Efeu - Die Kulturrundschau

Archaisch und widerständig

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04.12.2021. "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kolonialgeschichte in Deutschland wirklich ein Thema wäre", sagt Abdulrazak Gurnah im Spiegel-Interview. Rechtsextremes Gedankengut ist in Deutschland wieder "salonfähig" geworden, meint indes Falk Richter in der FR. Berlin ist auserzählt, ruft die taz den Literaten zu. Der Tagesspiegel schaut sich in Berlin Liebesbeziehungen in aller Welt an. Die NZZ blickt bang in die politisch korrekte Oper der Zukunft. Emanzipation? Leider unrealistisch, glaubt Markus Lüpertz in der SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2021 finden Sie hier

Literatur

Kommenden Freitag erhält Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis. Bei der Ankündigung kannte in Deutschland den Schriftsteller kaum jemand (unsere Resümees), im Spiegel leistet Tobias Rapp Grundlagenarbeit mit einem großen Gespräch über Leben und Werk Gurnahs. Es geht um die Flucht aus Sansibar 1967, nachdem das Land 1964 ins Chaos gestürzt war, ums Entdecken des Schreibens auf Englisch, damit einher gehende Entwurzelungen, aber auch um deutsche Kolonialgeschichte, die in seinen Romanen widerspiegelt: "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kolonialgeschichte in Deutschland wirklich ein Thema wäre. Die Erinnerung scheint mir erdrückt zu werden von den unfassbaren Verbrechen, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg begangen haben - die zu verstehen schwierig genug war und ist. Dabei geht es ja nicht nur um die Verbrechen selbst, sondern auch um ihre Folgen: viele Millionen entwurzelter Menschen, die wieder ins gesellschaftliche Leben integriert werden mussten, die deutsche Teilung. Damit will ich das Vergessen der Kolonialgeschichte nicht entschuldigen. Aber so erklärt sich wohl, dass dieser Teil der deutschen Vergangenheit in den Hintergrund gedrängt wurde. Wenn sich das nun ändert, begrüße ich das sehr. Aber solche Prozesse sind nie Selbstläufer."

Gurnahs "Romanen, auch den vordergründig historischen, liegt das Urtrauma der Entwurzelung zugrunde", schreibt Richard Kämmerlings in einem Essay für die Literarische Welt anlässlich der deutschen Wiederveröffentlichung von Gurnahs "Das verlorene Paradies". "Immer wieder erzählen sie von Verlust, biografischem Bruch und prekärem Neuanfang. Von erzählerischen Experimenten hält Gurnah sich fern, vom selbstzweckhaften Spiel mit Sprache oder Form, auch von einer magischen Aufladung seines Realismus, die leicht selbst zum exotistischen Klischee vom 'irrationalen Anderen' gerinnen kann." Er ist "ein Meister der Ambivalenzen; er weiß um die Janusköpfigkeit von Kultur und Zivilisation", wird dabei nicht zum Ankläger, sondern bleibt "Zeuge".

"Ist Berlin ein Stück weit auserzählt", fragt sich tazler Dirk Knipphals, der feststellen muss, dass es mit dem einst lockenden Nischen- und Freiheitsversprechen der Großstadt auch schon vor Corona nicht mehr allzu weit her war. "Auf diesen Gedanken kann man kommen, wenn man dieses Literaturjahr Revue passieren lässt. Er hat ambitionierte und streckenweise tolle Romane über die Vorgeschichte des Labors Berlin hervorgebracht. Ulrich Peltzer hat in 'Das bist du' von den intellektuellen und lebensweltlichen Abenteuern des Heraustretens aus dem Identitätszwang (französische Philosophie, Liebe, Musik) erzählt. Sven Regener führte in 'Glitterschnitter' mal wieder zurück in die Kreuzberger Boheme aus Teilnehmerperspektive und ohne all den Überbau-Schnickschnack. Und in den Berlinepisoden von Emine Sevgi Özdamars Epos 'Ein von Schatten begrenzter Raum' kann man in die Atmosphäre von geteilter Stadt und Nachkrieg eintauchen. Das alles sind sehr genau gearbeitete, jeweils eigensinnige Bücher, die allerdings eben auch von dem unter Germanisten sprichwörtlichen historischen Edelrost überzogen sind."

Weitere Artikel: Bei einem Sorbonne-Abend mit Michel Houellebecq ging es um vieles, aber leider nicht um den fürs kommende Frühjahr angekündigten neuen Roman des Schriftstellers, muss Johanna Adorján in der SZ feststellen: "So ging die Zeit dahin, ohne dass bedeutende Dinge gesagt wurden." In der taz denkt Dirk Knipphals mit Uwe Johnson und Joseph Conrad über das Wort des Jahres "Wellenbrecher" nach. Die Literaturwissenschaftlerin Luca Crescenzi erklärt in der FAZ, dass Kafka sich für "Ein Landarzt" von Sven Hedin inspirieren ließ. Georg Stefan Troller erinnert sich in der Literarischen Welt an Begegnungen mit Anais Nin.  Für den Dlf Kultur spricht Dorothea Westphal mit Felicitas Hoppe und Ferdinand Schmalz über das Nibelungenlied. Außerdem gibt uns die NZZ Buchtipps für Weihnachten - in unserem Buchladen Eichendorff21 tun wir es ihr gleich.

Besprochen werden unter anderem Haruki Murakamis "Murakami T. Gesammelte T-Shirts" (taz), der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger (online nachgereicht von der FAZ), Hans Dieter Zimmermanns Erinnerungsband "Ein Rückblick auf 80 Jahre. Und was ich der Gruppe 47  verdanke" (Tsp), Alois Prinz' "Das Leben der Simone de Beauvoir" (SZ), Norbert Langes Gedichtband "Unter Orangen" (taz), Louise Glücks "Winterrezepte aus dem Kollektiv" (Literarische Welt) und Uljana Wolfs Essayband "Etymologischer Gossip" (FAZ).
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Kunst

Bild: Davor und Andula Rostuhar. "Love around the world". Freiraum für Fotografie. © Davor Rostuhar

Bewegt kommt Sinan Recber im Tagesspiegel aus der Ausstellung "Love Around the World" im Berliner f³ - freiraum für fotografie, für die das Fotografen-Paar Davor und Anđela Rostuhar monogame, queere und polyamoröse Paare, aber auch arrangierte Ehen oder Menschen, die Beziehungen mit KI-Puppen führen, fotografiert hat. "Mit ihrer Ausstellung haben die Rostuhars die 'Liebe' in ihrer gesamten Spannbreite erkundet: von tragisch, platonisch, archaisch und widerständig bis hin zu toxisch ist fast alles dabei. Eines dieser Porträtfotos zeigt zum Beispiel Nahid (34) und Nazanin (27), ein lesbisches Paar aus dem Iran. In dem Land gilt bis heute die Todesstrafe für Homosexuelle. (…) Dann wiederum gibt es Beziehungen, in der die Liebe nicht einmal über die Lippen der Paare kommt. Wie bei Teuro (92) und Michiko (88) aus Japan. 'Er wohnte in meiner Nähe und sah gut aus, also habe ich seinen Heiratsantrag angenommen', erklärte Michiko. In ihren 67 gemeinsamen Ehejahren sollen sie nie darüber nachgedacht haben, was das eigentlich ist - die Liebe."

Unter dem Titel "Collapse and Recovery - Zusammenbruch und Wiederaufbau" hatte Carolyn Christov-Bakargiev einen Außenposten der documenta 13 in Kabul platziert, erinnert Ingo Arend in der taz, der mit der Kuratorin gesprochen hat: "Was die Zukunft der Kunst in Afghanistan betrifft, konstatiert Bakargiev 'keine gute Situation'. Was aus der von ihr 2012 unterstützten Kunstschule für Frauen oder der Pension geworden ist, in der der Arte-Povera-Künstler Alighiero Boetti in den 70er Jahren abstieg, als er in Kabul seine berühmten Weltkarten weben ließ, weiß sie nicht. Bakargiev hatte sie von dem mexikanischen Künstler Mario García Torres renovieren lassen. Ihre Idee, Boettis One Hotel als italienisches Kulturerbe zu schützen, gar als Kunstresidenz zu nutzen, zerschlugen sich."

Außerdem: Nachrufe auf den im Alter von 79 Jahren verstorbenen Konzeptkünstler Lawrence Weiner bringen unter anderem Tagesspiegel, Standard, monopol und SZ. Im Welt-Gespräch mit Mathias Döpfner erklärt die amerikanische feministische Künstlerin Joan Semmel, weshalb sie für ihre weiblichen Akt-Darstellungen sich selbst malte: "Viele feministische Künstlerinnen und Theoretikerinnen haben es abgelehnt, sich mit dem weiblichen Akt zu beschäftigen, sie erkannten darin die Objektivierung der Frau. Ich war davon überzeugt, dass, wenn ich meinen eigenen Körper benutze, mir niemand etwas vorwerfen kann. Weil es meine Perspektive ist." Ebenfalls in der Welt streift Boris Pofalla mit Marc Brandenburg durch Berlin.

Besprochen werden die Ausstellung "Family Affairs" der in Berlin lebenden finnischen Künstlerin Niina Lehtonen Braun im Kulturhaus Karlshorst (taz), die Ausstellung "Pompeji. Pracht und Tod unter dem Vulkan" im Landesmuseum Liechtenstein in Vaduz, die dem Luxus der Stadt nachspürt (FAZ) und die Alexej-von-Jawlensky-Ausstellung im Museum von Roubaix La Piscine (FAZ).
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Bühne

"Es hat in Deutschland nie eine Entnazifizierung gegeben", sagt der Regisseur Falk Richter im FR-Gespräch, das Katja Thorwarth anlässlich seiner Premiere von Thomas Bernhards "Heldenplatz" an den Münchner Kammerspielen mit ihm geführt hat. Heute sei "faschistisches Denken und rechtsextremes Gedankengut" wieder "salonfähig" geworden: "In Deutschland verschieben Neurechte und radikalisierte Konservative den politischen Diskurs immer weiter nach rechts. Die Sprache wird gewaltsamer und heizt die reale Gewalt an: Die Anschläge in Halle und Hanau haben gezeigt, dass Juden und nichtweiße Menschen in Deutschland nicht mehr sicher sind. Der Staat hat die radikalen Rechten und ihre Gewaltexzesse nicht im Griff. Wichtige staatliche Institutionen wie die Polizei, die Bundeswehr oder der Verfassungsschutz sind selbst tief in rechtsextreme Netzwerke verstrickt. Wer soll also den Opfern zu Hilfe eilen?"

In Bergamo, im vorigen Jahr eine Corona-Hochburg, fand am Rande des Donizetti-Festivals eine Konferenz zur Zukunft der Oper statt, berichtet Michael Stallknecht in der NZZ. Besprochen wurde unter anderem, wie man junges Publikum in die Oper locken könnte: "Um potenziellen Empfindlichkeiten der heute Anfang 20-Jährigen entgegenzukommen, setzt die Tagung vorsorglich auch schon einmal auf ein ganzes Bündel angesagter Themen: Um mehr Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und die Umsetzung des Klimaschutzes im Opernbetrieb geht es, um moralisch einwandfreie Leitungsstrukturen und den Umgang mit rassistischen und Gender-Stereotypen in kanonischen Stücken. Wobei die Frage bleibt, ob sich mit so viel ausgestellter politischer Korrektheit nicht am Ende ebenso viele Zuschauer vertreiben wie eventuell neue hinzugewinnen lassen."

Markus Lüpertz gibt mit 80 Jahren sein Regiedebüt mit "La Boheme" am Staatstheater Meiningen. Für das Buch zwei der SZ haben Roman Deininger und Christiane Lutz den Maler einige Wochen begleitet und porträtiert. Sympathischer Typ! "Am Pausentisch des Malsaals, voll mit Baumkuchen, Fruchtgummi, Pinseln und Farben, klingt das so: Emanzipation? Gute Idee, aber leider unrealistisch, da komme der Sex dazwischen, bei dem seit jeher der Mann eine bestimmte Leistung erbringen müsse und die Frau eher nicht. Politik? Gute Idee, leider zu wenig Ideale. Kirche? Gute Idee, leider alles verkackt. Und wer ist eigentlich diese Adele, der alle Feuilletons der Nation gerade seitenweise Berichterstattung widmen? Überhaupt, die Feuilletons, alle ahnungslos."

Außerdem: Im Tagesspiegel blickt Frederik Hanssen in die ungewisse Zukunft des Theaters des Westens, dessen Untermietvertrag mit Stage Entertainment kommendes Jahr ausläuft. Für die SZ porträtiert Till Briegleb die Schauspielerin Barbara Nüsse, die derzeit als Pippi Langstrumpf und als Christian Krachts Mutter in "Eurotrash" am Hamburger Thalia Theater zu sehen ist.

Besprochen werden Frank-Lorenz Engels Inszenierung von Albert Hussons "Wir sind keine Engel" im Frankfurter Remond-Theater (FR) und Mathias Schönsees Inszenierung von Moritz Rinkes "Der Mann, der sich Beethoven nannte" an der Neuköllner Oper (nachtkritik).
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Film

In der Langen Nacht des Dlf Kultur widmet sich Rainer Praetorius Stanley Kubrick und der Filmmusik. Besprochen werden "Mitra" mit Jasmin Tabatabai als iranischer Exilantin (online nachgereicht von der Welt), Ridley Scotts "House of Gucci" (Jungle World, unsere Kritik hier), Paul Verhoevens "Benedetta" (FAZ, unsere Kritik hier) und die Sky-Serie "Die Wespe" (FAZ).
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Design

Bei Sotheby's stehen weite Teile von Karl Lagerfelds Nachlass auf dem Programm - ein Angebot, durch das sich Jürg Zbinden für die NZZ mit großer Freude blättert: "Lagerfelds Geschmack war so schwer zu fassen wie hochflüchtiges Quecksilber. Er fand Gefallen an allem Möglichen und Unmöglichen, an zukunftsweisendem Design, an Antiquitäten." Künftig wohl Abstriche machen muss allerdings wohl Choupette, Karl Lagerfelds Katze: "Dass in der Auktion nun auch das einer Odaliske würdige Ruhekissen mit dem aufgestickten Spruch 'Ici, c'est la place de Choupette' zu barer Münze gemacht wird, ist nicht der Ex-Haushaltshilfe anzulasten. Schuld ist die Nüchternheit des hinter den Sotheby's-Auktionen stehenden Nachlassverwalters. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, gewöhnt sich daran." Droht dem schönen Tier etwa die Altersverwahrlosung? Choupettes Instagram-Account gibt Katzenfreunden Entwarnung.
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Stichwörter: Lagerfeld, Karl, Instagram

Architektur

Im taz-Interview mit Jens Uthoff kritisiert die Kunsthistorikerin Kristy Bell, die gerade mit "Gezeiten der Stadt" ein Buch über die Geschichte Berlins geschrieben hat, weshalb Erinnerungsorte und Ruinen nicht einfach zugeschüttet werden sollten: "Es ist immer besser, etwas offenzulegen, als es zu vergraben. Das ist ein großes Problem in Berlin. Und es hat viel mit ideologischen Fragen zu tun. Es gibt tendenziell den Wunsch, viel verschwinden zu lassen und zu begraben. Andererseits entstehen dann solche Fake-Geschichten wie das Schloss."

Besprochen wird die Ausstellung "Draw. Love, Build" der Architekten Sauerbruch Hutton im Museum M9 im italienischen Mestre (Tagesspiegel)
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Musik

Was dank Studiotechnik auf CD wie ein Monument der Ausdauer wirkt, offenbart seine strapaziösen Dimensionen erst auf der Bühne, hält FAZ-Kritiker Gerald Felber nach einem Konzert Igor Levits in der Berliner Philharmonie fest, wo der Pianist mit einem Konzert seine aktuelle Schostakowitsch-Aufnahme bewarb. Hier zeigte sich der "physische Verschleiß eines solch großsymphonisch dicken, obwohl doch nur für zwei Hände gedachten Notenkonvoluts", das vom Künstler mit fortschreitenden Abend immer wieder "atemholende Besinnungszäsuren" abverlangte - was aber vielleicht sogar zu Schostakowitschs Biografie passt, meint Felber. So sei es "an Levit, die verdrängten Traumata, die krisenhaften und bisweilen hysterischen Züge der Musik ins Licht zu reißen. Das hat Konsequenzen, weil es oft die innere Geschlossenheit der Teile wie brüchige Eisschollen auseinandertreibt und Töne der Entspannung und durchatmenden Selbstversenkung auch da nicht sucht, wo sie vielleicht Platz finden könnten." Hier ein Musikvideo zu Levits Schostakowitsch-CD:



Weitere Artikel: Andrian Kreye von der SZ fühlt sich von seinem von Spotify ausgespielten Jahresrückblick "so ertappt wie missverstanden". Josef Kelnberger schreibt in der SZ zum Tod von Jean Jules Vanobbergen. Robert Mießner schreibt in der taz einen Nachruf auf den Avantgarde-Komponisten Alvien Lucier.

Besprochen werden Peter Jacksons Beatles-Doku "Get Back" (NZZ), die Amazon-Doku "Unzensiert" über Bushido (taz), ein Larcher- und Mahler-Abend der Berliner Philharmoniker unter Semyon Bychkov (Tsp) und J. R. Moores' Buch "Electric Wizards" über schwere, langsame Rockmusik (FAZ).
Archiv: Musik