Efeu - Die Kulturrundschau

Zum Solo verdammt

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16.01.2021. Wir brauchen Bilder der Trauer um die Corona-Toten, fordert die Kunsthistorikerin Brigitte Kölle im monopol-magazin. Die FAZ bläst Putin mit der russischen Avantgarde-Pop-Band IC3PEAK den Marsch. Die taz erkennt die Schönheit von Buchstaben. Die NZZ wirft einen Blick auf die Filmindustrie in der unberührten Wildnis von Jakutien. Die SZ erliegt dem Reiz von Peter Zumthors Entwurf für das Los Angeles County Museum of Art. Und der Freitag streift durch die Geschichte der Verschwörungstheorien im Hollywood-Kino.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2021 finden Sie hier

Design

Schuhe machen glücklich. (Bild: Vanishing Berlin)

Thomas Winkler hat für die taz ein sehr schönes Gespräch mit Barbara Dechant und Till Kaposty-Bliss geführt, die das Berliner Buchstabenmuseum leiten. Aus den beiden spricht viel Leidenschaft: "Schriften sind fast ebenso wichtig wie Architektur, sie umgeben dich und machen etwas mit dir. Manche Schriftzüge, ein 'Frisör' aus den 50er Jahren vielleicht, wecken ganz konkrete Kindheitserinnerungen", sagt Till Kaposty-Bliss. Und Barbara Dechant ergänzt: "Wir haben einen sehr schönen 'Schuhe'-Schriftzug, da stand einmal ein älterer Mann davor, der gar nicht mehr aufhören konnte, selig zu lächeln. Wenn man hier im Buchstabenmuseum arbeitet, merkt man sehr deutlich, welchen emotionalen Wert diese Schriften haben."
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Stichwörter: Schrift, 1950er

Kunst

Wir brauchen Bilder der Trauer um die Menschen, die mit oder an Corona gestorben sind, fordert die Kunsthistorikerin Brigitte Kölle im monopol-Gespräch mit Saskia Trebing. Der gesellschaftliche Umgang damit, um wen wir trauern, sei hochpolitisch, meint sie: "Trauer ist wie ein Spiegel unserer Gesellschaft. Dabei spielen auch diskriminierende, rassistische, homophobe oder frauenfeindliche Aspekte eine Rolle. Schauen Sie sich die große AIDS-Welle in den USA an, getötete Frauen in Lateinamerika oder Geflüchtete, die im Mittelmeer ertrinken. Werden diese Menschen betrauert? Sie sind öffentlich unsichtbar. Auch bei 'Black Lives Matter' geht es im Grunde doch darum, das Leben von Schwarzen als betrauernswerte Leben wertzuschätzen. Die Pandemie hat uns unsere Verletzlichkeit noch einmal deutlich vor Augen geführt. Erst wenn wir diese wahrnehmen, können wir sie auch anderen zugestehen. Hierin liegt das politische Potential der Trauer in Hinblick auf uns als soziale Wesen und Teile einer Gesellschaft."

Die kalifornische Künstlerin Marisa J. Futernick hat für ihr Fotobuchprojekt "13 Presidents" die Presidential Libaries fotografiert. Im taz-Gespräch mit Julian Weber erklärt sie: "Die Idee geht auf Franklin D. Roosevelt zurück. Ihm schwebte ein Ort vor, an dem Regierungsdokumente für die Nachwelt einsehbar gelagert sein würden." Auch Trump wird eine solche Library stiften müssen, versichert sie: "Ob Trump will oder nicht, die Verfassung verpflichtet ihn, alle Dokumente seiner Amtszeit zur Verfügung zu stellen, nachdem er abtritt. Durch die Watergate-Affäre wurde das obligat. Damals versuchte Richard Nixon, ihn belastende Telefonate zu löschen. Vielleicht verschleiert Trump ebenfalls illegale Aktivitäten, wittert aber die Chance, einen Schrein zu errichten, der dem Mythos seiner Person Vorschub leistet."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Künstler Hans-Peter Feldmann zum Achtzigsten. In der Berliner Zeitung betrachtet Ingeborg Ruthe ein mit "E. Schrödinger" unterzeichnetes Wandbild am Berliner Haus der Statistik. Der Verein Cartoonlobby hat die Suche nach neuen Räumen für sein Karikaturenmuseum vorerst eingestellt, meldet der Tagesspiegel mit epd.
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Bühne

Abgesagte Livestreams, verlängerte Spielpausen und noch längere Planungsunsicherheit sind das eine, aber wie lange halten die Künste selbst noch durch, fragt sich Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Was ist mit der Sängerin, deren Koloraturen nur noch in den häuslichen Wänden widerhallen oder die bestenfalls ein Aufnahme-Mikro erreichen? Mit dem Orchestermusiker, der eine ganze Saison lang keinen Bruckner, keinen Mahler interpretiert, weil große Besetzungen sich verbieten? Mit der Schauspielerin, die über Monate nur auf Distanz mit den Kollegen agiert oder vor der Laptopkamera? Zum Solo verdammt, zum Kammerspiel, zur Kleinstbesetzung, welche Muskeln erschlaffen dabei? Theater und Musik sind kein Sport, aber eine Kunst, die unaufhörlich trainiert sein will. Den Live-Auftritt kann ein Alleinspieler im Homeoffice nicht simulieren, auch nicht die Interaktion."
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Literatur

Karen Krüger berichtet in der FAZ von den Streitereien zwischen dem großen Florenz und dem etwas kleineren Ravenna, wo die Gebeine Dantes liegen, die Florenz zum großen Dante-Jahre gerne hätte: "Manche behaupten, der alte Streit um die Gebeine werde nur am Köcheln gehalten, weil das selbstbewusste Florenz es nicht ertrage, beim Thema 'Dante Alighieri' nicht ständig im Mittelpunkt zu stehen. Man spreche dort über ihn wie über einen Maserati, den man gern für sich allein hätte. Weil das nicht geht, werde die Angelegenheit als Aufmerksamkeitsmaschine benutzt. Die Florentiner wissen genau, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, damit Ravenna in Rage gerät."

Weitere Artikel: Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland sprechen in der taz ausführlich über ihren gemeinsamen Hausbesetzer-Roman "Aufprall" und die Geschichte der Hausbesetzung in Berlin. Die Schriftstellerin Annett Gröschner erinnert sich in der taz an gemeinsame Begegnungen mit der vor kurzem verstorbenen Lyrikerin Barbara Köhler. Im Literarischen Leben der FAZ erinnert Tilman Spreckelsen an den Historiker Ferdinand Gregorovius, der das Schicksal Pompejis in Hexametern beschrieb. Auch Simon Strauß schreibt in der FAZ über Gregorovius, der vor 200 Jahren geboren wurde. Ralf Höller erinnert im Standard an die Krimi-Autorin Patricia Highsmith, die am 19. Januar 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden David Schalkos "Bad Regina" (FR), Rutu Modans Comic "Tunnel" (taz), Alena Schröders "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" (taz), Roberto Bolaños "Cowboygräber" mit Erzählungen aus dem Nachlass (NZZ), Peter Fabjans "Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard" (NZZ, FAZ), Johann-Günther Königs Biografie über den Schriftsteller Friedo Lampe, dem es gelang, den einzigen schwulen Roman in Nazi-Deutschland zu veröffentlichen (Literarische Welt) und Tove Ditlevsens autofiktionale "Kopenhagen-Trilogie" (SZ).
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Musik

In der FAZ stellt Artur Weigandt die russische, zwischen Kunst, Pop und Avantgarde changierende Gruppe IC3PEAK vor: Deren Clips "amalgamieren politische Kritik, sozialen Aktionismus, Kino und verarbeiten die Verbitterung von Generationen im postsowjetischen Raum. So in ihrem jüngsten Lied 'Marsch', das Präsident Putins Verfassungsreform vom vorigen Jahr, seine abermals ausgeweiteten Vollmachten, aber auch die gewaltsamen Repressionen des belarussischen Regimes gegen friedliche Demonstranten zu kommentieren scheint. Vorigen Sommer gehörte die Gruppe zu den rund hundert russischen Popkünstlern, die sich in einem offenen Brief mit den Protesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl in Belarus solidarisierten."



Weitere Artikel: Für die taz hat sich Andreas Hartmann mit dem Technomusiker Paul Frick getroffen, der vor kurzem bei Tangerine Dream eingestiegen ist, deren Mitglieder mittlerweile bekanntlich allesamt jünger sind als die Band selbst. In der taz empfiehlt Thomas Mauch das Ultraschall-Festival für Neue Musik, das in diesem Jahr als reine Radio-Veranstaltung stattfinden wird. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Punkpionier Sylvain Sylvain von den New York Dolls.

Besprochen werden neue Alben von den Sleaford Mods und Shame (ZeitOnline), sowie ein Streamkonzert von Igor Levit mit dem HR-Sinfonieorchester (FR). Auf Youtube steht es online:

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Film

Im klimawandelbedingt abtauenden Jakutien im Nordosten Asien formiert sich langsam eine Filmindustrie, schreibt Janna Bystrykh in einer großen Reportage für die NZZ: Dort stürzen ganze Landschaften ein, was wiederum für die Leinwand ein Spekatkel verspricht. "Mit seinen langen Wintern, den isolierten, inmitten einer weitgehend unberührten Wildnis liegenden Städten und Dörfern, mit dem rasanten Klimawandel, der monströsen, Unheil verheißenden Transformation der Landschaft, mit seinem Schatz von Legenden und mündlich überlieferten Geschichten ist Jakutien ein inspirierendes Umfeld für Filmschaffende. Diese neue Branche könnte zu einem wichtigen kulturellen und wirtschaftlichen Ersatz für die bedrängte Landwirtschaft, die Fischerei und andere regionale Gewerbe werden - zu einer Raison d'être, einem Grund, trotz den immer schwierigeren Lebensumständen hier zu bleiben." Genaueres über die jakutische Filmindustrie verrät die Produzentin Sardana Sawwina im beistehenden Gespräch: Ursprünglich ging es um die Ergründung der eigenen Kultur, heute entstehen auch Independentfilme - "sehr dynamische Werke" - mit wenig Budget: "Man sucht sich selbst, die eigene Filmsprache."

Angesichts der Attacke aufs US-Kapitol, die maßgeblich von Verschwörungstheorien rund um den hanebüchenen QAnon-Unsinn geleitet war, führt Sebastian Milpetz im Freitag durch die Geschichte von Verschwörung und Paranoia im Hollywoodkino. Dass "alles" eine Machenschaft geheimster Zirkel sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die letzten 70 Jahre Filmgeschichte. Zwar geben sich die Krieg- und Actionfilme der letzten Jahren "Mühe, stilistisch die Unübersichtlichkeit der neuen, multipolaren Welt abzubilden; mit flirrenden, keine räumliche Orientierung ermöglichenden Handkameras und Epileptikerschnitt. Aber auch hier überlebte unterschwellig das komplexitätsreduzierende Verschwörungsdenken." Schließlich orientieren sich zwar auch Batman und James Bond "an der neuen Ernsthaftigkeit von Bourne und Co. Doch im Herzen der Story steuern weiter die hyperintelligenten, larger-than-life-Schurken die Ereignisse, vom 'Dark Knight'-Joker bis zum Bond-Widersacher Silva in 'Skyfall'. Sie lenken ihre Operationen mit chaos- und spieltheoretischen Tricks."

Weitere Artikel: Die Filmecke der Arte-Mediathek mausert sich still und heimlich zum filmhistorischen Schmuckkästchen, schwärmt Daniel Kothenschulte in der FR. Dlf Kultur meldet, dass der bulgarische Regisseur Marran Gosov gestorben ist, der in den 60ern und 70ern in Deutschland zahlreiche Gammlerkomödien mit Gila von Weitershausen und Uschi Glas gedreht hat.

Besprochen werden neue Bücher der Schauspieler Matthew McConaughey und Jim Carrey (Standard) sowie Sarah Biasinis Buch über ihre Mutter Romy Schneider (SZ).
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Architektur

Bereits über zehn Jahre plant der Schweizer Architekt Peter Zumthor mit Michael Govan, dem Direktor des Los Angeles County Museum of Art (Lacma) einen spektakulären Neubau für das Museum. Das Projekt ist höchst umstritten, den Abriss historischer Gebäude und drohende Kosten von bis zu einer Milliarde Dollar beklagen die einen, das Visionäre des Projekts bejubeln die anderen, resümieren Laura Weissmüller und Jürgen Schmieder, die für die SZ mit Goran und Zumthor gesprochen haben und sich dem Reiz des Projekts dann doch nicht entziehen können: "Das Erstaunlichste an dem Entwurf ist sicherlich, dass er trotz seiner Größe nur ein Geschoss hat. 'Das Gebäude kennt keine Hierarchien, alles ist gleichwertig', erklärt Zumthor das Prinzip. Für die Kunst werde es unterschiedlich große geschlossene Kuben und offene Galerien geben, ganz ähnlich 'wie die Straßen und Plätze einer Stadt'. Tatsächlich erinnert das an Jean Nouvels Konzept des Louvres in Abu Dhabi, wo sich unter einer gewaltigen Kuppel unterschiedlich große Würfel lose verteilen. Im Gegensatz zum Emirat werde aber in Los Angeles über große Fensterflächen das Gebäude 'im ständigen Kontakt zur heutigen Welt sein', bedeutet: 'Es ist das Gegenteil einer elitären abgeschlossenen Box des Wissens.'"

Coventry ist britische Kulturhauptstadt 2021 - und pünktlich zum Festakt soll ein Teil des historischen Stadtzentrums jetzt zu Gunsten eines Einkaufszentrums mit Wohnungen abgerissen werden, rauft sich Oliver Wrainwright im Guardian die Haare: "Die Stadt beherbergt einige der schönsten Beispiele der Nachkriegsarchitektur in Großbritannien, von Sir Basil Spence' aufrüttelnder Umgestaltung der im Krieg zerbombten Kathedrale über das Belgrader Theater von Ling bis hin zum kreisförmigen, von Parkplätzen gekrönten Zentralmarkt, die alle unter Denkmalschutz stehen. Aber die bescheidene Hintergrundstruktur des Stadtzentrums - einschließlich des bedrohten Bull Yard, Shelton Square, Market Way, City Arcade und Hertford Street - wird oft übersehen."

Weiteres: Die NZZ druckt einen gekürzten und übersetzten Text von Martino Stierlo aus dem Band  "The Songyang Story. Architectural Acupuncture as Driver for Revitalisation in Rural China", in dem der Kurator die junge chinesische Architektin Xu Tiantian vorstellt, die im ländlichen Bezirk Songyang daran arbeitet, moderne Architektur und die Revitalisierung dörflicher Gegenden zu verbinden. Besprochen wird die neue Ausgabe der "Arch+", die den Zusammenhang von Identität und Ökonomie am Beispiel Berlin untersucht (taz).
Archiv: Architektur