Efeu - Die Kulturrundschau

Wer braucht schon Schärfe

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23.02.2023. Ein Sommernachtstraum! Die Filmkritiker feiern auf der Berlinale Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Roter Himmel". Der Tagesspiegel lobt die cézannehafte Unschärfe von Hong Sang-Soos Film "In Water". Die FR betrachtet im Städel Museum ein sehr stilles Italien. Monopol fröstelt bei der Vorstellung, in der saudischen Stadt "The Line" zu leben. In der nachtkritik packen Apiyo Amolo und Thomas Schmidt bedauernd ihre Toolbox für das Zürcher Schauspielhaus ein. Die neue musikzeitung warnt: Wenn der ORF sich aus der Finanzierung des RSO Wiens zurückzieht, verzichtet er auf sein musikalisches Lebenselexier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2023 finden Sie hier

Film

Geschmeidig wie nie: Christian Petzolds "Roter Himmel"

Christian Petzolds neuer Film "Roter Himmel" lief im Berlinale-Wettbewerb und jetzt, da man sich selbst ein Urteil bilden kann, findet es FR-Kritiker Daniel Kothenschulte geradezu lachhaft, mit was für Tomaten auf den Augen die Deutsche Filmakademie offenbar an ihr Werk geht: Nicht den Hauch einer Chance gab man diesem Film auf eine Nominierung für den Deutschen Filmpreis. "Vierzig Prozent der Einreichungen kamen dagegen weiter. Es ist eine Schande, ein Skandal, aber vielleicht auch ein Komödienstoff." Der Film um einen erfolglosen Schriftsteller, der an einem sommerlichen Rückzugsort blind ist für alle Köstlichkeiten des Savoir Vivre, die seine Mitreisenden umso genussvoller auskosten, ist "wie jeder Sommernachtstraum, der seinen Namen verdient, Farce und Drama zugleich - nicht erst, als ein sich nähernder Waldbrand und ein Tischgespräch über Heine und Kleist die dichterische Umarmung der Katastrophen selbst zum Thema macht."

Auch Claudius Seidl von der FAZ flaniert sehr gerne durch diesen Sommerfilm: "Petzold hat die strengen, kargen, stilisierten Inszenierungen hinter sich gelassen. Er filmt heute weicher als früher, geschmeidiger, gönnt sich Schnitte und Gegenschüsse, die er sich früher versagt hätte. So verliert sein Stil an Eindeutigkeit, gewinnt aber eine Offenheit, die den Eigenarten seiner Menschen mehr Raum lässt. Und den Widersprüchen auch. ... Die Schönheit von Petzolds Inszenierung offenbart sich auch darin, wie hier der schwere, träge Thomas Schubert und die schmale, nervöse Paula Beer den Schlafwandel und die Weckrufe als Spiel der Körper spielen. 'Roter Himmel' ist ein Melodram, in dem erst Naturgewalten die wahren Gefühle entfesseln: Der Waldbrand ist am Schluss ganz nah." Sehr ähnlich sieht das auch Patrick Holzapfel im Perlentaucher: "Petzold setzt ein Publikum voraus, das nicht überzeugt werden muss. Sein Filmschaffen zielt mehr und mehr auf eine Regelmäßigkeit, die sich befreit von den großen Auteurgesten und hinwendet zur reinen, ausgestellt naiven Freude am Kino." Der Tagesspiegel unterhält sich mit der Hauptdarstellerin Paula Beer und dem Regisseur. Der erklärt seine Motivation für den Film so, dass es in Deutschland einfach keine sinnlichen Sommerfilme gebe wie in Frankreich.

In der Unschärfe über Sehgewohnheiten nachdenken: "In Water" von Hong Sang-Soo

Der Koreaner Hong Sang-Soo ist als Komplett-Filmstudio auf zwei Beinen mittlerweile so unabhängig von der Industrie und so schnell in seiner Arbeit, dass er jedes Jahr problemlos alle großen Festivals jeweils mit einem eigenen Filmen versorgen kann, schreibt Till Kadritzke im Tagesspiegel. Sein für die nächsten Monate aktueller Film "In Water" handelt mal wieder von den Problemen, einen Film zu drehen - ist aber diesmal bewusst komplett unscharf gehalten. Das ist "kein Gimmick", sondern "passt zur Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, die Cézanne-Fan Hong immer schon interessiert. Wie Angela Schanelecs Filme lässt sich auch Hongs Werk als Einladung verstehen, über Sehgewohnheiten im Kino nachzudenken. Und wer braucht schon Schärfe für drei Personen, die schweigend aufs Meer blicken, für eine Schauspielerin, die ihre Taekwondo-Künste vorführt, für einen Spaziergang, auf dem über die Existenz von Geistern sinniert wird?"

Außerdem vom Festival: Ein Strang des Berlinale-Wettbewerbs handelt von "Paaren, die das Paarsein nicht leben können", beobachtet Katja Nicodemus in der Zeit. Katrin Doerksen resümiert im CulturMag die letzten Festivaltage. Das Jugendfilmprogramm des Festivals lässt tazlerin Sophia Zessnik auf eine bessere Zukunft hoffen. Susanne Kippenberger porträtiert für den Tagesspiegel Helen Mirren, deren neuer Film "Golda" auf dem Festival läuft. In der SZ verneigt sich Philipp Bovermann vor Steven Spielberg, den das Festival mit einem Ehrenbären würdigt.

Aus dem Festivalprogramm besprochen werden zwei neue Filme des Iraners Mehran Tamadon über die Traumata der Regime-Opfer Irans (Tsp), Ulises de la Ordens "The Trial", der die 530 Stunden Videomaterial vom Prozess gegen Argentiniens Militärjunta zu einem dreistündigen Dokument montiert (Perlentaucher), Estibaliz Urresola Solagurens "20.000 Species of Bees" (Tsp), Todd Fields' "Tár" mit Cate Blanchett (NZZ), Sreemoyee Singhs "And, Towards Happy Alleys" (Perlentaucher), Lois Patiños "Samsara" (SZ), Volker Koepps Uwe-Johnson-Dokumentarfilm "Gehen und Bleiben" (taz), D. Smiths "Kokomo City" (taz), Vuk Lungulov-Klotz' "Mutt" (Tsp) und Roman Liubyis Dokumentarfilm "Iron Butterflies" (Tsp).

Weitere Texte vom Festival im Laufe des Tages in unserem Berlinale-Blog. Außerdem liefert Artechock kontinuierlich Kurzkritiken und längere Texte vom Festival. Cargo schickt SMS vom Festival, daneben schreibt Ekkehard Knörer von Cargo hier etwas ausführlichere Notizen. Und für den schnellen Pegelstand beim Festival unverzichtbar: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de.

Abseits der Berlinale: Für den Freitag spricht Laura Ewert mit Sonja Reiss, die Joachim Meyerhoffs Roman "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war" verfilmt hat. Den Presse-Lesern legt Lukas Foerster eine dem "Gossenkino-Magier" Jess Franco gewidmete Hommage im Wiener Metro-Kino ans Herz. Besprochen werden Ari Folmans Animationsfilm "Wo ist Anne Frank" (taz), Alli Haapasalos Coming of Age-Komödie "Girls, Girls, Girls" (Perlentaucher), Will Merricks und Nick Johnsons Thriller Missing" (SZ) und die ZDF-Serie "Der Schwarm" (ZeitOnline). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Kunst

Gioacchino Altobelli (1814-1878), Rom: Fischer am Tiber nahe der Engelsburg, um 1860. Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main


Lisa Berins geht für die FR mit wachen Augen durch eine Ausstellung mit frühen Italienfotografien im Frankfurter Städel Museum. Zwei Dinge fallen ihr besonders auf: Italien ist in diesen Bildern schwarzweiß, menschenleer und überhaupt "ungewohnt still", nicht mal das Meer scheint sich zu bewegen, was an den langen Belichtungszeiten damals lag. Und dann ging es vor allem um Kunst, die mittels Fotos einer breiten Öffentlichkeit in ganz Europa zugänglich gemacht werden sollte. Unverfälscht war an den Bildern aber auch damals schon nichts: "Dass es bei den meisten damaligen Italien-Fotografien nicht um das reine Abbilden von Realität ging, sondern um das Reproduzieren idealisierter Sehnsuchtsorte (die wir heute noch so gerne sehen) - darauf stößt die Ausstellung ganz sachte: Es ist unauffällig, aber viel inszeniert in diesen Fotografien, die Natur - romantisch in Szene gesetzt. Statisten, die sehr lange ruhig halten mussten, wurden für das perfekte Bild arrangiert - etwa als Gondoliere, deren Boot für die Zeit der Aufnahme an einem Pfahl festgebunden werden musste. Auch Retuschen waren nicht unüblich; die Reproduktion von Michelangelos Statue des Mose etwa wurde komplett überarbeitet, der Hintergrund geschwärzt und sein Bart stellenweise von Hand mit Farbe ausgebessert."
Archiv: Kunst

Architektur

In monopol blickt Ji-Hun Kim mit einem Frösteln auf die neuen Bauprojekte in Saudi-Arabien, darunter auch die Stadt "The Line", die sich, gespeist von regenerative Energien, wie eine riesige Schlage auf 170 Kilometern Länge und nur 200 Metern Breite vom Roten Meer bis zur Stadt Tabuk ziehen soll. "Künstliche Intelligenzen überwachen die Stadt. Permanent erhobene Daten und Vorhersagemodelle sollen den Alltag optimieren. Bewohnerinnen und Bewohner werden dabei für ihre persönliche Datenproduktion bezahlt." Ji-Hun Kim würde dort dennoch nicht gerne leben. Obwohl "The Line" ein Szenario präsentiert, "wie Metropolen der Zukunft eventuell auszusehen haben müssen, wenn durch Klimaerwärmung und Dürren auch Europa immer mehr zur Wüste wird. Wenn Städte wie im Mittelalter wieder zu geschlossenen Festungen werden. Wenn es um Isolation nach außen und virtuelle Simulation im Inneren geht, weil die Welt da draußen einfach nicht mehr lebenswert ist. Nehmen wir dann freiwillig in Kauf, in einem riesig langen Glas-Bandwurm ohne Ausblick und Seen zu leben, in dem jeder Schritt und jede Handlung durch KI ausgewertet und analysiert wird? Es ist dieser unterschwellige Pragmatismus, der diese Bauvorhaben bei allem Größenwahn so erschreckend glaubwürdig erscheinen lässt."
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Bühne

Das abrupte Ende der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin van Blomberg am Schauspielhaus Zürich kritisieren Apiyo Amolo und Thomas Schmidt in einem Gastbeitrag bei nachtkritik und fühlen sich an die Berliner Kulturpolitik um 1900 erinnert, "einer Zeit, in der Otto Brahm und später Max Reinhardt den Berliner Zuschauer*innen mit den Naturalisten und Realisten ein völlig neues Programm vorgestellt haben, das anfangs in Arbeiter-Theatervereinen gezeigt werden musste, weil es die bisherige Sicht auf das Programm und das Bild des Theaters völlig zu sprengen schien und die Zensur des preußischen Standes nicht überstand. In zwanzig Jahren wird der Schritt, die Intendanz am Schauspielhaus Zürich nicht verlängert zu haben, auch in bürgerlichen Kreisen sicher ganz anders bewertet werden als heute", sind die zwei sicher. Etwas irritierend an ihrem Text ist allerdings, dass sie auf das Theater von Stemann und Blomberg mit keinem Wort eingehen, es geht eigentlich nur um Management, für das ein "Kompass" erstellt wurde: "Der Kompass besteht aus zwei Teilen, er verweist im ersten Teil auf fünf große Wertegruppen und im zweiten Teil auf eine Toolbox, in der sich die Instrumente befinden, die nötig sind, um die Werte zu leben und das innere Klima und das soziale Gleichgewicht im Theater so aufrechtzuerhalten, dass keine Schieflagen und Asymmetrien entstehen." Uff.

Weiteres: Der Bayreuther Freundeskreis denkt darüber nach, die Bayreuther Festspiele mit weniger Geld zu unterstützen, von einer Million ist die Rede, berichtet Egbert Tholl in der SZ. Ob das wirklich passieren wird, steht aber in den Sternen, da der Verein dann deutlich an Einfluss verlieren würde und auch mal progressiveren Konzepten nachgeben müsste. Besprochen werden außerdem die Wiederaufnahme von Andreas Schagers "Tristan und Isolde"-Inszenierung an der Wiener Staatsoper (Standard) und Jonathan Meeses "Monosau" an der Volksbühne Berlin (taz).
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Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden unter anderem Terry Eagletons "'Critical Revolutionaries'. Five Critics Who Changed the Way We Read" (online nachgereicht von der FAZ), Kenneth Fearings "Die große Uhr" (FR), Robert Walsers "Aufsätze" (SZ), Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" (Welt), W. E. B. Du Bois' "'Along the Color Line'. Reise durch Deutschland 1936" (NZZ) und Julia Schochs "Das Liebespaar des Jahrhunderts" (FAZ).
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Musik

Die Finanzierung des RSO Wiens ist ungewiss: Der ORF will sich nach Sparauflagen seitens der Politik aus der Finanzierung zurückziehen. Der frühere Orchesterintendant Christoph Becher hält dies in der NMZ für einen handfesten Skandal: "Der ORF ist die einzige öffentlich-rechtliche Medienanstalt in einem Land, das seit über zweieinhalb Jahrhunderten weltweit für seine Musikkultur gerühmt und besucht wird. Dass er nun den einzigen verbliebenen Klangkörper nicht mehr finanzieren will, ist eine verheerende Botschaft. Es geht hier nicht darum, darüber nachzudenken, ob man 16 ARD-Klangkörper reduzieren könnte, wie unlängst von WDR-Intendant Tom Buhrow angedacht. (Bezeichnend, dass niemand diesen Vorschlag aufzugreifen scheint.) Es geht darum, dass das erste Medienhaus eines europäischen Musiklandes auf ein musikalisches Lebenselixier verzichtet, trägt das Orchester doch wesentlich zum Programm des vielgerühmten Kultursenders Ö1 bei. Es geht um die geschichtsvergessene Auffassung, dass ein Medienhaus nicht für die Produktion von Kultur zuständig sei."

Verschnupft nimmt Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen zur Kenntnis, dass es bei Daniel Barenboim gesundheitlich offenbar wieder bergauf geht: "Das ist also die neue Freiheit, die Daniel Barenboim hat, seit er nicht mehr Generalmusikdirektor an der Berliner Staatsoper ist: Der Intendant der Scala ruft an, der Maestro packt seine Sachen, jettet nach Mailand und dirigiert dort - als Einspringer für einen erkrankten Kollegen - an drei Abenden Mozarts späte Sinfonien. ... Ja, der 80-Jährige ist sogar so entspannt, dass er dem Corriere della sera ein Interview gegeben hat - eine Gunst, die er in Berlin bisher den Journalisten verwehrt."

Außerdem: In der NMZ sorgt sich Stefan Beyer um die Neue Musik in Leipzig: Diese werde nach neuen kulturpolitischen Beschlüssen immer weiter an den Rand gedrängt. Besprochen werden Kelelas Album "Raven" (taz, mehr dazu bereits hier), "Time out of Mind" aus Bob Dylans Bootleg-Serie (Standard, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt von Lady Blackbird (NZZ), ein Konzert des Rias Kammerchors (Tsp), ein Auftritt von Lewis Capaldi (FR), ein Liederabend mit Andreas Bauer Kanabas (FR) und das Debütalbum von Complete Mountain Almanac (FR)
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