigen und oft bahnbrechenden Umgang. ... Tatsächlich ist Herzog in der Musikwahl von Anfang an wesentlich eklektischer und überraschender als die meisten seiner Kollegen und vielleicht am ehesten mit einem Innovator wie Stanley Kubrick verwandt, der Raumschiffe zu Walzerklängen durchs All schweben lässt. So legt Herzog über die Wüstenbilder seines frühen apokalyptischen Essayfilms 'Fata Morgana' (1971) das Kyrie aus Mozarts Krönungsmesse ebenso wie Songs von Leonard Cohen. In der USA-Ballade 'Stroszek' (1977) steht Beethoven neben Country-Musik. Seit Herzog 1995 nach Kalifornien ausgewandert ist, hat er vermehrt Dokumentarfilme gedreht. Und auch hier kann man ihn nicht auf einen einzigen Musikstil festlegen. Am häufigsten steuert nun der niederländische Jazz-Cellist Ernst Reijseger Soundtracks bei." Auf seinem Youtube-Kanal hat der Musiker ein Making-Of seines Soundtracks für Werner Herzogs Dokumentarfilm "Fireball" veröffentlicht:



Weitere Artikel: Im VAN-Magazin geht Felix Linsmeier den braunen Wurzeln der Musischen Gymnasien auf den Grund. Die Charts werden durchlässiger für die Nischen, fällt Amira Ben Saoud vom Standard auf. Christian Schmidt berichtet im Tagesspiegel von Veränderungen bei den Knabenchören. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diese Woche Fanny Hensel (hier) und Mary Wurm (dort).

Besprochen werden das neue Album von Kendrick Lamar (NZZ, mehr dazu hier), ein Auftritt von The Smile in Wien (Standard) und das neue Album der Black Keys ("Immer noch dreckig", freut sich Karl Fluch im Standard).

Archiv: Musik