Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht das Geld dient hier der Kunst

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07.07.2018. In der Literarischen Welt antwortet Thomas Glavinic auf Maxim Billers Poetikvorlesung. Die SZ blickt hinter die Kulissen des Wuppertaler Tanztheaters, wo offenbar gegen Intendantin Adolphe Binder intrigiert wird. FAZ und Tagesspiegel lernen die ganze Bandbreite der Abstraktion mit den Werken von Gerhard Richter und Sean Scully kennen. Die taz staunt, wie gut Schöneweide in Japan ankommt. Und die FAZ empfiehlt Poetry-Slammern ein Lateinstudium.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2018 finden Sie hier

Literatur

Maxim Billers in seiner Poetikvorlesung formulierte Sehnsucht nach literarischer Zusammenhangszugehörigkeit findet sein Kollege Thomas Glavinic in der Welt gerade vor dem Hintergrund von Billers Plädoyer für eine realitäts- und erfahrungsgesättigte Literatur eher befremdlich: "Zeitgemäß über unsere Gegenwart zu schreiben vermag nur der, der aus dieser Wirklichkeit herausschreibt und aus dem sich diese Wirklichkeit herausschreibt, weil beide zusammengehören, weil der Autor von der Wirklichkeit durchdrungen ist, von seiner Zeit, von seinem Geist, von seiner Farbe, seiner Temperatur, seiner Emotion. ... Das Glück, das Wesen seiner Zeit zu erkennen, kann auch ein seminaristischer Bleistiftspitzer haben."

Auch am zweiten Tag in Klagenfurt gab es vor allem Solides, berichtet Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels, der sich angesichts der grassierenden Solidität auch gerne mit den Outfits der Juroren und Jurorinnen befasst. Doch mit Bov Bjergs Geschichte "Serpentinen" tauchte dann auf einmal doch noch ein handfester Siegerkandidat am Horizont auf: Die Geschichte ist "reich an guten Dialogen, reich an innerer Rede, schnell, voller Szenenwechsel. ... Gute, ansprechende Literatur." Elmar Krekeler stellt in der Literarischen Welt einen Motivkatalog für den Lesewettbewerb zusammen: Demnach geht es In Klagenfurt um Drogen, die Frauen, die Rechten, den Tod und die Flucht. Außerdem postuliert Jury-Mitglied Nora Gomringer in der Literarischen Welt zehn Thesen über den Nutzen sprachlicher Kunstwerke. Videos von allen Lesungen und Diskussionen gibt es hier beim ORF.

Der Standard hat unter anderem bei Elfriede Jelinek nachgefragt, welche Bücher auch in 100 Jahren noch gelesen werden: Sie empfiehlt die Schriftstellerin Elfriede Gerstl: "Diese gellende Leichtigkeit, diese zarten, aber durchdringend leisen Gedanken (ihre Essays sind immer noch viel zu wenig bekannt) dürfen nicht in Vergessenheit geraten."

Der Bamberger Philologe Markus Schauer kann sein Glück kaum fassen, verrät er in der FAZ: Noch immer immatrikulieren sich reihenweise junge Leute an seinem Institut für ein Lateinstudium. Also hat er nachgefragt und dabei festgestellt, dass Latein für sehr unterschiedliiche Leute sehr reizvoll ist - zum Beispiel für Poetry-Slammer: Etwa an Horaz geschätzt werden demnach "die kunstvolle Metrik seiner Sprache, die Klangfiguren und Formenstrenge, die Prägnanz der Bildersprache, der gewagte Satzbau, in dem fugenlos - wie bei einer zyklopischen Polygonalmauer - Syntagma an Syntagma gefügt sei und in komprimiertester Sprache ein Maximum an Aussage stattfinde: größtmögliche Verdichtung, Engführung der Motive, eine Sprache, die machtvoll ist, bisweilen dem Rezipienten Gewalt antue."

Weitere Artikel: In der FAZ schreibt Ulrich Johannes Schneider von Universitätsbibliothek Albertina in Leipzig darüber, wie der Eisenkonstrukteur Henri Labrouste 1868 in Paris mit der Französischen Nationalbibliothek den modernen Bibliotheksbau begründet hat: "So großzügig hatte niemand zuvor gebaut, auch nicht so funktional." Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Lewis Carrolls "Alice in Wonderland" (hier die Langversion seiner Empfehlung beim WDR). Das Logbuch Suhrkamp bringt Alltagsnotizen von Detlef Kuhlbrodt. Claus-Jürgen Göpfert (FR), Tilman Spreckelsen (FAZ) und Paul Jandl (NZZ) schreiben Nachrufe auf den russischen Dichter Oleg Jurjew. Der Hollywood Reporter meldet außerdem, dass Comiczeichner und Spiderman-Erfinder Steve Ditko im Alter von 90 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Bodo Kirchhoffs "Dämmer und Aufruhr" (FR), neue Comics, darunter Jan Bachmanns Erich-Mühsam-Biografie (taz), Jo Bakers "Ein Ire in Paris" (Tagesspiegel), Carlos Gamerros "Die 92 Büsten der Eva Perón" (SZ) und der erste Briefband aus der Salomo-Friedlaender-Ausgabe (FAZ). Und Tell gibt Büchertipps für den Strand.
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Kunst

Bild: Sean Scully. Window With (Detail)

Fasziniert hat sich Christiane Meixner im Tagesspiegel die große Sean-Scully-Retrospektive in der Karlsruher Kunsthalle angesehen, in dessen streng abstrakten Werken sie alle Facetten der menschlichen Existenz entdeckt: "Der Gang durch die Ausstellung überzeugt mit seinem Farb- und Formreichtum, Scullys rhythmischen Variationen liegender wie stehender Flächen und den inneren Zuständen, die jeder Raum aufs Neue erzeugt. Eine große Rolle spielen die Farben. Grün- oder Blautöne in allen Nuancen, Ockerrot und Indischgelb wecken Assoziationen an Felder, Himmel, Sand, Sonne. Eine wuchtige Komposition wie 'Durango' von 1990 verschließt sich dagegen mit ihren schwarzen und grauen Feldern, ihrer hermetischen Oberfläche, die einem Flechtwerk ähnelt. Scully, der seine Arbeiten stets als 'Selbstbildnisse' beschreibt, verlor ein paar Jahre zuvor seinen Sohn - und man kommt nicht darum, 'Durango' als Ausdruck unendlicher Trauer zu begreifen."

Bild: Gerhard Richter. Vorhang. (58-1), 1964. Öl auf Leinwand. 65x47cm. Sammlung Block Berlin
Einen anderen Begriff von "Abstraktion" lernt Karlheinz Lüdeking in der FAZ in der Gerhard-Richter-Ausstellung im Museum Barberini kennen. Richters Bilder gleichen "den flimmernden Figurationen, die heute allerorts und unablässig auf unzähligen Monitoren erscheinen: in Krankenhäusern und Wetterstationen, bei der zivilen Flugsicherung, in militärischen Kommandozentralen und Kernforschungszentren. An der richtigen Deutung der Daten, die sich in diesen Bildern visualisieren, hängt mittlerweile unser Leben und unser Tod."

Überwältigt, auch ein wenig überfordert berichtet Manuel Müller in der NZZ von der Ausstellung "Geschlecht und Gewalt" im Dresdner Militärhistorischen Museum, die auch vor Extrembeispielen nicht zurückschrecke: "Ein Beispiel gibt das Foto einer Soldatin, die mit ihrer Waffe posiert. Sie trägt Feldgrün und Kopftuch; zu ihren Füßen liegt, bleich und in unnatürlicher Pose, ein junger Mann. Die Frau gehörte einer Peschmerga-Einheit an und kämpfte 2016 vor Mosul gegen den IS. Das Brisante: Ihr Tarnanzug hängt nun im Militärhistorischen Museum. Einige Meter weiter liegt ein zweites Stück Stoff aus. Es entstammt derselben Zeit und demselben geografischen Raum. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Es handelt sich um die Burka einer Jesidin, die der IS als Sexsklavin gefangen hielt. Am Saum des Kleides haftet noch Staub von der Flucht."

Weitere Artikel: Heute eröffnet die Ausstellung "Sofort Bilder" im C/O Berlin mit Polaroid-Aufnahmen von Wim Wenders aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren. Im Dlf-Kultur-Gespräch mit Ute Welty spricht Wenders über Katzenfotos und das Spielerische und die Kommunikation, die durch die digitale Fotografie verloren gegangen seien. Noch immer radikal und aktuell findet FAZ-Kritikerin Verena Lueken das im Neuen Berliner Kunstverein ausgestellte Archiv der feministischen Performancekünstlerin Valie Export

Besprochen wird die Ausstellung "Andere Mechanismen" in der Wiener Secession (Standard)
Archiv: Kunst

Bühne

Enttäuscht blickt Barbara Behrendt in der taz auf die erste Spielzeit unter Oliver Reese am Berliner Ensemble zurück, der groß "Autorentheater" und "politisch relevantes Gegenwartstheater" angekündigt hatte, dann aber nur vereinzelte Glanzlichter bot: "Reese trat an, der Hauptstadt mit ihren postdramatisierten Bühnen ein Theater der großen Erzählungen wiederzugeben. Schauspieler und Autoren sollten im Zentrum stehen - Menschen und ihre Geschichten. Schon die Eröffnung erstickte dann aber am eigenen Anspruch, politische Aussagen zu treffen, bisherige Zuschauer nicht zu verschrecken, neue hinzuzugewinnen, die Schauspiel- und Regiestars vorzuzeigen und gleichzeitig neue Namen zu präsentieren."

Von einer handfesten Führungskrise beim Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch berichtet Dorion Weickmann in der SZ: Zwischen Intendantin Adolphe Binder und Geschäftsführer Dirk Hesse kriselt es, Binder werde Mobbing und das Fehlen eines Spielplans für die kommende Saison vorgeworfen - von einer "Anti-Binder-Kampagne" sei ebenfalls die Rede: "Der Vorgang wirft ein bezeichnendes Licht auf die Struktur des Tanztheaters. Die Intendantin ist, anders als es die Amtsbezeichnung nahelegt, der Geschäftsführung keineswegs gleichrangig, sondern vielmehr von ihr abhängig. Nicht das Geld dient hier der Kunst, sondern umgekehrt. Wo die Verabschiedung eines Spielplans für die Saison 2018/19 blockiert wurde, ist unklar. Hesse war, wie es aus informierten Kreisen heißt, etliche Wochen krank geschrieben und wurde vertreten. Dass eine erfahrene Managerin wie Adolphe Binder nicht in der Lage sein sollte, eine Saison zu planen, erscheint fragwürdig."

Besprochen werden Herman Beils Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Das Vermächtnis" und Nicolaus Haggs Inszenierung von Franz Werfels "Cella" bei den Festspielen Reichenau ("Theater, wie es früher einmal war", schreibt Gabi Hift in der nachtkritik, weitere Besprechung im Standard).
Archiv: Bühne

Film

Gemeinsam mit Doris Achelwilm von der Linksfraktion und dem Filmhistoriker Dirk Alt hat Matthias Dell für den Freitag das Filmarchiv des Bundesarchivs besucht. Dort zielt man vor allem auf Digitalisierung des Materials, also Sicherung des Inhalts vor dessen materieller Überlieferung. Dell ist skeptisch - auch wegen der langfristigen Unwägbarkeiten digitaler Sicherungen. "Hinzu kommt, dass schwer zu bemessen ist, was wir verlieren an Wissen und Kultur, wenn die ganze Grammatik des analogen Filmemachens hinter Files verschwunden ist." Und "schwer vermittelbar" sei zudem, "dass die Geschichte des Films nicht auf 'Inhalte' reduzierbar ist, sondern sich eine bestimmte Ästhetik bestimmten Produktionsbedingungen verdankt. Wer wissen will, was Bilder erzählen können, muss wissen, wie sie in die Welt gekommen sind." Digitalisate aus dem Bundesarchiv sind übrigens hier online zu sehen.

Weitere Artikel: Kracauer-Stipendiat Lukas Foerster schreibt im Filmdienst über die Schaukel in John Fords "The Brat" von 1931. Jürgen Ziemer befasst sich in epdFilm mit der Faszinationskraft von Musik-Biopics. Online nachgereicht schreibt Urs Bühler in der NZZ über Sinn und Unsinn von Freiluftkinos.

Nachgereichtes zum Tod von Claude Lanzmann (mehr dazu im gestrigen Efeu): Die Spex hat Max Dax' großes Gespräch aus dem Jahr 2008 aus dem Archiv geholt. Die Literarische Welt bringt Lanzmanns schönes Vorwort seiner Reportagensammlung "Das Grab des göttlichen Tauchers". Die Filmgazette führt durch Lanzmanns filmisches Werk. Arte hat neben einem Porträtfilm über Lanzfilm auch dessen Opus Magnum "Shoah" in zwei Teilen (hier und dort) online gestellt.

Besprochen werden die Ausstellung "Elfi Mikesch, Rosa von Praunheim, Werner Schroeter: Abfallprodukte der Liebe" in der Akademie der Künste in Berlin (Jungle World), das Serienende von "The Americans" (Freitag) und Johannes Schaffs "Symphony of Now" (Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Architektur

Weitere Artikel: Angeregt hat sich Jens Bisky in der SZ die Dauerausstellung "Tuet auf die Pforten" in der nach achtmonatigem Umbau wieder eröffneten Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum angesehen.
Archiv: Architektur

Musik

Für die taz hat sich Lea Diehl nach Berlin-Friedrichshain aufgemacht und dort den Pianisten Henning Schmiedt besucht, der sich in der DDR durch Hausbesetzung dem Militärdienst entzog, was nur durch den Mauerfall von Erfolg gekrönt war, um später am deutschen Marktbedürfnis vorbei langsame Klavierstücke einzuspielen. Doch "was dann kam, beschreibt Schmiedt als Mysterium: Nachdem eine seiner CDs bei einem japanischen Musiklabel gelandet war, kam er in Japan plötzlich in die Charts" und das, obwohl er "die Anfrage des Labels in brüchigem Englisch zunächst für eine Spam-Mail gehalten habe. ... Eines seiner späteren Alben, 'Torse', nahm Schmiedt für ein gleichnamiges Café auf. 'Die Leute kommen deswegen von überall her.' Das Album gebe es nur dort zu kaufen, eingepackt in einer Pappschatulle mit getrockneten Blumen. Noch ein Renner in Japan: Spieluhren mit seiner Klaviermusik." Beim japanischen Label Flau kann man sich sein aktuelles Album "Schöneweide" anhören:



Außerdem gibt Julian Weber in der taz Tipps für elektronische Musik, die man diesen Sommer auf der Playlist haben sollte. Erstaunlich findet er etwa, wie auf Will DiMaggios Debütalbum "At Ease" die "Harmonien wie Echos von Berggipfel zu Gipfel wandern", und dankt es der Platte sehr, wie wenig darauf geplaudert wird. DiMaggios Musik "schaltet den akustischen Sprachmüll, der uns in Dauerschleife suggeriert, wir hätten die Welt so hinzunehmen, wie sie ist, auf Snooze. 'At Ease' macht aus Stimmsamples Hooklines, eine Form stummer Verständigung. Man kann dazu wunderbar die Klappe halten und die Seele baumeln lassen." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Karl Fluch erinnert im Standard an den österreichischen Popmusiker Georg Danzer. In der NZZ lobt Corina Kolbe das Festival Trame Sonore in Mantua. Für die SZ besucht Andrian Kreye das Roma Jazz Festival.

Besprochen werden das gemeinsame Album von Beyoncé und Jay-Z (Jungle World), Drakes "Scorpion" (Standard), das neue Album von Florence + The Machine (Standard), ein Konzert des Jazzpianisten Brad Mehldau (FR), Christian Hucks Buch "Wie die Populärkultur nach Deutschland kam" (SZ), Pearl Jams Berliner Konzert (Tagesspiegel) und Jeff Becks Auftritt in Karlsruhe (FAZ).
Archiv: Musik