Efeu - Die Kulturrundschau

Freiheit vom Ich

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2021. Cannes hat vielleicht nicht seinen besten Jahrgang erlebt, wie FAZ und ZeitOnline meinen, aber FR, SZ und Welt verheißt die Goldene Palme für Julia Ducournaus wilden Horrorfilm "Titane" einen Aufbruch in ein wildes und radikales Kino. In Salzburg riss Lars Eidinger die Kritik mit seinem "Jedermann" hin, bei dem eher der Mann als der Mensch dem Tod geweiht ist. In der FAZ blickt Ulrike Erdschmid auf die siebziger und achtziger Jahre im linksradikalen Berlin zurück. Und der Freitag fragt, wann dem Pop die Anarchie abhanden gekommen ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.07.2021 finden Sie hier

Film

Die Goldene Palme von Cannes geht in diesem Jahr an Julia Ducournau für "Titane" (hier alle Preise im Überblick). Wohl nicht nur, weil die begehrte Trophäe diesmal an einen allem Vernehmen nach ziemlich wilden Horrorfilm ging - und überhaupt erst zum zweiten Mal an eine Frau -, dürfte diese kühne Auszeichnung in die Filmgeschichte eingehen. Sondern auch, weil Jurypräsident Spike Lee die Auszeichnung in einem herrlich amüsanten Moment gleich zu Beginn der Gala ausplauderte:



Ausgezeichnet wurde mit diesem wegen seiner Gewaltdarstellung an der Croisette hitzig diskutierten Film ein vitales, alles auf eine Karte setzendes Risiko-Kino, schwärmt Daniel Kothenschulte in der FR: "Verführerisch wie ein schwüler Alptraum folgt der Film der surrealen Entwicklungsgeschichte einer androgynen Frauenfigur, stählern und gleichwohl zerbrechlich. Eines weiblichen Terminators, zu brutalen Morden fähig, der Sex mit Autos hat, aus dessen Brüsten Motoröl tropft. ... Ducournaus Aneignung des Genres gelingt auf der Basis einfühlsamer Schauspielerführung und formaler Kraft. Und das hat in Cannes schon viele Gewinner hervorgebracht: Luis Buñuel, David Lynch, Quentin Tarantino oder auch Apichatpong Weerasethakul."

Drastische Filme wie "Titane" waren an der Croisette bislang in die Nische der Mitternachtsvorführungen verbannt, erklärt Tobias Kniebe in der SZ. Wie kam dann dieser Erfolg zustande? Die "nachpandemische Lebensgier könnte eine Rolle spielen, eine Lust, nach der langen Stille mal so richtig allen Gefühlen freien Lauf zu lassen, wie wild und dunkel sie auch immer sind. Oder ist es ein deftiger Kommentar der Jury zur Auswahlpolitik des Festivalleiters Thierry Frémaux, der alte und traditionell männlich dominierte Cannes-Traditionen gern an jeder Stelle verteidigt? Du gibst uns einen Wettbewerb mit vier Regisseurinnen und zwanzig Regisseuren zu bewerten? Dann heben wir doch einfach mal die wildeste und unerfahrenste Frau, die gerade mal ihren zweiten Film fertiggestellt hat." Tarantino hatte damals für "Pulp Fiction" allerdings auch für einen zweiten Film die Palme erhalten.

Feminismus, Gender Trouble, verunsicherte Männer: Dieser Film ist vollgesogen mit den Debatten der Gegenwart, schreibt ein völlig umgehauener Hanns-Georg Rodek in der Welt: Die Auszeichnung für diesen staunen machenden Film "ist ein Signal, ein Weckruf an das Kino, dass es die Zwangspause der Pandemie als eine Motivation ansieht, origineller und mutiger und radikaler zu werden." Dominik Kamalzadeh (Standard) und Christine Longin (taz) porträtieren die Regisseurin.

Wie war das Festival im Großen und Ganzen? "Es war kein großes Jahr", seufzt Andreas Kilb in der FAZ: Die Auszeichnungen abseits von "Titane" deuten für ihn auf eine "Gespaltenheit" und "Verlegenheit" der Jury hin. Sanft enttäuschend fand auch Anke Leweke von ZeitOnline das Festival. Dabei wurde dem Jahrgang im Vorfeld entgegen gefiebert wie selten: "Warum das Festival seinen Wettbewerb allerdings mit 24, zum großen Teil mittelmäßigen oder gar enttäuschenden Filmen überfrachtet hat, bleibt die große Frage. War es die Gier nach dem Alleinstellungsmerkmal der großen Namen?"

Ähnlich sieht es - trotz großer Freude über den Siegerfilm - Andreas Busche im Tagesspiegel: Mit diesem Schaulaufen der Big Player im Autorenkino wurde ein "ein verschwenderisches Maß erreicht, es schien Festivalleiter Thierry Frémaux nur noch um schiere Verdrängung der Konkurrenz in Berlin und Venedig zu gehen. Er tat damit weder dem Festival noch den Filmen einen Gefallen." Die klingenden Namen lieferten meist nur schwach, der Wettbewerb wirkte "aufgeblasen" und "Regisseur:innen mit formal interessanten Filmen wie Kornél Mundruczó, Andrea Arnold (ein Dokumentarfilm über die landwirtschaftliche Verwertungskette, aus der Perspektive einer Kuh) und Gaspar Noé, der dem Horror-Impresario Dario Argento eine zärtliche Altersrolle schenkte, wurden dagegen in nachrangigen Programmreihen geparkt."

Außerdem: Bert Rebhandl empfiehlt in einem online nachgereichten FAZ-Artikel die aktuelle Mubi-Retrospektive mit den Filmen von Kelly Reichardt, "einer der wichtigsten unabhängigen amerikanischen Filmemacherinnen". Im Tagesspiegel empfiehlt Gunda Bartels aus der Reihe insbesondere Reichardts neuesten Film "First Cow" (unsere Kritik hier). Im Dlf Kultur spricht Filmemacher Thomas Vinterberg über seinen neuen Film "Der Rausch". Tim Lindemann schreibt im Freitag über Notting Hill als Drehort. Für den Standard plaudert Christian Schachinger mit Otto. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Abel Ferrara zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Lee Isaac Chungs autobiografisch angefärbtes Migrationsdrama "Minari" (Artechock), der neue Teil der "Fast & Furious"-Reihe (Artechock, unsere Kritik hier), Baltasar Kormákurs Netflix-Serie "Katla" (Freitag), die Serie "The White Lotus" (Freitag), ein Buch zur Geschichte des Sportdokumentarfilms (Jungle World) und die 3sat-Doku "Queer Cinema" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Lars Eidinger als Jedermann. Foto: Matthias Horn / Salzburger Festspiele

Nur die besten Theaterschauspieler dürfen sich bei den Salzburger Festspielen mit den hölzernen Versen von Hofmannsthals "Jedermann" herumquälen, weiß Christian Meyer in der SZ. Und für Lars Eidinger hat Michael Sturminger eine neue, betont weibliche Inszenierung besorgt: "'Männlich dominante Denkmuster' will Sturminger aufbrechen, deshalb sind einige Figuren fast schon penetrant genderfluid, die Männer stöckeln mit hohen Absätzen lustvoll herum, während die Frauen über Leben und Tod entscheiden. Lars Eidinger ist klug genug, sich nicht völlig dem Spektakel hinzugeben und gelegentlich auf die Bremse zu steigen. Allerdings ist sein Jedermann anfangs bedrohlich nahe an der Farce: Wie ein nicht mehr ganz junger Glam-Rocker jagt er in einer senfgelben Schlaghose über die Bühne, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Opfer."

In der FAZ ist Simon Strauss von Eidinger richtig begeistert: "Dieser Jedermann versündigt sich nicht in erster Linie gegen die Armen, die er hartherzig von sich stößt, er versündigt sich, weil er ein (mittel)alter Adam ist und ohne jede Trigger-Warnung die Hauptrolle spielt. Lars Eidingers Jedermann betont seine Figur zunächst auf der hinteren Silbe: Er hat den athletischen Körper eines Helden, aber die Haltungen, die er damit einnimmt, die Bewegungen, die er macht, versuchen das Gegenteil zu beweisen: Er kniet viel, liegt anderen zu Füßen, lässt sich von Frauen bespucken, beklettern und bemitleiden ... Das könnte wohlfeil wirken und aufgesetzt, aber Eidinger spielt es so, dass es vor allem eines ist: unendlich traurig."

Aber auch die weiteren Rollen findet Stephan Hilpold im Standard hervorragend besetzt, mit Verena Altenberger als Buhlschaft, Edith Clever und Angela Winkler als Jedermanns Mutter. Selten war ein "Jedermann" so "verbissen auf Tristesse getrimmt", klagt dagegen Bernd Noack in der NZZ: "Keine Fallhöhen mehr in dieser Deutung. Lars Eidinger als neuer Jedermann kommt schon als Verlorener auf die Bühne. In roten Unterhosen mag ihn das Leben nicht mehr freuen, Protz und Prunk sind seine Sache nicht, den Reichtum schleppt er widerwillig in einem Blecheimer mit herum, als käme er vom Kohlenholen." Kritiken gibt es auch in Nachtkritik und Tagesspiegel. In der Nachtkritik empört sich Reinhard Kriechbaum zudem über die Sorglosigkeit des Publikums, das im vollbesetzten Festpielhaus keine Masken trug.

Besprochen werden Lukas Bärfuss' Historienstück "Luther" bei den Nibelungenfestspielen in Worm (SZ, FR, Welt, FAZ), eine "Demokratische Sinfonie" von Kevin Barz und Paul Brody im Oldenburgischen Staatstheater (Nachtkritik) sowie Aufführungen von Monteverdi und Wagner beim Musikfest in Aix-en-Provence (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Auch in ihrem neuen Roman "Levys Testament" arbeitet Ulrike Edschmid ihre Zeit im linksradikalen Westberlin auf. Anders als viele in ihrem Umfeld ist sie den Weg in die Militanz nicht gegangen, sagt sie im FAS-Gespräch. "Ich habe innerhalb eines halben Jahres drei Freunde durch einen gewaltsamen Tod verloren. Das sind Prägungen, die das, was man miteinander erlebt hat, sehr kostbar erscheinen lassen. An solchen Erlebnissen stellen sich auch die Fragen nach dem eigenen Leben auf eine ganz andere Weise. Wenn man mich fragt, wann ich am stärksten Zeitgenossin gewesen bin, dann waren es die siebziger und achtziger Jahre." Sie blickt aber auch "mit Entsetzen und Fremdheit" auf diese Zeit zurück: "Was für ein Wahnsinn das war. Andererseits wäre ich nie die geworden, die ich heute bin. Ich bin froh, dass ich das alles überstanden habe."

Weitere Artikel: "Es gibt eine postmigrantische jüdische Identität", sagt die beim Bachmannwettbewerb mit dem Deutschlandfunkpreis ausgezeichnete Newcomerin Dana Vowinckel im Tagesspiegel-Gespräch. Marielle Kreienborg spricht für die taz mit Claudia Durastanti über ihren Roman "Die Fremde", der von ihrer gehörlosen Mutter handelt. Tobias Rüther informiert sich für die FAS in den Science-Fiction-Geschichten von Stanisław Lem, ob uns eine neue Epoche der Raumfahrt bevor steht und was davon zu halten wäre. Walter Grünzweig plaudert im Standard mit dem Schriftsteller Veit Heinichen. Autor Mario Schlembach schreibt im Standard Tagebuch aus der Weststeiermark, wo ihn eine Kulturinitiative hingebracht hat.

Besprochen werden unter anderem die deutsche Erstübersetzung von Ann Petrys "Country Place" von 1947 (taz), Ralf Königs "Lucky Luke"-Hommage "Zarter Schmelz" (taz), Yvonne Zitzmanns "Tage des Vergessens" (Tagesspiegel), Leanne Shaptons "Gästebuch" (Standard), Frédéric Beigbeders "Der Mann, der vor Lachen weinte" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Gabriele von Arnims Lesung ihres Buches "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Maier über August Stöbers "Die Tonleiter":

"Mit dem holden Lieb selbander
Sang ich jüngst die Töneleiter,
Und wir stiegen miteinander
..."
Archiv: Literatur

Architektur

In der NZZ streift Susanna Petrin mit der Fotografin Xenia Nikolskaya durch die Prachtbauten der Belle Epoque, die der Kolonialismus in Kairo und anderen ägyptischen Städten hinterlassen hat, ohne dass sich die Ägypter groß für sie interessierten: "Die Gebäude werden aus verschiedenen Gründen nicht genutzt: weil die Erben sich streiten, weil sie kein Geld für die Renovation haben oder weil die Häuser verstaatlicht, umgenutzt und später verlassen worden sind. Meistens bewache jemand das Haus. Manchmal bediene sich diese Person daraus, manchmal nicht. 'Aber es gibt hier diese Zeitkapseln, die noch genau so sind, wie sie vor Jahrzehnten zurückgelassen worden sind', sagt Nikolskaya. 'Das ist einzigartig.' Oder wie eine Freundin einmal zu ihr gesagt habe: 'Die Häuser symbolisieren den Limbus, den unsicheren Zwischenstand, in dem das Land sich gerade befindet. Es geht nicht vorwärts, es geht nicht zurück. Man wartet.'"
Archiv: Architektur

Kunst

Freddy Langer gratuliert in der FAZ dem Fotografen und "poetischen Surrealisten" Andreas Müller-Pohle zum Siebzigsten. Besprochen werden eine "glanzvolle" Dürer-Ausstellung im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum (Tsp) und die rekonstruierten Ausstellungen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im Berliner Gropiusbau (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Früher war vielleicht nicht alles, aber vieles besser - zumindest in der Popkultur, seufzt Frank Jöricke im Freitag. David Bowie und noch viel mehr Grace Jones sprengten "die Grenzen der Identität. Es ging nicht länger darum, wer man 'wirklich' war, sondern darum, wer man sein wollte. Aus der Freiheit des Ich war die Freiheit vom Ich geworden." Mittlerweile ist "Schluss mit Selbst-Erfindung und Anarchie. Heutigen Musikern ist es wichtig, sich als Teil einer Gruppe zu definieren" und die Fans folgen ihnen darin. "Deshalb ist Entgrenzung den Identitätskämpfer*innen ein Gräuel. Sie sehnen sich nach einer Welt, in der es so geordnet zugeht wie in einer Amtsstube. Ihr Ideal ist ein Staat, in dem jeder Mensch sein Aktenzeichen erhält: cis- oder transgeschlechtlich, farbig oder weiß, muslimisch oder christlich, mit oder ohne Behinderung."

Weitere Artikel: Lars Fleischmann porträtiert in der taz den Düsseldorfer DJ Vladimir Ivkovic und dessen Label OFFEN Music. Marcus Stäbler berichtet in der NZZ vom Kammermusikfestival Lockenhaus. Wehmütig blickt in der SZ Reinhard J. Brembeck darauf, dass die Orgel im Münchner Gasteig aus Sanierungsgründen für die nächsten Jahre ins Archiv eingelagert wird. Joachim Hentschel schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Rapper Biz Markie.

Besprochen werden die Autobiografie von Richard Thompson von The Band (NZZ), ein vom Geiger Emmanuel Tjeknavorian dirigiertes Album (Tagesspiegel) und ein Konzert des Schlagzeugers Simone Rubino beim Rheingau Musik Festival (FR).
Archiv: Musik