Efeu - Die Kulturrundschau

Unsere derzeitigen deutschen Debatten

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11.02.2023. In der FAZ wünscht sich Art Spiegelman mehr Krawall im New Yorker. Annie Ernaux hätte in der SZ hingegen gern mehr Ruhe. Der Tagesspiegel schaut in der Zitadelle Spandau erschüttert auf Häute von Kriegsgefangenen und Narben in Großaufnahme. artechock ärgert sich über die Auswahl der Berlinale: Mindestens Dominik Grafs schmerzhaft schöner Film "Jeder schreibt für sich allein" hätte in den Wettbewerb gehört. Die SZ rät: Einfach keine Konzerte von Roger Waters mehr besuchen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.02.2023 finden Sie hier

Literatur

Ziemlich geschafft zeigt sich Comicmeister Art Spiegelman im FAZ-Gespräch mit Andreas Platthaus über dies und das und jenes: Fertig ist er von der Auseinandersetzung ums Schulverbot seines Klassikers "Maus" in Tennessee aus fadenscheinigsten Gründen und Robert Coovers Krimi "Street Cop" hat er auch noch illustriert. An ein Comeback als galliger Karrikaturist für den New Yorker ist da nicht zu denken: "Tina Brown, die damalige Chefredakteurin des New Yorker, war sehr aufgeschlossen. Aber nach einigen Jahren war Karikatur für mich auch wieder Routine, und mit meinem Comic 'In the Shadows of No Towers' über den 11. September 2001 schlug ich wieder andere Wege ein. Gut so: Wenn ich heute meiner Frau Françoise Mouly, die immer noch für die Auswahl der Titelbilder des New Yorker zuständig ist, über die Schulter blicke, sehe ich jede Woche einen verzweifelten Wettlauf von sechzig oder noch mehr Spermien zu einem einzigen Ei, das befruchtet werden will. Und ich war schon früher nicht gut im Umgang mit Ablehnungen. Außerdem sind die New-Yorker-Cover zahmer geworden. Manchmal gibt es darunter noch exzellente politische Kommentare, aber das Magazin ist heute nicht mehr auf Krawall aus. Tina Brown dagegen war auf Krawall aus. Und ich auch."

Nils Minkmar hat für die SZ Annie Ernaux zum Frühstück besucht und dafür Croissants mitgebracht. Auf den erheblichen Alltagsstress, der mit ihrem Popularitätsschub durch die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis einher geht (Selfies auf der Straße, Myriaden von Briefen), reagiert die Schriftstellerin sanft genervt: "Schreiben, dazu kommt sie gerade nicht mehr: 'Stellen Sie sich vor, ich bin die erste Frau aus Frankreich, die den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat!' Zur Wahrheit gehört auch, dass diese Preisentscheidung in der literarischen Szene von Paris heftig kritisiert wurde: Zu eintönig das Werk, zu schmal die Thematik, mehr Soziologie als Literatur. Das hat sie natürlich mitbekommen: 'Es war, als sei ich als Nobelpreisträgerin illegitim!' Sie lacht dazu. ... Wie Gulliver werde sie sich von den Fesseln der Liliputaner lösen, lacht sie und streckt ihre Arme in einer V-Geste zur Decke."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die neuen Stipendiaten der American Academy stellen sich Fragen des Klimawandels, beobachtet Elibsabeth Binder im Tagesspiegel. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat sich bei einer Berliner Veranstaltung positiv über das Grundgesetz geäußert, berichtet Katharina Teutsch in der FAZ.

Besprochen werden unter anderem Clemens J. Setz' "Monde vor der Landung" (taz, FR, Tsp), Friedrich Christian Delius' "Darling, it's Dilius!" (Tsp), Goliarda Sapienzas "Die Kunst der Freude" (ZeitOnline), J.L. Carrs "Leben und Werk der Hetty Beauchamp" (online nachgereicht von der FAZ) und Alena Wagnerovás Erzählungsband "Im Leben unterwegs" (FAZ).
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Film

Dominik Grafs "Jeder schreibt für sich allein" (Lupa Film)

In seiner Artechock-Kolumne ärgert sich Rüdiger Suchsland unter anderem darüber, dass die Berlinale die neuen Filme von Hans Jürgen Syberberg (mehr dazu hier) und Dominik Graf abgelehnt hat. Um den letzteren hat sich immerhin die "Woche der Kritik" gekümmert, eine das Festival zwar flankierende, aber unabhängige Filmreihe von Filmkritikern, die Grafs Film "Jeder schreibt für sich allein" ins Programm aufgenommen haben: Dieser sei "ein Stich ins Herz unserer derzeitigen deutschen Debatten und Probleme. Es ist ein historischer Film, ein Dokumentarfilm" nach dem "gleichnamigen Buch von Anatol Regnier. Es ist ein Film, der von Kompromissen und von Opportunismus, von moralischenAbgründen und Empathielosigkeit handelt, von Verhaltenslehren der Kälte und der Wärme, von Bücherverbrennungen und Arrangements. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhältnissen, zum Totalitarismus der Gegenwart - und zwar dem in den westlichen Demokratien - und zum Terrorismus der jüngeren Vergangenheit, von Will Vesper zu Bernward Vesper, dem Mann von Gudrun Ensslin, der Linien zieht von Gottfried Benn zu Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, zu unseren Eltern und Großeltern und unserer eigenen Zukunft. Es ist ein großer Film, der schön und extrem schmerzhaft ist." Grafs zweiter neuer Film "Gesicht der Erinnerung" (mehr dazu hier) steht derzeit bei der ARD online.

Außerdem: Dunja Bialas resümiert für Artechock hier und dort das Internationale Filmfestival Rotterdam. Dirk Knipphals macht in der taz darauf aufmerksam, dass in der neuen Ausgabe von Sinn und Form ein bislang unveröffentlichtes Film-Exposé von Wolfgang Kohlhaase zu finden ist - "man kann den Text aber auch gut als Erzählung lesen". Der Tagesspiegel macht weiter Lust auf die Berlinale: Gunda Bartels und Kirsten Tayler haben vorab Filme aus dem Programm der Jugendfilm-Sektion gesehen. Christian Schröder wirft einen Blick ins Programm der Retrospektive, die sich in diesem Jahr mit Coming-of-Age befasst. Martin Walder freut sich in der NZZ, dass die Berlinale eine restaurierte Version von Hans Trommers und Valérien Schmidelys nach Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle entstandenem, Schweizer Klassiker "Romeo und Julia auf dem Dorfe" aus dem Jahr 1941 zeigt. Andrey Arnold schreibt in der Presse einen ersten Nachruf auf Carlos Saura. Im Dlf Kultur erinnern Martin Hamdorf und Jeanine Meerapfel an den spanischen Regisseur.

Besprochen werden Katerina Gornostais "Stop-Zemlia" (Artechock, unsere Kritik), Sarah Polleys "Die Aussprache" (Standard, FAZ, Artechock, mehr dazu hier), Alejandro Loayza Grisis "Utama" (Artechock) und Steven Soderberghs neuer "Magic Mike"-Film (ZeitOnline, Artechock).
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Kunst

Sehr nahe geht Elke Linda Buchholz im Tagesspiegel eine im Zentrum für Aktuelle Kunst in der Zitadelle Spandau gezeigte Ausstellung, die sich dem Thema Haut widmet: "Das gemütliche Interieur mit Schummerlicht wird zum Entrée einer Zeitreise: Lampen, die aus Häuten von Kriegsgefangenen in NS-Deutschland gefertigt waren, gelangten als freundliches Gastgeschenk nach Kamerun in den ehemaligen Königspalast des Douala-Herrschers Rudolf Manga Bell. Er selbst war hingerichtet worden. Narben in extremer Großaufnahme lichtete die herausragende DDR-Fotografin Tina Bara in den Jahren nach der politischen Wende ab. Die fragmentierten Körperbilder aus dem nahen Freundeskreis sprechen von Verletzungs- und Heilungsprozessen: auch eine politisch-gesellschaftliche Metapher. Sich selbst brannte die Künstlerin Yishay Garbasz die KZ-Nummer ihrer eigenen Mutter auf den Arm. Ein Video zeigt den Akt der Selbststigmatisierung."

Außerdem: In der taz resümiert Julia Hubernagel eine Debatte zur documenta fifteen im Kulturausschuss des Bundestags, bei der es darum ging, wie ein Klima der Verantwortungslosigkeit und Fehlkommunikation entstehen konnte: "Konkret regen die Expert:innen in ihrem Bericht an, die documenta-Geschäftsführung mit einer Doppelspitze zu besetzen, die aus einer kaufmännischen Direktor:in und einer künstlerischen Intendant:in besteht." Im Standard berichtet Olga Kronsteiner von der Entscheidung in der Causa um die 2001 erfolgte irrtümliche Restitution von Gustav Klimts Apfelbaum II (1916) an die Erben von Nora Stiasny: "Die Stiasny-Erben entschädigen die Republik mit einer Zahlung von 11,3 Millionen Dollar. Die umgerechnet etwa 10,6 Millionen Euro fließen in das Budget des BMKÖS und werden dort als Rücklage gebunden."

Besprochen werden die große Jan-Vermeer-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum (NZZ, FR, FAS, Welt) die Ausstellung "Piktoralismus. Die Kunstfotografie um 1900" in der Wiener Albertina Modern (Standard) und die Ausstellungen "Falten" und "Birke Gorm. Dead Stock" im Wiener MAK (Standard).
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Bühne

Im großen SZ-Gespräch mit Christine Dössel überlegt Harald Schmidt, der aktuell mit seinem Programm "Spielzeitanalyse" im Stuttgarter Schauspiel zu sehen ist, wie sich die Theater wieder füllen könnten: "Ich bin da wirklich unsentimental und würde sagen: Machen wir Broadway, machen wir Westend. Es heißt nicht von ungefähr 'Show-Business': Ich muss die Plätze verkaufen, sonst ist die Bude dicht. Das habe ich oft am Theater erlebt: 20 Prozent Platzausnutzung, und man sagte, wir sind zu radikal für diese Spießer. Dabei war es einfach nur stinklangweilig. Die viel beschimpften Abonnenten kommen ja meistens sogar noch. Aber die will man nicht mehr. Frage ich immer: Habt ihr denn neue?"

Außerdem: Berlin will Gesellschafterin der Berliner-Ensemble-gGmbH werden, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Der bisherige Alleingesellschafter war seit seiner Amtsübernahme 2017 Oliver Reese. Diesem wird das eingelegte Stammkapital von 50.000 Euro ausgezahlt, das er sich nach eigenen Angaben zur Hälfte von seinem Vater geborgt hatte, um es Claus Peymann, dem Vorgänger im Intendanten-Amt, überweisen zu können."

Besprochen werden Katja Langenbachs Inszenierung von Henrik Ibsens "Die Stützen der Gesellschaft" am Theater Luzern (nachtkritik), Josua Rösings Inszenierung von Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee I - V (nachtkritik), Reinhard Fries' Inszenierung von Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Theater Hof in Berlin (nachtkritik), Samuel Feldhandlers Tanzstück "Georges tremble" im Tanzquartier Wien (Standard), das Stück "Lying to Myself in Bed" vom Duo neco_nart in den Landungsbrücken Frankfurt (FR), Christiane Jatahys "Depois do silêncio (Nach der Stille)" nach dem Erstlingswerk des brasilianischen Schriftstellers Itamar Vieira Júnior in der Zürcher Schiffbau-Box (NZZ), Bernhard Langs Oper "Hiob" nach Joseph Roth am Klagenfurter Stadttheater (FAZ) und Marco Goeckes Ballettabend "In the Dutch Mountains" mit dem Nederlands Dans Theater (FAZ).
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Musik

Joachim Hentschel von der SZ kriegt schon graue Haare darüber, dass er sich ständig mit Roger Waters und dessen politischen Ausdünstungen befassen muss. Den jüngsten zufolge sei der russische Angriff auf die Ukraine "über alle Maßen provoziert" worden - so von Waters vorgetragen unter anderem vor wenigen Tagen, auf eine russische Initiative hin, bei seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Hentschel sieht jetzt das Publikum der angekündigten Waters-Deutschlandtour in der Verantwortung: "Wenn sich einer so verrannt hat wie Roger Waters, wenn einer einen derart eitlen, verbitterten Kampf führt, in dem es um kommunikative Flughöhe und eine verquere Idee von künstlerischer Ehre geht - dann ist das Publikum gut beraten, besonnen zu reagieren: Wie erträglich ist die Vorstellung, gewaltige Songs wie 'Wish You Were Here' oder 'Us And Them' von dem Mann vorgesungen zu bekommen, zu dem Roger Waters geworden ist? Man muss Konzerte nicht verbieten. Man kann auch einfach nicht hingehen, wenn der Mann mit seiner angemieteten Band in die Stadt kommt."

Dass Christian Thielemann auf Daniel Barenboim als Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper nachfolgt, kann sich Frederik Hanssen in seinem Tagesspiegel-Kommentar nicht so recht vorstellen. Die aus der Ukraine stammende Oksana Lyniv "wäre zweifellos eine spektakuläre Wahl. Mit Antonio Pappano, dem langjährigen Musikchef am Londoner Royal Oper House Covent Garden, würde man auf Nummer sicher gehen. Mein Favorit aber ist Tugan Sokhiev. Er hat als Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters seine Klangzauberer-Fähigkeiten unter Beweis gestellt, und wird darum auch von den Berliner Philharmonikern regelmäßig eingeladen. Vor allem aber ist er ein ausgewiesener Musiktheater-Mann - der seine Jobs am Theatre du Capitole de Toulouse und am Moskauer Bolschoi Theater nolens volens nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs niedergelegt hat."

In der SZ widerspricht Reinhard J. Brembeck seinem Welt-Kollegen Manuel Brug, der kürzlich überaus unterwältigt darauf reagiert hat, dass Gustavo Dudamel neuer Chef der New Yorker Philharmoniker wird (unser Resümee): "Dudamel garantiert das ganz große Musikereignis", denn er "mit seinem dunklen Lockenhaar und dem lachend Begeisterung, Leidenschaft wie Sensibilität ausstrahlenden Gesicht ist Naturereignis, Animator, Träumer und Visionär in Personalunion. Diese Mischung ist überwältigend einmalig."

Außerdem: Anna Schors stellt in der taz die Aufführungspraxis des Stegreiforchesters vor. SZ-Kritiker Harald Eggebrecht freut sich über die intimen Klangqualitäten des neuen Konzerthauses Casals Forum in Kronberg. Thomas Stillbauer erinnert in der FR an das erste, vor 60 Jahren erschienene Beatles-Album. Detlef Diederichsen (taz), Harry Nutt (FR) und Bodo Mrozek (ZeitOnline) schreiben zum Tod von Burt Bacharach (weitere Nachrufe hier). Arno Raffeiner berichtet auf ZeitOnline von seiner Begegnung mit der Soulmusikerin Kelela, bei der er feststelle: "Sehnsucht ist meta bei Kelela".



Besprochen werden eine von Franz Welser-Möst dirigierte Aufführung von Richard Strauss' "Symphonia domestica" durch das Tonhalle-Orchester (NZZ), ein von Daniel Harding dirigiertes Ligeti-Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), Derya Yildirims und Graham Mushniks Album "Hey Dostum, Çak!" mit anatolischen Folksongs (taz) und drei wiederveröffentlichte Alben des Jazzpianisten Ahmad Jamal, in denen SZ-Kritiker Andrian Kreye einen Grundstein des Hip-Hop sieht. Auch "The Awakening" ist dabei:

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