Efeu - Die Kulturrundschau

Wachsende Kraftschwäche

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21.10.2022. FAZ und Tagesspiegel blicken skeptisch auf Cédric Jimenez' Versuch, mit "November" die Pariser Anschläge von 2015 als Action-Thriller zu inszenieren. Die Nachtkritik erlebt mit Stefanie Reinsperger als Thomas Bernhards "Theatermacher" zwei Stunden Volldampf-Virtuosität. Die Berliner Zeitung wünschte sich, der Kunstkompass würde nicht immer nach Norden zeigen. In der SZ erzählt die Übersetzerin Gabriele Leupold, wie sie Platonow Wort für Wort ins Deutsche bürstete. Und die taz porträtiert Joseph Ousmane Togbe, der den einzigen Plattenladen in Benin betreibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2022 finden Sie hier

Film

Kein Held und dann auch noch austauschbar: Polizeiarbeit in "November"

Cédric Jimenez inszeniert in "November" die Anschläge in Paris im Jahr 2015 als Polizeithriller. Die Filmkritik beobachtet das mit Unbehagen: Zwar gehe es nicht darum, die Figuren zu Helden zu stilisieren, schreibt Simon Rayss im Tagesspiegel, und viel recherchiert wurde auch. "Trotzdem mutet der Anlass für die akribische Polizeiarbeit über weite Strecken merkwürdig austauschbar an. Ein Gefühl für den Schrecken, der vor sieben Jahren Frankreich erschüttert hat, bekommt man erst, als die Ermittler:innen in einem Krankenhaus Überlebende interviewen. Ihre Schilderungen machen nicht nur die Ereignisse für Momente greifbar. Sie werfen auch die Frage auf, inwieweit ein Polizei-Thriller, so gut er funktionieren mag, überhaupt die richtige Form für die Aufarbeitung eines nationalen Traumas sein kann." Der Regisseur hat letzten Endes zwar "keinen politischen Film gemacht", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ, "sondern doch in erster Linie ein Action-Genre-Stück, das aber auch an die Dilemmata der staatlichen Notwehr rührt".

Im Standard kommt Ulrich Seidl nochmal auf die Vorwürfe zu sprechen, die vor einigen Wochen in einer eher diffusen Reportage des Spiegel gegen ihn laut gemacht wurden: "Die Vorwürfe kommen vermutlich unter anderem von einigen Personen, die erst während der Produktion und nur für wenige Tage dazugestoßen sind. Sie wurden aus Zeitdruck offenbar nicht ausreichend darüber informiert, dass ich sehr spezifisch drehe. Sie waren auch nicht unmittelbar am Set dabei. Daraus sind Vermutungen entstanden, die man für Wissen hielt. Viele namentlich genannte Mitarbeiter haben ganz andere Aussagen über die Drehumstände gemacht."

Außerdem: Für ZeitOnline durchleuchtet Julia Lorenz den aktuellen True-Crime-Trend, die Kontroversen darum (Hinterbliebene und Opfer fühlen sich zu wenig eingebunden, viele Formate sind zu reißerisch) und mögliche Auswege (allerdings leider ohne die großartige und vorbildliche ZDF-Produktion "Höllental" zu erwähnen). Lena Karger brütet in der Welt darüber, ob es in Ordnung ist, wenn Dünne Dicke spielen.

Besprochen werden Jaume Collet-Serras Superheldenfilm "Black Adam" mit Dwayne Johnson (Perlentaucher, FR, Welt), Uli Deckers Dokumentarfilm "Anima. Die Kleider meines Vaters" (Freitag), Lukas Rinkers Spielfilmdebüt "Ach du Scheiße!" (taz), Tizza Covis und Rainer Frimmels Dokumentarfilm "Vera", der die Viennale eröffnet (Standard) und Sönke Wortmanns Hochzeitssause "Der Nachname" (SZ).
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Bühne

Stefanie Reinsperger als Thomas Bernhards "Theatermacher". Foto: Matthias Horn / Berliner Ensemble

Am Berliner Theater hat Oliver Reese Thomas Bernhards "Theatermacher"-Wutschwall inszeniert, als Solo für die Schauspielerin Stefanie Reinsperger. Nachtkritiker Janis El-Bira hat zwei Stunden Dauer-Crescendo mehr oder weniger unbeschadet überstanden: "Ein Untergeher, der alle mitreißt in eine dampfende Frittatensuppe, deren Fettaugen ihn würgen lassen. Ein armes Blutwürstchen aber auch, das nebenher Toilettenpapierrollen vom Stapel klaut und schluchzt und greint, wenn es an die angeblich glorreiche Theatervergangenheit, vor allem aber an den Ort der letzten Triumphe denkt: Gaspoltshofen. Wie Reinsperger das immer wieder sagt, Gaspoltshofen, als sei's New York oder besser noch Wien, das transportiert die ganze Kümmerlichkeit des Uneinsichtigen in einem einzigen Wort. Man steht erschlagen vor dieser Volldampf-Virtuosität, diesem achterbahnfahrenden Schauspiel-Superlativismus, der noch jeden Satz, jede kleine Geste steigen und stürzen lässt, der überall und alles zugleich sein kann. Die Kehrseite dieses atemberaubenden Spiels ist die Macht, mit der es sich seine Figuren unterwirft. Gibt es im Granteln des Bernhard-Theatermachers nicht auch einen Moment des authentischen Leidens am selbstgesteckten Maßstab der Kunstproduktion?"

Kevin Hanschke besucht für die FAZ die Proben zu Schnitzlers "Professor Bernhardi" in Freiburg, bei denen der Iraner Amir Reza Koohestani Regie führt: "'Die Theaterszene liegt im Iran am Boden. Kunst gibt es keine mehr. Selbst die freie Szene im Untergrund ist am Ende', sagt er. Übermorgen, am 23. Oktober, wird er nach Teheran zurückfliegen, wo er lebt. Normalerweise toure er in dieser Zeit mit seiner Theaterkompanie 'Mehr' durchs ganze Land, den Nahen Osten und die Welt. Aber jetzt ist ihm das nicht möglich. Warum 'Professor Bernhardi'? Seit Jahren interessiere ihn das Stück von Schnitzler, sagt Koohestani, denn es enthalte alle Konflikte, die das Mullah-Regime provoziere - die Frage nach der Legalität einer Abtreibung, der Wille nach Freiheit und die daraus folgende Unterdrückung der Wahrheit."

Im Standard kann Margarete Affenzeller den vielzitierten Publikumsschwund nicht generell feststellen, zumindest nicht für Theater in Wien oder Graz. Aber klar, die Konkurrenz um das Publikum werde härter: "Jetzt kommen noch der hippe Nichts-kaufen-Trend sowie Preissteigerungen hinzu. Aber Theaterpublikum ist hart gesotten, und die goldene Zeit des Streamings, wie man hört, auch vorbei."
Archiv: Bühne

Architektur

Natürlich wollen Berlins ArchitektInnen eine historische Rekonstruktion von Schinkels Bauakademie verhindern, meint Peter Richter in der SZ zum neuen Berliner Planungsstreit, sie haben schließlich den Murx des Berliner Stadtschlosses vor Augen. Das selbst der Think Tank, der mögiche Lösungen suchen sollten, auch das Nicht-Bauen für eine mögliche Lösung hält, leuchtet Richter sofort ein: "Zugleich lehrt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass das Nichtbebauen von Brachen für das Stadtbild im Zweifel sogar vorteilhaft sein kann. Eine Gestaltungsverordnung, die bei Berliner Neubauten zum Beispiel 'Bezüge auf Schinkel' nicht ermutigt, sondern für eine Weile streng untersagt, wäre zumindest ästhetisch vielleicht eher ein Gewinn - und am Ende eine ehrlichere Respektsbekundung für einen großen Baumeister, der sich gegen das, was in seinem Namen hier mitunter alles so hingeklotzt wird, nun einmal nicht mehr wehren kann."
Archiv: Architektur

Kunst

In dem jährlich von Capital erstellten Kunstkompass bleibt Gerhard Richter (90) der wichtigste Künstler der Welt, wie etwa der Tagesspiegel meldet, gefolgt von Bruce Nauman (80), Georg Baselitz (84), Rosemarie Trockel (69) und Cindy Sherman (68). In der Berliner Zeitung betont Harry Nutt zwar, dass in den Bewertung des Kunstkompass gerade nicht Verkaufspreise und Auktionserlöse einfließen, sondern Ausstellungen, Rezensionen und Museumsankäufe. Trotzdem rät er davon ab, immer nur nach Norden zu wollen: "Für Gerhard Richter gilt, was einst der Schriftsteller und Sänger Leonard Cohen über seinen Kollegen Bob Dylan sagte, als dieser 2016 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. Das sei in etwa so, sagte Cohen, als würde man am Mount Everest eine Tafel mit der Aufschrift 'Höchster Berg der Welt' anbringen. Wer Kunst liebt und in sie investieren möchte, ist ohnehin gut beraten, sich dorthin zu orientieren, wohin die Kompassnadel gerade nicht zeigt."

Weiteres: In der taz schlendert Katharina J. Cichosch über die Paris Internationale, die sich als Independent-Messe gegen die ebenfalls an der Seine gastierenden Art Basel ziemlich gut behauptet. Als "maximal durchschnittlich" qualifiziert Nadine A. Brügger in der NZZ ein "Balmoral"-Aquarelle von König Charles, das gerade für 6.400 Franken versteigert wurde. Besprochen werden die Schau des preußischen Klassizisten Johann Gottfried Schadow "Berührende Formen" in der Alten Nationalgalerie (BlZ) und die Ausstellung des deutsch-britischen Künstlers Michael Müller im Frankfurter Städel (Monopol).
Archiv: Kunst

Literatur

Darf man Serhij Zhadan, der auf Facebook russische Soldaten mit übelsten Schimpfworten belegt, mit dem Friedenspreis auszeichnen? Unbedingt ja, findet Volker Weidermann in der Zeit mit nichts als Verständnis für solche Vorbehalte: "Der Skandal ist nicht der Dichter und nicht sein Buch. Der Skandal ist der russische Überfall auf die Ukraine und das tägliche Töten. Die Literatur wehrt sich mit ihren Mitteln. Und kämpft für nichts anderes als Frieden." Die lieferbaren Bücher von Zhadan haben wir für Sie in diesem Dossier gesammelt.

Josef Wirnshofer porträtiert für die Seite Drei der SZ die Übersetzerin Gabriele Leupold, die aus dem Russischen ins Deutsche überträgt und sich vor einigen Jahren an Andrej Platonows zuvor als unübersetzbar geltenden Roman "Die Baugrube" machte. Dafür grub sie sich tief ein, tastete sich immer weiter vor und bürstete und bürstete, "bis sie auf die letzten Rätsel gestoßen war. ... Sie zieht ein Blatt aus ihren Unterlagen, auf dem sie verschiedene Versionen des zweiten Satzes aufgelistet hat. Woschtschew, heißt es dort, werde 'von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwäche in ihm'. Ganz oben auf der Liste übersetzte Gabriele Leupold es streng wörtlich: 'Wachsend (plus) schwach (minus) Kräftigkeit / Stärke (plus)'. Ein paradoxes Geflecht, eine Formel ohne Sinn. Erster Versuch: Sie probierte es mit der 'zunehmenden Kraftlosigkeit'. Gefiel ihr nicht. Zweiter Versuch: 'wachsende Kraftlosigkeit'. Gefiel ihr auch nicht. Inzwischen lag ihr die Losigkeit zu sehr bei null. Schwäche ist zwar nicht viel, aber doch nicht Null. Dritter Versuch also: 'wachsende Schwachkräftigkeit'. Schon besser. Aber Schwachkräftigkeit war ihr zu ungelenk. Ein Misston fast. Irgendwann drehte sie das Substantiv einfach um: 'wachsende Kraftschwäche'. Sie saß am Schreibtisch und las den Satz. Laut und leise. Und sie wusste: Der Rhythmus stimmt. Der Klang stimmt."

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die Schriftstellerin Petra Morsbach erzählt in der FAZ von ihrer Begegnung mit einem ukrainischen Soldaten vor sieben Jahren. Für die FAZ spricht Fridtjof Küchemann mit Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw, deren vor sieben Jahren veröffentlichtes Bilderbuch "Als der Krieg nach Rondo kam" von buchstäblich brennender Aktualität ist. Jens-Christian Rabe berichtet für den Tages-Anzeiger von Selenskis Video-Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse. Wolfgang M. Schmitt liest für die NZZ Carl Schmitt, um zu dem Schluss zu kommen, dass Tolkiens Gut-Böse-Schema ideologisch ist (wobei er sich dabei offenbar nur auf die Kenntnis der Filme verlässt). Der Autor Yuval Noah Harari spricht in der FR über sein Jugendbuch "Wie wir Menschen die Welt eroberten". Marie Schmidt wirft für die SZ einen Blick auf das Awareness-Team der Frankfurter Buchmesse. Andreas Platthaus behält für die FAZ die Frankfurter Coronazahlen während der Buchmesse im Blick. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Germanisten Peter Demetz zum 100. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem eine von Hanns Zischler kuratierte Schau in Köln über das Bücherlesen (FAZ), neue spanische Bücher (Zeit), Elena Medels "Die Wunder" (FR) und Sarah Jägers Jugendbuch "Schnabeltier Deluxe" (SZ).
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Musik

Ein Publikum, das sich während Corona ans Zuhausebleiben gewöhnt hat, explodierende Kosten, zahlreiche abgesagte Tourneen wegen zögerlichem Ticketvorverkauf: Im Popbereich stehen die Zeichen der Zeit mehr denn je auf Krise, analysiert Kristoffer Cornils auf ZeitOnline. "In den nächsten zwei bis drei Jahren wird es bei Veranstaltern, Veranstaltungen und Spielstätten eine Marktbereinigung geben", erzählt ihm der Booker Axel Ballreich. "Wen es treffen wird, scheint auch klar: 'Die Schwächsten geben den Löffel zuerst ab." Der Metalgitarrist Hanno Klänhardt sieht ähnliches für Musiker voraus: "'Viele Bands werden anders touren, es nur noch auf Hobbybasis durchziehen oder nur einmal im Jahr machen. Großen Bands ist das egal und den ganz kleinen auch. Aber bei allen dazwischen, für die 100 Euro mehr oder weniger über einen erfolgreichen Abend entscheiden, wird es kritisch.' Das musikalische Mittelfeld könnte wegbrechen und damit auch ein großes Stück der kulturellen Vielfalt."

Katrin Gänsler porträtiert in der taz Joseph Ousmane Togbe, der mit LP House den einzigen Plattenladen in Benin betreibt. Um Raritäten in den Laden zu bringen, reist er oft nach Nigeria und Äthiopien. Dabei lässt sich mit etwas Glück auch mal "ein besonderes rares Werk entdecken, das bis zu 2.000 Euro bringt, wenn sein Zustand gut ist. ... Weniger seltene LPs bringen zwar nicht so viel ein, lassen sich schneller wieder verkaufen. Die Mehrzahl der Anfragen geht online aus Europa ein. Reisende helfen ihm und packen schon mal bis zu 20 Platten in ihre Koffer. Die meisten Käufer*innen interessieren sich für jene Platten, die einst auch Jos Funken entzündet haben: Werke von eigenwilligen afrikanischen Bands, die sich in den 1960ern und 1970ern gründeten und der Musiktradition der Region treu geblieben sind." Dazu gehört etwa die Band Black Santiago:



Weitere Artikel: Michael Thumann dankt in der Zeit dem Dirigenten Justus Franz für ein Beethoven- und Brahms-Konzert in Moskau: "Westlicher geht's kaum. Das Moskauer Publikum schloss die Augen und gab sich dem Westen hin." Der Epidemiologe Stefan Willich kann kein erhöhtes Infektionsrisiko für Orchestermusiker ausmachen, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Max Nyffeler resümiert in der FAZ die Donaueschinger Musiktage.

Besprochen werden eine Arte-Serie über die Frühgeschichte von Hiphop in Frankreich (Freitag, FAZ), ein Konzert der Pianistin Schaghajegh Nosrati im Berliner Boulez Saal (Tsp), eine Aufführung von Giorgio Battistellis "Experimentum Mundi" durch Schuster, Schmiede und Maurer (Tsp), eine ARD-Serie über Technogeschichte in Frankfurt (Jungle World) und das neue Album von A-ha (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über Ben Folds' "Late", eine Hommage an den verstorbenen Singer-Songwriter Elliott Smith:

Archiv: Musik