Efeu - Die Kulturrundschau

Ein gebündelter Lichtstrahl

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06.09.2022. In der Berliner Zeitung gibt Ulrich Schreiber einen Ausblick auf das morgen startende Literaturfestival. Der Standard geht vor dem Tenor Timothy Fallon auf die Knie, der an der Wiener Volksoper brilliert. Die FAZ klopft sich  in der Düsseldorfer Retrospektive zu Reinhard Mucha den Aktenstaub der alten Bundesrepublik vom Ärmel. Der Tagesspiegel freut sich in Venedig, dass jetzt auch Regisseurinnen wie Olivia Wilde einen Hang zur Selbstüberschätzung pflegen. Und alle gratulieren Dominik Graf, dem aufregendsten Filmemacher am Rand des Mainstreams.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2022 finden Sie hier

Film

Nicht allzu originell, aber schwelgerisch: "Don't Worry Darling"

Als Popstar erobert Harry Styles ringsum Herzen, nun schickt er sich an, das auch als Filmstar zu tun (bei seiner Regisseurin Olivia Wilde war er jedenfalls schon erfolgreich, wie alle Kritiker hervorkehren): Das Filmfestival Venedig zeigt "Don't Worry Darling", eine Art 50er-Jahre-Dystopie mit adretten Vorstädten und folgsamen Ehefrauen mit einem Science-Fiction-Twist. "Die wie immer fabelhafte Florence Pugh spielt seine Ehefrau, die den Verdacht hat, dass hinter der pastellfarbenen 1950er-Fassade etwas nicht mit rechten Dingen zugeht - beziehungsweise hinter den Absperrungen, die die kleine Gemeinde von der Außenwelt abschirmen, vielleicht doch die Freiheit wartet", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Wildes Film wird sicher keine Originalitätspreise gewinnen, dafür ist das 'Stepford Wives'-Motiv feministisch und als Sozialsatire nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Wilde jetzt einen Film mit diesen Produktionswerten (in denen sie öfters auch zu ausgiebig schwelgt) inszeniert, verdient größten Respekt. Bisher ist in Venedig der Hang zur positiven Selbstüberschätzung ja eine rein männliche Tugend." Überzeugter ist Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek: Die Filmemacherin "hat etwas zu sagen, über die Gefahren eines 'America First'-Nationalismus und eines Emanzipations-Rollbacks und des Sich-Verlierens in einem Megaversum." Die Regisseurin "changiert mit einer visuell sicheren Inszenierung gelungen zwischen Paranoia-Thriller und Gender-Parabel", hält Dominik Kamalzadeh im Standard fest.

Mehr vom Lido: Anke Leweke berichtet auf ZeitOnline von ihrem Treffen in Venedig mit Nina Hoss, die an der Seite von Cate Blanchett im Wettbewerbsfilm "Tár" (unser Resümee) zu sehen ist. Aus dem Festivalprogramm besprochen werden außerdem Laura Poitras Dokumentarfilm "All the Beauty and the Bloodshed" über den Kampf der Künstlerin Nan Goldin gegen die Strippenzieher der Opioidkrise in den USA (NZZ) und Darren Aronofskys "The Whale" (taz). Außerdem sendet Rüdiger Suchsland auf Artechock zahlreiche Notizen vom Festival.

Zwar ist weiterhin unklar, ob Ulrich Seidl sich beim Dreh des Pädophilendramas "Sparta" tatsächlich strafrechtlich verhalten hat, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. Der Spiegel-Recherche, die dem Regisseur erhebliche Vorwürfe macht (die englische Variante des Artikels ist frei zugänglich), lasse diesbezüglich jedenfalls keine eindeutigen Schlüsse zu. Auch mutmaßt Rebhandl, da der Regisseur in seiner Stellungnahme das Wort "Kontext" betont, dass der Film seinen wahren Gehalt wohl nicht so sehr vor Ort beim Dreh, sondern erst im Schnitt herstellt. "Ambivalenz ist sein künstlerisches Markenzeichen", seine "Filme funktionieren wie Kippbilder: Wenn man sie nach einer Ethik befragt, zeigen sie ihre Ästhetik; wenn man sie als zu ästhetisch wahrnimmt, wenn man also argwöhnisch wird wegen der deutlichen Arrangements, die Seidl oft mit einfachen Menschen vornimmt, dann antwortet er ethisch ... Wenn der Spiegel Seidl vorwirft, er würde mit unzulässigen Mitteln Gefühle bei den Laiendarstellern 'triggern', dann weist das aber in eine Richtung, der Seidls Werk gar nicht entspricht. Denn das hat als Fluchtpunkt nicht die entfesselte Emotion, sondern die eingefrorene Pose, den verstummten Dialog, die Hölle der Wiederholungszwänge."

Der deutsche Filmadel feiert weiter: Gestern wurde Werner Herzog 80 (unser Resümee), heute wird Dominik Graf 70. "Am Rand des hiesigen Mainstreams dreht er seit fast vierzig Jahren die aufregendsten und unberechenbarsten Filme, die es im deutschen Kino gibt", würdigt Andreas Kilb in der FAZ den "genialen Rebellen", in dessen Filmen insbesondere Schauspielerinnen "aufzuleuchten beginnen. ... Die alte Maxime von Truffaut, im Kino gehe es darum, mit schönen Frauen schöne Dinge zu machen, hat hierzulande niemand so konsequent umgesetzt wie sein skeptischer Verehrer Graf." Als "deutscher Stadtfilmer par excellence" feiere Graf "die Anarchie, die Spontaneität, die Lust auf den Augenblick und seine Unwiederbringlichkeit", schreibt Fritz Göttler in der SZ. "Graf hat von früh an für ein freies, anderes Kino gekämpft, auch gegen die Filmemacher der Generation vor ihm." Er "ist vom Filmemachen (und Filmesehen) besessen, aber nie geht's bei ihm um das singuläre Werk, das Meisterwerk, sondern auf ein Immer-weiter, das das 'Event-Gewese' meidet." Markus Ehrenberg staunt im Tagesspiegel "über die Kraft, die Dichte, die Vielfalt des Graf'schen Werkes." Und "was manche für manieriert halten mögen, ist für andere ein filmischer Zugang zur Welt, der dem Massenmedium immer neue Möglichkeiten abtrotzt. ... Es geht sehr körperlich bei ihm zu, gerne an dreckigen, verfallenen Orten. Moral ist nicht unbedingt das Kriterium, an dem sich seine Filme ausrichten." Der BR hat Moritz Holfelders Radioporträt über Dominik Graf wieder online gestellt. Die ARD-Mediathek hält derzeit Grafs "Polizeiruf"-Krimi "Der scharlachrote Engel" und seine Serie "Im Angesicht des Verbrechens" vorrätig. Seinen großartigen Essayfilm "Es werde Stadt" über 50 Jahre Grimme-Preis findet man auf Youtube.

Außerdem: Wolfram Schütte (Glanz und Elend) und Robert Wagner (critic.de) gratulieren Werner Herzog zum 80. Geburtstag. Besprochen werden George Millers "Three Thousand Years of Longing" (taz) und die ZDF-Serie "Liberame" (ZeitOnline, FAZ).
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Bühne

Prinz Ramiro und Don Magnifico in Achim Freyers "La Cenerentola". Foto: Barbara Pálffy / Volksoper Wien 

Hin und weg ist Stefan Ender im Standard vom Saisonstart der Wiener Volksoper unter der neuen Leitung von Lotte de Beer, der er das "Sendungsbewusstsein einer Erweckungspredigerin und die unkaputtbare Bestlaune einer Ferienklubanimateurin" attestiert. Mit der Wiederaufnahme von Achim Freyers Inszenierung von Rossinis "Cenerentola" hat sie den Kritiker vollends bezaubert: "Der Prinz Ramiro von Timothy Fallon zum Beispiel. Wenn es Gott gäbe und dieser eine Stimme hätte, würde er genau so singen: wie ein gebündelter Lichtstrahl, mit quecksilberartiger Beweglichkeit, höhensicher, kraftstrotzend und nuanciert gleichermaßen. Und dieses Genie ist sogar fix im Ensemble! ... Von der skurrilen Poesie der Freyer-Inszenierung, die von Dorike van Genderen detailgenau neu einstudiert wurde, wird man sowieso von der ersten bis zur letzten Minute bezaubert, allen voran von Lauren Urquhart und Stephanie Maitland als Clorinda und Tisbe."

Weiteres: Reinhard J. Brembeck meldet in der SZ, dass Daniel Barenboim die geplante Neuproduktion von Wagners "Ring" an der Berliner Staatsoper aus gesundheitlich Gründen an Christian Thielemann abgeben muss.

Besprochen werden Anna Andereggs Performance im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin (deren Tänzerinnen FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster als "schöne und krass trainierte Muskelmaschinen" bewundert) und Sebastian Hartmanns Musiktheaterabend nach Max Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" am Deutschen Theater in Berlin (Tsp, BlZ).
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Literatur

Morgen beginnt das Internationale Literaturfestival in Berlin. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung gibt Festivalchef Ulrich Schreiber einen Einblick in das in diesem Jahr besonders politische Programm. "Was sich in den letzten 30 Jahren nach Francis Fukuyamas Buch 'Das Ende der Geschichte' getan hat, ist unfassbar. Es werden tatsächlich Jahr um Jahr mehr Krisen. Und jetzt auch noch der Vernichtungskrieg Russlands in der Ukraine! Uns beschäftigt auch die woke Blase, die aus Amerika herüberschwappt. In einem Panel wird die Annäherung zwischen China und Russland analysiert. Das ist aus meiner Sicht eine Bedrohung für die westliche Welt und Demokratie." Gemeinsame Auftritte russischer und ukrainischer Schriftsteller werde es allerdings nicht geben: "Wir haben es versucht", doch "die Politik des ukrainischen Kulturministeriums, Veranstaltungen mit russischen Künstlern zu boykottieren und Puschkin aus den Lehrplänen in den Schulen zu streichen, bleibt nicht ohne Eindruck auf die Künstler. Die Haltung des ukrainischen PEN ist immerhin, dass die Gegner Putins, die Gegner des Krieges in der Kulturszene Russlands, nicht boykottiert werden sollten."

Außerdem: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Erhard Schütz plädiert in der Welt für eine Wiederentdeckung von Erik Regers 1931 erschienenem Roman "Union der festen Hand"

Besprochen werden unter anderem Rasmus Englers und Jan Müllers "Vorglühen" (taz), Kim de l'Horizons "Blutbuch" (NZZ), Behzad Karim Khanis "Hund, Wolf, Schakal" (FR), Alexander Brauns Ausstellungskatalog "Horror im Comic" (SZ), Lewis Trondheims Asterix-Parodie "Beim Teutates!" (Tsp), Simeon Wades "Foucault in Kalifornien. Wie der große Philosoph im Death Valley LSD nahm" (ZeitOnline), Rayk Wielands "Beleidigung dritten Grades" (SZ), die neue Dauerausstellung über den Schriftsteller Christoph Martin Wieland im Gut Oßmannstedt in Weimar (FAZ) und Zoë Jennys "Der verschwundene Mond" (FAZ).
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Kunst

Reinhard Mucha: "Ohne Titel", 1983. Foto: Kunstsammlung NRW


Die "Ästhetik der Administration" erkennt FAZ-Kritiker Georg Imdahl in der großen Retrospektive, die die Kunstsammlung NRW dem Bildhauer Reinhard Mucha widmet. Es ist die Ästhetik der alten Bundesrepublik: "Muchas Arbeiten heißen sinnfällig 'The German Leitz-Kultur' oder 'Vier-Mächte-Status' - mit vier gestapelten Transistorradios neben einer schweren Wandvitrine. 'Flak' von 1981 setzt sich aus vorgefundenen Stühlen und einer Leiter zusammen, die zu einem provisorischen Gebilde gleich einem Geschütz gen Himmel aufgetürmt sind. Die Farben Braun und Grau bleiben über Jahrzehnte hinweg dominant und setzen in den vielen gerahmten Ausstellungsplakaten von Anfang an den Ton. Der Werkstoff Filz, wie schon bei Beuys ein Erkennungszeichen Muchas, scheint selbst fabrikneu schon Patina angelegt zu haben. Der Ordnungssinn, die ganze Pedanterie: alles in diesem Werk ist obsessiv, in seiner kategorischen Präzision von - unbedingt produktivem - Größenwahn gestreift."

Weiteres: Im FR-Interview mit Lisa Berins spricht Farid Rakun von Ruangrupa über den Kollektiv-Gedanken, die Vorwürfe gegen die Documenta und verpasste Gelegenheiten: "Wir wurden gesilenced. Es gab so viele Dinge und Aspekte, die aufgrund dieser Wolke an Vorwürfen nicht gehört und gesehen wurden: Marginalisierung, Gewalt, Kolonisation. Über all das wurde nicht geredet." In der taz hätte Ronald Berg sich gewünscht, dass die Berliner Tagung zu Georg Kolbe genauer auf das Werk des Bildhauers blickt und sich nicht mit der Anprangerung seines Opportunismus unter den Nazis begnügt: "Die Subtilität, Vergeistigung und das beständige Suchen nach formalen Lösungen entfernt Kolbes Plastik weit von den brutalen bis kitschigen Machwerken der seinerzeit gefeierten Staatsbildhauer wie Arno Breker oder Josef Thorak." Im Tagesspiegel ist sich Carlotta Wald sicher, dass sexuelle Belästigungen im Kunstbetrieb zum Alltag gegöre und erklärt sich etwas holzschnittartig "das System" mit der Kombination aus ökonomischer Prekarität und romantischer Verklärung.
Archiv: Kunst

Musik

Jürgen Kesting von der FAZ berichtet (online nachgereicht) vom Saisonauftakt der Elbphilharmonie, wo sich die internationalen Orchester die Klinke in die Hand gaben. Ziemlich umgehauen ist er vom Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst, das an zwei Abenden hintereinander spielte und in den USA in höchsten Tönen gefeiert wird. Mit simpler Ranking-Kraftmeierei haben solche Lobpreisungen nichts zu tun, "es geht ums Spiel im höheren Sinne: um das engagierte Zusammenwirken von Musikern, die sich abstimmen bei ständigen, irrlichternden thematischen Transformationen in Wolfgang Rihms 'Verwandlung 2'; um die Fähigkeit zu lauschen beim Wechselspiel der Holzbläser; um das Gespür für eine sangliche Klangeinschmelzung der Posaunen in Schuberts Symphonie; um die Kraft und den Mut der Blechbläser in gewaltigen, immer aber beherrschten Klangekstasen Bruckners. Beide Abende schenkten das Erlebnis, gerade das beste Orchester der Welt gehört zu haben."

Außerdem: Christian Meier durchleuchtet für die Welt, wie viel (oder besser gesagt: wie wenig) Geld von den Spotify-Gebühren tatsächlich bei welchen Rechteinhabern landen. Hanspeter Künzler feiert in der NZZ die nun 25 Jahre andauernde Solokarriere von Robbie Williams. Anastasia Trenkler berichtet im Tagesspiegel von der ersten Ausgabe des neuen Münchner Popfestivals Superbloom. Lars Fleischmann resümiert in der taz das belgische Festival Meakusma.

Besprochen werden ein Berliner Konzert des Rotterdam Philharmonisch Orkests unter Lahav Shani (Tsp, hier eine Aufzeichnung) und Steve Earles neues Album "Jerry Jeff", mit dem sich der Musiker vor dem Songwriter Jerry Jeff Walker verbeugt (Standard).

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